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Kindheit an historischer Stätte
ОглавлениеAls der 92-jährige Norbert Wackernell im Juni 2019 auf der Zenoburg über Meran sein Buch Der Zorn der Piltrude und der Bischof vorstellte, schweifte er zurück zu den Stätten seiner Kindheit: die Passeirergasse in der Meraner Altstadt, in der er seine Kindheit verbrachte; der Küchelberg zwischen Pulverturm und eben der Zenoburg, wo sein Vater jenes Haus bauen wird, das Wackernell bis zuletzt bewohnte. Auch wenn er als junger Ingenieur in den 1950er-Jahren seine Zelte in Bozen aufschlagen wird: Die Gegend, in der er Kindheit und Jugend verbrachte, lässt ihn nicht mehr los. Bereits als Universitätsstudent verfasst er 1953 die Studie „Die Entstehung der Stadt Meran“. In den folgenden Jahrzehnten war er als Ingenieur immer wieder in Projekte wie der Meraner Trasse der Brennerautobahn, der Passerdamm-Variante oder der Nordwestumfahrung involviert. Projekte also, die für die Stadt von fundamentaler Bedeutung waren. Ab den 1990er-Jahren schließlich vertiefte sich Wackernell zunehmend in historische Studien zur Entwicklung des Meraner Raumes seit der Römerzeit. Sie zogen den rüstigen Senior bis zuletzt in ihren Bann. Diese Hingabe an die Stätten seiner Herkunft überrascht nicht: Die Landschaft des Küchelberges und der nahen Passer mit der wilden Gilf-Klamm ist bis heute beeindruckend. Zudem waren die Zeitumstände, unter denen Wackernell in den 1930er- und 1940er-Jahren aufwuchs, für den Charakter eines jungen Menschen prägend. Und dies, obwohl seine Kindheit und Jugend grundlegend anders verliefen als für die Mehrheit seiner Generation in Südtirol. In Vielem kontrastieren sie die Südtiroler Zeitumstände geradezu diametral. Im Südtirol der Zwischenkriegszeit herrschten politisch wie wirtschaftlich äußerst schwierige Umstände. Mit dem Übergang an Italien wurde dieser landwirtschaftlich geprägte, bereits zu k. u. k. Zeiten als arm und rückständig geltende Teil Tirols von seinen traditionellen Absatzmärkten jenseits des Brenners abgeschnitten und sah sich gerade im Obstund Weinbau einer direkten Konkurrenz mit inländischen Produzenten ausgesetzt. Zu dieser Grundproblematik kam in den 1930er-Jahren die Weltwirtschaftskrise und mit ihr äußerst harte, von Deflation geprägte Jahre. Berücksichtigt man überdies, dass in einer durchschnittlichen Südtiroler Familie aufgrund des Kinderreichtums die spärlichen Mittel auf viele Köpfe aufzuteilen waren, lässt sich ermessen, unter welch harten Umständen die große Mehrheit der in den 1910er- und 1920er-Jahren Geborenen aufwachsen musste. Norbert Wackernell hingegen wurde in vergleichsweise behütete Verhältnisse hineingeboren. Sein Vater war Ingenieur, zählte also zur Bildungselite des Landes. Die Familie der Mutter betrieb in der Passeirergasse nahe der Santer Klause einen Gemischtwarenladen, der nicht zuletzt deshalb gut lief, weil er direkt an der Durchzugsroute der Passeirer Fuhrwerker lag, die sich vor der Heimfahrt mit Proviant eindeckten. Zudem war der kleine Norbert ein Einzelkind, auf das sich nicht nur die gesamte Aufmerksamkeit seiner Eltern, sondern auch aller weiteren Verwandten konzentrierte. Wackernells Vater Wilhelm hatte gleich nach dem Ersten Weltkrieg am Turiner Politecnico Elektrotechnik studiert und sich dann beruflich in Südtirol etabliert, wo er über lange Jahre die E-Zentrale in Forst bei Algund betreute. Zu seinen wichtigsten Projekten zählte die Realisierung der Hochspannungsleitung von der Forster Zentrale über den Jaufenpass nach Sterzing. Sein familiärer Hintergrund ist schon insofern interessant, als er eine Erklärung für eine dezidiert liberale Haltung in allen Lebenslagen liefert. Die Vorfahren der Wackernells lebten als Teil einer evangelischen Enklave in Zell am Ziller und flüchteten infolge der Gegenreformation in das Unterengadin. Sie nahmen dabei die Bäume und Fruchtäste jener Kornel-Kirsche mit, die sie bereits in Zell angebaut hatten. Die angestammte Engadiner Bevölkerung bezeichnete das neue Siedlungsgebiet der Salzburger als „Val Cornel“. Daraus entwickelte sich der Familienname Wackernell. Viele der zahlreichen Nachkommen der Großfamilie wanderten im Lauf der Zeit aus dem Engadin ab. Ein Zweig ließ sich im Oberinntal nieder, wo man aus der Kornel-Kirsche weiterhin Marmelade und Schnaps herstellte. Über das Inntal gelangten die mittlerweile zum Katholizismus konvertierten Vorfahren nach Meran. Norbert Wackernells Großvater mütterlicherseits hatte Maria Pasoldi aus Branzoll geheiratet. Die Pasoldis waren bereits vor 1918 zweisprachig, da es in Branzoll schon unter Österreich eine zweisprachige Schule gab. Wackernell erinnerte sich, seine Großmutter habe im Geschäft perfekt zweisprachig mit den Kunden kommunizieren können und auch der Großvater habe von ihr leidlich gut Italienisch gelernt. Der zeitlebens offene und unverkrampfte Umgang Wackernells mit der italienischsprachigen Bevölkerung erklärt sich wohl auch durch diesen Aspekt der Familiengeschichte. Aber nicht nur in dieser Hinsicht stand Wackernell deutlich in einer urban-liberalen Tradition. Angesichts des Umstandes, dass die Kirche in Südtirol unter dem Faschismus nochmals einen Bedeutungszuwachs erfuhr, nimmt sich der Lebenswandel seiner Familie ausgesprochen liberal aus. Bereits sein Großvater, so stellte Wackernell süffisant fest, habe sich sonntags ausschließlich zur Kirche begeben, um dort seine Freundinnen zu einem Spaziergang abzuholen. Dem Gottesdienst blieb er stets fern. Ausgesprochen laizistisch waren auch die Eltern. Sie praktizierten nicht. Der Vater habe zu ihm einmal lakonisch gemeint, er meide die Kirche, denn auf dem Friedhof liege er schließlich noch lange genug. Außerdem betonte Wackernell, er sei unter seinen Schulfreunden der einzige Nicht-Ministrant gewesen. Die Ministrantenkleidung überzustreifen hätte er als beengend empfunden. Das Freigeistige war schon damals ein Wesenszug des angehenden Ingenieurs, der sich auch im Erwachsenenleben immer wieder zeigen sollte. Fehlte es dem kleinen Norbert nie an elterlicher Zuneigung – die vom Vater geschossenen Bilder bringen das klar zum Ausdruck –, so fehlte es ihm auch materiell kaum an etwas. Bereits im Vorschulalter erfreute er sich an anspruchsvollem Spielzeug und besaß eine Reihe von Kinderbüchern. Bewegung kam in diese beschauliche Kindheit, als Norbert 1933 eingeschult wurde. Die in der Zwischenzeit vollkommen italianisierte Schule barg für viele Zeitgenossen traumatische Erfahrungen. Und auch für Wackernell verlief die Anfangsphase seiner Schullaufbahn mit kleineren Reibereien. So erschien er einmal mit Lederhosen im Unterricht. Sofort schickte ihn die Lehrerin mit dem Hinweis „Coi pantaloni sporchi non vieni più a scuola!“ nach Hause. Solche Episoden stellten aber die Ausnahme dar und auch die sprachlichen Schwierigkeiten überwand der kleine Norbert rasch. Zum einen standen die Eltern der Zweisprachigkeit konstruktiv gegenüber, zum anderen profitierte er vom Umstand gemischter Klassen. Zu seinen Schulfreunden zählte er von Beginn an etliche Italiener, die das Lernen des Italienischen außerordentlich beschleunigt hätten. Bereits ab der zweiten Klasse hatte er keinerlei Probleme mehr, dem Unterricht zu folgen, und es gelang ihm, sich zunehmend aktiv einzubringen. Wackernell lobte rückblickend seine Grundschullehrer ausdrücklich: Ab der dritten Klasse seien mit Dalbosco und Giuliani außerordentlich kompetente und motivierte Lehrpersonen am Pult gestanden, die sich auch nie faschistisch gebärdet hätten. Nach den fünf Jahren Volksschule entschied sich Wackernell für das Humanistische Gymnasium, das er bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1943 besuchte. Diese Schule durfte er als deutschsprachiger Südtiroler jedoch nicht mehr weiter frequentieren. Damit begann für den 16-Jährigen eine der turbulentesten Phasen seines Lebens. Bereits in den 1930er-Jahren bekam seine Familie die zunehmende Aggressivität des faschistischen Regimes zu spüren. Der beruflich gut positionierte, politisch uninteressierte Vater wurde aufgrund seiner Weigerung, in die Partei einzutreten, 1930 kurzfristig entlassen und blieb zwei Jahre ohne Arbeit. Not litt die Familie aufgrund des gut gehenden Ladens des Großvaters dennoch nicht, doch drückte die Situation unweigerlich auf die Stimmung in der Familie. Wackernell erinnerte sich lebhaft daran, wie der Vater nach seinem Parteieintritt zu Hause auftauchte und sich zur Belustigung von Mutter und Sohn im vollen faschistischen Ornat vom Fez bis zu den Stiefeln präsentierte. Wackernells Großmutter mütterlicherseits war nach dem Ersten Weltkrieg an der Spanischen Grippe verstorben. Einige Jahre später verkaufte der betagte Großvater das Geschäft sowie ein angrenzendes Haus, um auf dem am Zenoberg erworbenen Grundstück die heutige Villa Norbert zu bauen, die für Wackernell bis zum Umzug nach Bozen in den 1950er-Jahren das Zuhause sein sollte und die er später als Zweitwohnsitz nützte.