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Die Bostontische wurden ausgezogen, die einzelnen Partien fanden sich zusammen, und die Gäste des Grafen verteilten sich in die beiden Salons, das Sofazimmer und die Bibliothek.

Der Graf, dem es recht schwerfiel, sich das gewohnte Schläfchen nach Tisch versagen zu müssen, breitete auf den Spieltischen die Karten fächerartig aus und lachte über alles mögliche. Das junge Volk versammelte sich auf Anregung der Gräfin um das Klavier und die Harfe. Zuerst trug auf allgemeines Bitten Julja auf der Harfe ein Musikstück mit Variationen vor und richtete dann ihrerseits im Verein mit den andern jungen Mädchen an Natascha und Nikolai, die als sehr musikalisch bekannt waren, die Bitte, etwas zu singen. Natascha, an die sie sich mit dieser Aufforderung wie an eine Erwachsene wandten, war offenbar darauf sehr stolz, zugleich aber doch auch ein wenig ängstlich.

»Was wollen wir singen?« fragte sie.

»Den ›Quell‹«, antwortete Nikolai.

»Nun, dann wollen wir gleich anfangen. Boris, kommen Sie hierher, an diesen Platz«, sagte Natascha. »Aber wo ist denn Sonja?« Sie blickte sich nach allen Seiten um, und als sie sah, daß ihre Freundin nicht im Zimmer war, lief sie weg, um sie zu suchen.

Natascha lief zuerst in Sonjas Zimmer und, als sie ihre Freundin dort nicht fand, in das Kinderzimmer; aber auch dort war Sonja nicht. Da sagte sie sich, Sonja würde wohl im Korridor sein, auf dem Schlafkasten. Dieser Schlafkasten auf dem Korridor war der Ort, wo die jüngere weibliche Generation des Rostowschen Hauses immer ihr Leid hintrug. Und wirklich lag Sonja in ihrem leichten rosa Kleid, das dabei arg verdrückt wurde, mit dem Gesicht nach unten auf dem schmutzigen gestreiften Federbett der Kinderfrau auf dem Schlafkasten; die Hände vor das Gesicht haltend, weinte sie unter lautem Schluchzen, und ihre kleinen entblößten Schultern zuckten krampfhaft. Nataschas Gesicht, das heute im ganzen Verlauf ihres Namenstages so lebhaft und heiter gewesen war, veränderte sich plötzlich: ihre Augen wurden starr; dann ging ein Zucken über ihren breiten Hals, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.

»Sonja! Was hast du denn ...? Was fehlt dir? Hu-hu-hu!« Und Natascha machte ihren großen Mund weit auf, wodurch sie ganz häßlich wurde, und heulte los wie ein kleines Kind, ohne selbst einen Grund dazu zu wissen, lediglich weil Sonja weinte. Sonja wollte den Kopf aufheben und ihr antworten; aber sie war dazu nicht imstande und versteckte ihr Gesicht nur noch mehr. Natascha kauerte sich weinend auf dem blauüberzogenen Bett nieder und umarmte ihre Freundin. Sonja nahm nun alle Kraft zusammen, richtete sich ein wenig auf und begann ihre Tränen abzuwischen und zu erzählen.

»Nikolai reist in acht Tagen ab, seine ... Order ... ist gekommen ... er hat es mir selbst gesagt. Trotzdem würde ich nicht weinen; aber du kannst dir gar nicht vorstellen« (sie zeigte der Freundin ein Blatt Papier, das sie in der Hand hielt: es waren die Verse, die Nikolai ihr aufgeschrieben hatte) »... und niemand kann sich vorstellen ... was er für eine herrliche Seele hat ...«

Und nun fing sie von neuem an darüber zu weinen, daß Nikolai eine so herrliche Seele hatte.

»Bei dir ist alles in bester Ordnung ... ich bin nicht neidisch ... ich liebe dich und deinen Boris auch«, sagte sie, nachdem sie einigermaßen wieder zu Kräften gekommen war, »er ist ein sehr liebenswürdiger Mensch ... für euch gibt es keine Hindernisse. Aber Nikolai ist mein Vetter ... da würde es nötig sein ... daß der Metropolit selbst ... und auch dann geht es nicht. Und dann, wenn es unserer lieben Mama« (Sonja betrachtete die Gräfin als ihre Mutter und nannte sie auch so) »... sie wird sagen, daß ich Nikolais Karriere verderbe, und daß ich kein Herz habe, und daß ich undankbar bin; aber wahrhaftig ... bei Gott ...« (sie bekreuzte sich), »ich habe Mama so lieb, und euch alle; bloß Wjera ist immer so zu mir ... Warum eigentlich? Was habe ich ihr getan? Ich bin euch so dankbar, daß ich mit Freuden alles für euch hingeben möchte; aber ich habe ja nichts ...«

Sonja war nicht mehr imstande weiterzusprechen und verbarg wieder ihren Kopf in den Händen und in dem Bett. Natascha begann zwar schon etwas ruhiger zu werden; aber an ihrem Gesicht war deutlich zu sehen, daß sie den Kummer ihrer Freundin in seiner ganzen Größe zu würdigen wußte.

»Sonja«, sagte sie auf einmal, wie wenn sie nun die wahre Ursache der Traurigkeit ihrer Kusine erraten hätte, »gewiß hat Wjera nach dem Diner mit dir gesprochen, ja?«

»Ja, diese Verse hat mir Nikolai selbst aufgeschrieben, und ich hatte mir noch andere abgeschrieben; und Wjera hat sie in meiner Stube auf dem Tisch gefunden und hat gesagt, sie würde es Mama sagen; und dann hat sie noch gesagt, ich wäre undankbar, und Mama würde ihm niemals erlauben, mich zu heiraten, sondern er werde Julja heiraten. Du siehst ja auch, daß er den ganzen Tag über mit ihr zusammen ist ... Natascha! Womit habe ich das verdient ...?«

Sie begann wieder zu weinen, noch bitterlicher als vorher. Natascha richtete sie in die Höhe, umarmte sie und suchte, unter Tränen lächelnd, sie zu beruhigen.

»Sonja, glaube ihr kein Wort, mein Herzchen, glaube ihr kein Wort. Erinnerst du dich noch, wie wir beide und Nikolai im Sofazimmer über die Sache gesprochen haben? Erinnerst du dich wohl? Es war einmal nach dem Abendessen. Da haben wir ja doch alle drei festgesetzt, wie es werden soll. Wie es im einzelnen war, das weiß ich nicht mehr recht; aber du besinnst dich wohl noch, daß alles wunderschön war und alles ganz leicht ging. Sieh mal, ein Bruder von Onkel Schinschin ist ja doch auch mit seiner Kusine verheiratet, und Nikolai ist ja gar nicht einmal dein richtiger Vetter. Boris sagt auch, es würde gewiß gehen. Weißt du nämlich, ich habe ihm alles gesagt. Und der ist ein so kluger Mensch und ein so guter Mensch«, sagte Natascha. »Und nun weine nur nicht mehr, Sonja, du meine liebe, süße Sonja!« (Sie küßte sie lachend.) »Wjera ist ein Ekel; Gott verzeihe es ihr! Und es wird schon alles gut werden, und sie wird nichts zu Mama sagen. Nikolai wird es ihr selbst sagen, und an Julja hat er überhaupt nie gedacht.«

Sie küßte Sonja auf den Kopf. Sonja richtete sich in die Höhe, und das Kätzchen wurde wieder ganz lebendig, seine Äuglein glänzten, und es war, wie es schien, jeden Augenblick wieder bereit, mit dem Schwänzchen hin und her zu schlagen, auf die weichen Pfötchen zu springen und das Spiel mit dem Wollknäuel von neuem zu beginnen, wie das so in seiner Art lag.

»Meinst du? Wirklich? Glaubst du das wahrhaftig?« sagte sie und brachte schnell ihr Kleid und ihr Haar in Ordnung.

»Wirklich und wahrhaftig!« antwortete Natascha und schob ihrer Freundin eine kleine widerspenstige Haarsträhne unter den Zopf. Und beide brachen in ein helles Gelächter aus.

»Nun komm, wir wollen den ›Quell‹ singen.«

»Ja, komm.«

»Weißt du, dieser dicke Pierre, der mir gegenübersaß, ist so furchtbar komisch«, sagte Natascha auf einmal und blieb stehen. »Ach, ich bin so vergnügt!« Und sie rannte den Korridor entlang.

Sonja schüttelte sich die Federchen vom Kleid, schob sich das Blatt mit den Versen oben beim Hals mit den hervorstehenden Schlüsselbeinen in den Kleiderausschnitt und lief mit leichten, munteren Schritten, das Gesicht freudig gerötet, hinter Natascha her den Korridor entlang nach dem Sofazimmer. Auf die Bitte der Gäste sangen die jungen Leute ein Quartett »Der Quell«, welches allgemeinen Beifall fand; darauf sang Nikolai noch ein anderes Lied, das er neu eingeübt hatte:

»In tiefer Nacht, beim Schein der Sterne,

Bin ich mit Wonne mir bewußt:

Jetzt denket mein in weiter Ferne

Ein edles Herz in treuer Brust;

Jetzt stimmen holde Lippen leise

Ein Lied wohl an zum Harfenklang:

›Komm heim!‹ so tönt die süße Weise,

Mich rufend, ach, so sehnsuchtsbang.

Doch eh' des Glückes Stunde schlägt,

Hat mich der Tod ins Grab gelegt.«

Er hatte noch nicht die letzten Worte gesungen, als im Saal die Jugend sich schon zum Tanzen anschickte und die Musikanten mit Gepolter auf die Galerie gingen und sich räusperten.

Pierre saß im Salon, wo Schinschin, veranlaßt dadurch, daß Pierre erst vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen war, mit ihm ein für Pierre recht langweiliges Gespräch über Politik führte, an dem sich auch andere beteiligten. Sowie jedoch die Musik zu spielen begann, trat Natascha in den Salon, ging geradewegs auf Pierre zu und sagte lachend und errötend:

»Mama hat mir befohlen, Sie zum Tanz zu bitten.«

»Ich fürchte nur, daß ich Unordnung in die Figuren bringen werde«, erwiderte Pierre. »Aber wenn Sie meine Lehrerin sein wollen ...« Damit reichte er dem kleinen, zierlich gebauten Mädchen seinen dicken Arm, den er tief herunterhalten mußte.

Während sich die Paare aufstellten und die Musikanten ihre Instrumente stimmten, setzte sich Pierre mit seiner kleinen Dame hin. Natascha war selig: sie tanzte mit einem Erwachsenen, und noch dazu mit einem, der eben aus dem Ausland zurückgekommen war. Sie saß vor aller Augen da und unterhielt sich mit ihm wie eine erwachsene Dame. In der Hand hatte sie einen Fächer, den ihr eine der tanzenden jungen Damen zum Halten gegeben hatte. Sie nahm eine elegante Pose an, die durchaus den Regeln der feinsten Etikette entsprach (Gott mochte wissen, wo und wann sie das gelernt hatte), gestikulierte mit dem Fächer, lächelte über ihn hinweg und machte mit ihrem Kavalier Konversation.

»Was sagen Sie nur zu der hier? Sehen Sie nur, sehen Sie nur!« sagte die alte Gräfin, die mit ein paar andern Damen durch den Saal ging, und zeigte dabei auf Natascha. Natascha wurde rot und lachte.

»Nun, aber was denn, Mama? Was meinen Sie denn eigentlich? Was ist denn hier so Wunderbares?«

Während die dritte Ecossaise getanzt wurde, wurden in dem Salon, wo Marja Dmitrijewna und der Graf Karten spielten, die Stühle gerückt, und die meisten der vornehmen und älteren Gäste erhoben sich, reckten nach dem langen Sitzen die Glieder, steckten die Brieftaschen und Geldbörsen in die Tasche und begaben sich nach dem Saal, in dem getanzt wurde. Voran gingen Marja Dmitrijewna und der Graf, beide mit vergnügten Gesichtern. Der Graf bot mit scherzhafter Höflichkeit, etwa wie beim Ballett, Marja Dmitrijewna seinen rundgebogenen Arm. Er richtete sich ganz gerade auf; sein Gesicht leuchtete ordentlich von einem eigenartig schlauen, unternehmenden Lächeln, und sowie die letzte Figur der Ecossaise zu Ende getanzt war, klatschte er in die Hände, um sich den Musikanten bemerkbar zu machen, und rief, sich an die erste Violine wendend, zur Galerie hinauf: »Semjon, den Danilo Kupor! Weißt du wohl?«

Dies war des Grafen Lieblingstanz; er hatte ihn getanzt, als er noch ein junger Mann gewesen war. Der Danilo Kupor war eigentlich nur eine einzelne Figur der Anglaise.

»Nein, sehen Sie nur unsern Papa!« rief Natascha durch den ganzen Saal hin; sie hatte ganz vergessen, daß sie mit einem Erwachsenen tanzte, bog ihr Lockenköpfchen bis zu den Knien herunter und brach in ein helles weitschallendes Lachen aus. Und wirklich, alle, die im Saal anwesend waren, blickten mit fröhlichem Lächeln nach dem vergnügten alten Herrn, der da neben seiner Dame, der stattlichen Marja Dmitrijewna, die ihn an Größe überragte, sich gar wunderlich gebärdete. Er krümmte die Arme bogenförmig, schüttelte sie nach dem Takt, reckte die Schultern, stellte die Füße auswärts, stampfte ein wenig mit ihnen und bereitete durch ein Lächeln, das immer glänzender sein rundliches Gesicht überzog, die Zuschauer auf das, was nun kommen sollte, vor. Sowie die heiteren auffordernden Klänge des Danilo Kupor ertönten, die eine große Ähnlichkeit mit der Melodie des lustigen Bauerntanzes Trepak hatten, erschienen auf einmal in allen Saaltüren die lächelnden Gesichter auf der einen Seite des männlichen, auf der andern des weiblichen Hausgesindes, welches herbeigelaufen war, um zu sehen, wie fidel der Herr des Hauses tanzte.

»Nein, unser Väterchen! Wie ein Hirsch!« sagte laut von der einen Tür her die Kinderfrau.

Der Graf tanzte gut und war sich dessen bewußt; seine Dame hingegen konnte nicht gut tanzen und strebte auch gar nicht danach, etwas Besonderes zu leisten. Ihr kolossaler Körper stand gerade, während die mächtigen Arme schlaff herabhingen (ihren Ridikül hatte sie der Gräfin übergeben); es tanzte eigentlich nur ihr ernstes, aber hübsches Gesicht. Was bei dem Grafen in seiner ganzen rundlichen Figur zum Ausdruck kam, sprach sich bei Marja Dmitrijewna nur in dem allmählich immer deutlicher lächelnden Gesicht und in der sich immer mehr in die Höhe hebenden Nase aus. Aber wenn der Graf, der immer mehr in Zug kam, die Zuschauer durch die überraschende Gewandtheit seiner Fußstellungen und die behenden Sprünge seiner geschmeidigen Beine entzückte, so brachte demgegenüber Marja Dmitrijewna trotz des nur sehr geringen Eifers, den sie in den Bewegungen der Schultern oder in der runden Haltung der Arme bei Umdrehungen und beim Aufstampfen bewies, doch einen nicht minderen Eindruck hervor, indem ein jeder bei der Würdigung ihrer Leistungen verdientermaßen ihre Beleibtheit und ihr sonst so ernstes Wesen berücksichtigte. Der Tanz wurde immer lebhafter. Ein den beiden vis-à-vis tanzendes Paar konnte auch nicht für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und versuchte es nicht einmal. Das allgemeine Interesse konzentrierte sich auf den Grafen und Marja Dmitrijewna. Natascha zupfte alle in der Nähe Stehenden an den Ärmeln und Kleidern, obgleich diese auch so schon kein Auge von den Tanzenden wandten, und verlangte, sie sollten doch ihr Papachen ansehen. In den kurzen Pausen des Tanzes schöpfte der Graf mit Anstrengung wieder Luft, aber er winkte den Musikanten und rief ihnen zu, sie sollten schneller spielen. Immer schneller und schneller, immer kunstvoller und kunstvoller drehte und schwenkte sich der Graf; bald tanzte er auf den Fußspitzen, bald auf den Hacken um Marja Dmitrijewna herum. Endlich drehte er seine Dame so um, daß sie wieder auf ihren ursprünglichen Platz zu stehen kam, und führte den letzten Pas aus, indem er sein geschmeidiges Bein nach hinten in die Höhe hob, den von Schweiß bedeckten Kopf mit dem lächelnden Gesicht tief hinabbeugte und mit dem rechten Arm eine große runde Bewegung machte – unter lautschallendem Händeklatschen und Lachen der Zuschauer, wobei sich Natascha besonders hervortat. Die beiden Tanzenden standen still, rangen mühsam nach Atem und trockneten sich mit ihren Batisttüchern das Gesicht.

»Ja, ja, so tanzte man zu unserer Zeit, meine Teuerste!« sagte der Graf.

»Ein famoser Tanz, dieser Danilo Kupor!« erwiderte Marja Dmitrijewna, indem sie schwer und langsam aus- und einatmete, und streifte sich die Ärmel in die Höhe.

Krieg und Frieden

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