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I

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»Nun, sehen Sie wohl, Fürst: Genua und Lucca sind weiter nichts mehr als Apanagen der Familie Bonaparte. Nein, das erkläre ich Ihnen auf das bestimmteste: wenn Sie mir nicht sagen, daß der Krieg eine Notwendigkeit ist, wenn Sie sich noch länger erlauben, all die Schändlichkeiten und Gewalttaten dieses Antichrists in Schutz zu nehmen (wirklich, ich glaube, daß er der Antichrist ist), so kenne ich Sie nicht mehr, so sind Sie nicht mehr mein Freund, nicht mehr, wie Sie sich ausdrücken, mein treuer Sklave. – Jetzt aber guten Tag, guten Tag! Ich sehe, daß ich Sie einschüchtere; setzen Sie sich und erzählen Sie!«

So sprach im Juni 1805 Fräulein Anna Pawlowna Scherer, die hochangesehene Hofdame und Vertraute der Kaiserinmutter Maria Feodorowna, indem sie den durch Rang und Einfluß hervorragenden Fürsten Wasili begrüßte, der sich als erster zu ihrer Soiree einstellte. Anna Pawlowna hustete seit einigen Tagen; sie hatte, wie sie sagte, die Grippe (»Grippe« war damals ein neues Wort, dessen sich nur einige wenige feine Leute bedienten). Die Einladungsschreiben, die sie am Vormittag durch einen Lakaien in roter Livree versandt hatte, hatten alle ohne Abweichungen folgendermaßen gelautet:

»Wenn Sie, Graf (oder Fürst), nichts Besseres vorhaben und die Aussicht, den Abend bei einer armen Patientin zu verbringen, Sie nicht zu sehr erschreckt, so werde ich mich sehr freuen, Sie heute zwischen sieben und neun Uhr bei mir zu sehen. Anna Scherer.«

»Mein Gott, was für eine hitzige Attacke!« antwortete der soeben eingetretene Fürst, ohne über einen derartigen Empfang im geringsten in Aufregung zu geraten, mit einem heiteren Ausdruck auf seinem flachen Gesicht.

Er trug die gestickte Hofuniform, Schnallenschuhe, Strümpfe und mehrere Orden und sprach jenes auserlesene Französisch, welches unsere Großväter nicht nur redeten, sondern in dem sie auch dachten, und zwar mit dem ruhigen, gönnerhaften Ton, wie er einem hochgestellten, im Verkehr mit der besten Gesellschaft und in der Hofluft altgewordenen Mann eigen ist. Er trat zu Anna Pawlowna heran, küßte ihr die Hand, wobei er ihr den Anblick seiner parfümierten, schimmernden Glatze darbot, und setzte sich dann in aller Seelenruhe auf einen Lehnsessel.

»Vor allen Dingen, liebe Freundin, sagen Sie mir, wie es mit Ihrer Gesundheit steht, und beruhigen Sie Ihren Freund«, sagte er, ohne seine Stimme zu verändern, und in einem Ton, bei dem man durch alle Höflichkeit und Anteilnahme doch seine innere Gleichgültigkeit und sogar ein wenig Spott hindurchhörte.

»Wie kann ich körperlich gesund sein, wenn ich seelisch leide? Wer, der überhaupt Gefühl in der Brust hat, kann denn in unserer Zeit seine seelische Ruhe bewahren?« sagte Anna Pawlowna. »Ich hoffe, Sie bleiben den ganzen Abend bei mir?«

»Und die Fete beim englischen Gesandten? Heute ist Mittwoch; ich muß mich dort zeigen«, erwiderte der Fürst. »Meine Tochter wird herkommen und mich dorthin begleiten.«

»Ich glaubte, die heutige Fete sei abgesagt worden. Ich muß gestehen, alle diese Feten und Feuerwerke werden einem allmählich unerträglich.«

»Wenn der Gesandte geahnt hätte, daß dies Ihr Wunsch sei, so hätte er gewiß die Fete absagen lassen«, antwortete der Fürst; er redete eben gewohnheitsmäßig, wie ein aufgezogenes Uhrwerk, etwas hin, wovon er selbst nicht erwartete, daß es jemand glauben werde.

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Welcher Beschluß ist denn nun infolge von Nowosilzews Depesche gefaßt worden? Sie wissen ja doch alles.«

»Wie soll ich Ihnen darauf antworten?« erwiderte der Fürst in kühlem, gelangweiltem Ton. »Sie wollen wissen, wie man die Sachlage auffaßt? Man ist der Ansicht, daß Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt hat, und es hat den Anschein, daß wir uns anschicken, mit den unsrigen das gleiche zu tun.«

Fürst Wasili sprach immer in trägem, lässigem Ton, etwa wie ein Schauspieler eine schon oft von ihm gespielte Rolle spricht. Dagegen sprühte Anna Pawlowna Scherer trotz ihrer vierzig Jahre von Lebhaftigkeit und Leidenschaftlichkeit.

Die Rolle der Enthusiastin war ein wesentliches Stück ihrer gesellschaftlichen Stellung geworden, und manchmal gab sie sich, auch wenn ihr eigentlich nicht danach zumute war, dennoch als Enthusiastin, nur um die Erwartung der Leute, die sie kannten, nicht zu täuschen. Das leise Lächeln, das beständig auf Anna Pawlownas Gesicht spielte, obwohl es eigentlich zu ihren verlebten Zügen nicht paßte, dieses Lächeln besagte, ähnlich wie bei verzogenen Kindern, daß sie sich ihrer liebenswürdigen Schwäche dauernd bewußt sei, aber nicht beabsichtige, nicht imstande sei und nicht für nötig halte, sich von ihr freizumachen.

Als das Gespräch über die politische Lage einige Zeit gedauert hatte, wurde Anna Pawlowna hitzig.

»Ach, reden Sie mir nicht von Österreich! Mag sein, daß ich nichts davon verstehe, aber Österreich hat den Krieg nie gewollt und will ihn auch jetzt nicht. Österreich verrät uns. Rußland muß allein der Retter Europas werden. Unser Wohltäter auf dem Thron kennt seinen hohen Beruf und wird diesem Beruf treu bleiben. Das ist das einzige, worauf ich mich verlasse. Unserm guten, herrlichen Kaiser ist die größte Aufgabe in der Welt zugefallen, und er ist so reich an trefflichen Eigenschaften und Tugenden, daß Gott ihn nicht verlassen wird. Unser Kaiser wird seinen hohen Beruf erfüllen, die Hydra der Revolution zu erwürgen, die jetzt in der Gestalt dieses Mörders und Bösewichts noch entsetzlicher erscheint als vorher. Wir allein müssen das Blut des Gerechten sühnen. Auf wen könnten wir denn auch rechnen, frage ich Sie? England mit seinem Krämergeist hat kein Verständnis für die ganze Seelengröße Kaiser Alexanders, und kann ein solches Verständnis nicht haben. Es hat sich geweigert, Malta zu räumen. Es will erst noch sehen und findet in allem, was wir tun, einen Hintergedanken. Was haben die Engländer auf Nowosilzews Anfrage geantwortet? Nichts. Sie haben kein Verständnis gehabt, können kein Verständnis haben für die Selbstverleugnung unseres Kaisers, der nichts für sich selbst will und in allem nur auf das Wohl der ganzen Welt bedacht ist. Und was haben sie versprochen? Nichts. Und was sie versprochen haben, selbst das werden sie nicht zur Ausführung bringen! Preußen hat bereits erklärt, Bonaparte sei unüberwindlich und ganz Europa vermöge nichts gegen ihn. Und ich glaube diesen beiden, Hardenberg und Haugwitz, kein Wort, das sie sagen. Diese vielgerühmte Neutralität Preußens ist weiter nichts als eine Falle. Ich glaube nur an Gott und an die hohe Bestimmung unseres geliebten Kaisers. Er wird Europa retten!« Sie hielt plötzlich inne mit einem spöttischen Lächeln über die Hitze, in die sie hineingeraten war.

»Ich glaube«, erwiderte der Fürst gleichfalls lächelnd, »hätte man Sie an Stelle unseres lieben Wintzingerode hingeschickt, Sie hätten die Zustimmung des Königs von Preußen im Sturm errungen. Sie besitzen eine erstaunliche Beredsamkeit. Darf ich Sie um eine Tasse Tee bitten?«

»Sogleich. Apropos«, fügte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, hinzu, »es werden heute zwei sehr interessante Persönlichkeiten bei mir sein: der Vicomte Mortemart (er ist durch die Rohans mit den Montmorencys verwandt; die Mortemarts sind eine der besten Familien Frankreichs; das ist einer der wirklich achtungswerten Emigranten, einer von der echten Art) und dann der Abbé Morio. Kennen Sie diesen tiefen Geist? Er ist vom Kaiser empfangen worden; Sie wissen wohl?«

»Ah! das wird mich außerordentlich freuen«, antwortete der Fürst. »Sagen Sie«, fügte er, als ob ihm soeben etwas einfiele, in besonders lässigem Ton hinzu, obgleich das, wonach er fragen wollte, der Hauptzweck seines Besuches war, »ist es richtig, daß die Kaiserinmutter die Ernennung des Baron Funke zum ersten Sekretär in Wien wünscht? Dieser Baron ist doch allem Anschein nach ein wertloses Subjekt.« Fürst Wasili hegte den Wunsch, daß sein eigener Sohn diese Stelle erhalten möge, welche andere Leute auf dem Weg über die Kaiserinmutter Maria Feodorowna dem Baron zu verschaffen suchten.

Anna Pawlowna schloß die Augen beinahe vollständig, um zu verstehen zu geben, daß weder sie noch sonst jemand sich ein Urteil über das erlauben dürfe, was der Kaiserinmutter beliebe oder genehm sei.

»Baron Funke ist der Kaiserinmutter durch ihre Schwester empfohlen worden«, begnügte sie sich in melancholischem, trockenem Ton zu erwidern. In dem Augenblick, wo Anna Pawlowna von der Kaiserinmutter sprach, nahm ihr Gesicht auf einmal den Ausdruck einer tiefen, innigen Ergebenheit und Verehrung, gepaart mit einer Art von Traurigkeit, an, ein Ausdruck, der bei ihr jedesmal zum Vorschein kam, wenn sie im Gespräch ihrer hohen Gönnerin Erwähnung tat. Sie äußerte dann noch, Ihre Majestät habe geruht, dem Baron Funke großes Wohlwollen zu bezeigen, und wieder zog dabei ein Schatten wie von Traurigkeit über ihren Blick.

Der Fürst machte ein Gesicht, als ob ihm die Sache gleichgültig sei, und schwieg. Anna Pawlowna hatte mit der ihr eigenen höfischen und weiblichen Gewandtheit und schnellen Erkenntnis dessen, was taktgemäß war, dem Fürsten etwas dafür auswischen wollen, daß er sich erdreistet hatte, über eine von der Kaiserinmutter protegierte Persönlichkeit so abfällig zu urteilen; nun aber wollte sie ihn doch auch wieder trösten.

»Um auf Ihre Familie zu kommen«, sagte sie, »wissen Sie wohl, daß Ihre Tochter, seit sie Gesellschaften besucht, das Entzücken der gesamten höheren Kreise bildet? Man findet sie schön wie den Tag.«

Der Fürst verneigte sich zum Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit.

»Ich denke oft«, fuhr Anna Pawlowna nach einem kurzen Stillschweigen fort (sie rückte dabei dem Fürsten näher und lächelte ihm freundlich zu, als wollte sie damit andeuten, daß die Unterhaltung über Politik und Angelegenheiten der Gesellschaft nun beendigt sei und jetzt ein vertraulicheres Gespräch beginne), »ich denke oft, wie ungerecht manchmal das Glück im Leben verteilt ist. Warum hat Ihnen nur das Schicksal zwei so prächtige Kinder gegeben (Anatol, Ihren jüngeren Sohn, schließe ich dabei aus; ich mag ihn nicht«, schaltete sie in einem Ton ein, als dulde sie keinen Widerspruch, und zog dabei die Augenbrauen in die Höhe), »so entzückende Kinder? Wahrhaftig, Sie wissen deren Wert weniger zu schätzen als alle anderen Leute, und daher verdienen Sie nicht, solche Kinder zu haben.«

Ihr Gesicht war wieder von dem ihr eigenen enthusiastischen Lächeln verklärt.

»Was ist da zu machen? Lavater würde sagen, daß mir der Kopfhöcker der elterlichen Liebe fehlt«, erwiderte der Fürst.

»Scherzen Sie nicht darüber. Ich wollte ernsthaft mit Ihnen reden. Wissen Sie, ich bin mit Ihrem jüngeren Sohn nicht zufrieden. Unter uns gesagt« (hier nahm ihr Gesicht wieder einen trüben Ausdruck an), »es wurde bei Ihrer Majestät von ihm gesprochen, und Sie wurden bedauert.«

Der Fürst antwortete nicht; sie aber blickte ihn schweigend und bedeutsam an und wartete auf eine Antwort. Der Fürst runzelte die Stirn.

»Was soll ich denn dabei machen?« sagte er endlich. »Sie wissen, ich habe für die Erziehung meiner Söhne alles getan, was ein Vater nur tun kann, und doch haben Sie sich beide übel entwickelt. Ippolit ist wenigstens nur ein ruhiger Narr, aber Anatol ein unruhiger. Das ist der einzige Unterschied«, sagte er und lächelte dabei gekünstelter und lebhafter als gewöhnlich, wobei mit besonderer Schärfe in den um seinen Mund liegenden Falten ein überraschend roher, unangenehmer Zug hervortrat.

»Warum werden solchen Männern, wie Sie, Kinder geboren? Wenn Sie nicht Vater wären, hätte ich gar nichts an Ihnen zu tadeln«, sagte Anna Pawlowna, nachdenklich aufblickend.

»Ich bin Ihr treuer Sklave, und Ihnen allein kann ich es gestehen: meine Kinder sind die Fesseln meines Daseins. Das ist eben mein Kreuz. So fasse ich es auf. Was soll ich da tun?« Er schwieg und drückte durch eine Gebärde seine Ergebung in dieses grausame Schicksal aus. Anna Pawlowna überlegte.

»Haben Sie nie daran gedacht, Ihrem Anatol, diesem verlorenen Sohn, eine Frau zu geben?« sagte sie dann. »Es heißt immer, alte Jungfern hätten eine Manie für das Ehestiften. Ich verspüre diese Schwäche noch nicht an mir; aber ich habe da ein junges Mädchen, das sich bei ihrem Vater sehr unglücklich fühlt, eine Verwandte von uns, eine Tochter des Fürsten Bolkonski.«

Fürst Wasili antwortete nicht, gab jedoch mit jener schnellen Auffassungsgabe, wie sie Leuten von Welt eigen ist, durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß er diese Mitteilungen zum Gegenstand seines Nachdenkens mache.

»Wissen Sie wohl, daß mich dieser Anatol jährlich vierzigtausend Rubel kostet?« sagte er dann, anscheinend nicht imstande, von seinem trüben Gedankengang loszukommen. Dann schwieg er wieder eine Weile.

»Was soll daraus werden, wenn es noch fünf Jahre so weitergeht? Das ist der Segen davon, wenn man Vater ist. Ist sie reich, Ihre junge Prinzessin?«

»Der Vater ist sehr reich und geizig. Er lebt auf dem Land. Wissen Sie, es ist der bekannte Fürst Bolkonski, der noch unter dem hochseligen Kaiser den Abschied erhielt; er hatte den Spitznamen ›der König von Preußen‹. Er ist ein sehr kluger Mensch, hat aber seine Sonderbarkeiten und ist schwer zu behandeln. Das arme Kind ist kreuzunglücklich. Sie hat noch einen Bruder, der bei Kutusow Adjutant ist; er hat vor einiger Zeit Lisa Meynen geheiratet. Er wird heute bei mir sein.«

»Hören Sie, liebe Annette«, sagte der Fürst, indem er plötzlich die Hand der Hofdame ergriff und in etwas wunderlicher Weise nach unten zog. »Arrangieren Sie mir diese Sache, und ich werde für alle Zeit Ihr treuester Sklave sein (›Sklafe‹, wie mein Dorfschulze immer in seinen Berichten an mich schreibt, mit einem f). Sie ist von guter Familie und reich. Das ist alles, was ich brauche.«

Und mit jenen ungezwungenen, familiären, graziösen Bewegungen, die ihn auszeichneten, ergriff er die Hand des Fräuleins, küßte sie und schwenkte dann diese Hand hin und her, während er sich in den Sessel zurücksinken ließ und zur Seite blickte.

»Warten Sie einmal«, sagte Anna Pawlowna überlegend. »Ja, ich will gleich heute mit Lisa, der Frau des jungen Bolkonski, reden. Vielleicht läßt sich die Sache arrangieren. Ich werde bei Ihrer Familie anfangen, das übliche Gewerbe der alten Jungfern zu erlernen.«

Krieg und Frieden

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