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V
Оглавление»Aber wie finden Sie diese ganze letzte Krönungskomödie in Mailand?« fragte Anna Pawlowna. »Und nun ist eine neue Komödie gefolgt: die Bevölkerung von Genua und Lucca trägt Herrn Bonaparte ihre Wünsche vor. Und Herr Bonaparte sitzt auf dem Thron und erfüllt die Wünsche der Völker! Oh, das ist ein entzückendes Schauspiel! Nein, man könnte den Verstand darüber verlieren. Man möchte glauben, daß die ganze Welt den Kopf verloren hat.«
Fürst Andrei blickte der Sprechenden gerade ins Gesicht und lächelte.
»Gott gibt mir diese Krone; wehe dem, der sie antastet!« sagte er (die Worte, welche Bonaparte beim Aufsetzen der Krone gesprochen hatte). »Es heißt, er soll einen schönen Anblick dargeboten haben, als er diese Worte sprach«, fügte er hinzu und wiederholte diese Worte noch einmal auf italienisch: »Dio mi la dona, guai a chi la tocca!«
»Ich hoffe«, fuhr Anna Pawlowna fort, »daß dies endlich der Tropfen ist, der das Gefäß zum Überlaufen bringt. Die Souveräne können diesen Menschen, der alles Bestehende bedroht, nicht länger dulden.«
»Die Souveräne! Ich rede nicht von Rußland«, sagte der Vicomte in artigem, aber hoffnungslosem Ton. »Die Souveräne! Aber was haben sie für Ludwig XVI., für die Königin und für Madame Elisabeth getan? Nichts!« fuhr er, lebhafter werdend, fort. »Und glauben Sie mir, sie werden ihre Strafe dafür erleiden, daß sie die Sache der Bourbonen im Stich gelassen haben. Die Souveräne! Sie schicken Gesandte hin, um den Thronräuber zu beglückwünschen!«
Mit einem Seufzer der Geringschätzung änderte er seine Haltung. Fürst Ippolit, der den Vicomte lange durch seine Lorgnette betrachtet hatte, drehte sich plötzlich bei diesen Worten mit dem ganzen Körper zu der kleinen Fürstin um, erbat sich von ihr eine Nadel und begann, indem er mit der Nadel auf dem Tisch zeichnete, ihr das Wappen der Condés darzustellen. Er erläuterte ihr dieses Wappen mit so wichtiger Miene, als ob die Fürstin ihn darum gebeten hätte.
»Ein Schild mit schmalen, roten und blauen gezähnten Streifen, das ist das Haus Condé«, sagte er. Die Fürstin hörte lächelnd zu.
»Wenn Bonaparte noch ein Jahr auf dem französischen Thron bleibt«, fuhr der Vicomte in seiner begonnenen Darlegung mit der Miene eines Menschen fort, der auf andere nicht hört, sondern bei einem Gegenstand, der ihm besser bekannt ist als allen übrigen, nur seinen eigenen Gedankengang im Auge hat, »so wird ein nie wiedergutzumachendes Unheil angerichtet sein. Durch Intrigen, Gewalttaten, Verbannungen und Hinrichtungen wird die Gesellschaft, ich meine die gute französische Gesellschaft, für immer vernichtet sein, und dann ...«
Er zuckte die Achseln und breitete die Arme auseinander. Pierre setzte gerade an, um etwas zu sagen, da ihn das Gespräch interessierte; aber Anna Pawlowna, die ihn überwachte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Kaiser Alexander«, sagte sie in dem wehmütigen Ton, dessen sie sich stets bediente, wenn sie von der kaiserlichen Familie sprach, »hat erklärt, daß er es den Franzosen selbst anheimstelle, sich die Form ihrer Regierung zu wählen. Und ich meine, es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß die ganze Nation sich von dem Usurpator befreien und sich ihrem legitimen König in die Arme werfen wird.« Anna Pawlowna beabsichtigte, mit diesen Worten dem Emigranten und Royalisten eine Liebenswürdigkeit zu erweisen.
»Das dürfte denn doch zweifelhaft sein«, bemerkte Fürst Andrei. »Der Herr Vicomte hat durchaus recht mit seiner Anschauung, daß die Sache sich schon zu weit entwickelt hat. Ich glaube, es wird schwer sein, zu den alten Zuständen zurückzukehren.«
»Soviel ich gehört habe«, mischte sich Pierre, seinen Versuch erneuernd, mit lebhaftem Erröten in das Gespräch, »ist fast der ganze Adel bereits auf Bonapartes Seite getreten.«
»Das sagen die Bonapartisten«, entgegnete der Vicomte, ohne Pierre anzusehen. »Es ist jetzt schwer, über die Ansichten der besseren Kreise Frankreichs ins klare zu kommen.«
»Bonaparte selbst hat das gesagt«, warf Fürst Andrei lächelnd ein. (Es war deutlich, daß ihm der Vicomte nicht gefiel, und daß seine Bemerkung, obwohl er den Vicomte dabei nicht anblickte, gegen diesen gerichtet war.)
»›Ich habe ihnen den Weg des Ruhmes gezeigt‹«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen, wieder Worte Napoleons zitierend, fort, »›aber sie haben ihn nicht gehen wollen; ich habe ihnen meine Vorzimmer geöffnet, und sie sind in Scharen herbeigeeilt ...‹ Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade er ein Recht hatte, so zu sprechen.«
»Gar kein Recht hatte er dazu«, entgegnete der Vicomte. »Nach der Ermordung des Herzogs haben selbst seine getreuesten Anhänger aufgehört, einen Helden in ihm zu sehen. Und wenn er wirklich für manche Leute ein Held war«, fuhr der Vicomte, zu Anna Pawlowna gewendet, fort, »so kann man doch sagen: nach der Ermordung des Herzogs gibt es im Himmel einen Märtyrer mehr und auf Erden einen Helden weniger.«
Anna Pawlowna und manche ihrer Gäste hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre Bewunderung für diese Worte des Vicomtes durch ein Lächeln zu bezeigen, da stürzte sich schon Pierre von neuem in das Gespräch, und obgleich Anna Pawlowna ahnte, daß er etwas Unpassendes vorbringen werde, war sie doch nicht mehr imstande, ihn zurückzuhalten.
»Die Hinrichtung des Herzogs von Enghien«, sagte Pierre, »war eine politische Notwendigkeit, und ich betrachte es geradezu als ein Zeichen von Seelengröße, daß Napoleon sich nicht gescheut hat, die Verantwortung für diese Tat ganz allein auf sich zu nehmen.«
»Mein Gott!« flüsterte Anna Pawlowna ganz entsetzt.
»Sie billigen einen Mord ...? Wie, Monsieur Pierre, Sie sehen in einem Mord ein Zeichen von Seelengröße?« sagte die kleine Fürstin, indem sie ihre Handarbeit lächelnd näher an ihre Brust hielt.
»Ah! Ah!« riefen verschiedene Stimmen.
»Vorzüglich!« sagte Fürst Ippolit auf englisch und schlug sich ein paarmal mit der flachen Hand aufs Knie. Der Vicomte zuckte nur mit den Achseln.
Pierre blickte triumphierend über seine Brille weg die Zuhörer an.
»Ich spreche so«, fuhr er kühnen Mutes fort, »weil die Bourbonen vor der Revolution davongelaufen sind und das Volk der Anarchie preisgegeben haben; Napoleon war der einzige, der es verstand, die Revolution richtig zu beurteilen und sie zu besiegen, und deshalb durfte er, wo es sich um das allgemeine Wohl handelte, nicht vor dem Leben eines einzelnen haltmachen.«
»Mögen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« sagte Anna Pawlowna. Aber Pierre fuhr, ohne ihr zu antworten, in seiner Meinungsäußerung fort.
»Nein«, sagte er, immer lebhafter werdend, »Napoleon ist ein großer Geist, weil er sich über die Revolution gestellt und ihre Auswüchse vertilgt hat, während er alles Gute, das sie gebracht hatte, beibehielt: die Gleichheit aller Bürger und die Freiheit des Wortes und der Presse; nur durch dieses Verfahren hat er die Macht erlangt.«
»Ja, wenn er die Macht, nachdem er sie erlangt hatte, nicht zum Mord mißbraucht, sondern in die Hände des legitimen Königs gelegt hätte«, entgegnete der Vicomte, »dann würde ich ihn einen großen Mann nennen.«
»Das hätte er gar nicht tun können. Das Volk hatte ihm die Macht nur zu dem Zweck gegeben, damit er es von den Bourbonen befreien möchte, und weil es in ihm einen großen Mann sah. Die Revolution ist eine große Tat gewesen«, fuhr Monsieur Pierre fort und bekundete durch die unnötige Hinzufügung dieser verwegenen, herausfordernden These seine große Jugendlichkeit und seinen Eifer, alles möglichst schnell herauszureden.
»Revolution und Königsmord eine große Tat ...! Wenn jemand so redet ... Aber wollen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« wiederholte Anna Pawlowna ihre Aufforderung.
»Rousseaus Gesellschaftsvertrag«, sagte der Vicomte mit sanftem Lächeln.
»Ich spreche nicht vom Königsmord; ich spreche von den Ideen.«
»Jawohl, von den Ideen des Raubes, des Mordes und des Königsmordes«, unterbrach ihn wieder eine ironische Stimme.
»Das waren tadelnswerte Ausschreitungen, versteht sich. Aber nicht darin liegt die eigentliche Bedeutung der Revolution; sondern ihre Bedeutung liegt in der Anerkennung der Menschenrechte, in der Ablegung von Vorurteilen, in der Gleichstellung aller Bürger. Und alle diese Ideen hat Napoleon in ihrer ganzen Kraft beibehalten.«
»Freiheit und Gleichheit«, entgegnete der Vicomte geringschätzig, als ob er sich endlich entschlossen hätte, diesem jungen Menschen ernsthaft die ganze Torheit seines Geredes zu beweisen, »das sind hochtönende Worte, die schon längst in Verruf gekommen sind. Wer sollte nicht Freiheit und Gleichheit lieben? Schon unser Heiland hat Freiheit und Gleichheit gepredigt. Sind denn etwa die Menschen nach der Revolution glücklicher geworden? Im Gegenteil. Wir wünschten die Freiheit; aber Bonaparte hat sie vernichtet.«
Fürst Andrei sah lächelnd bald Pierre, bald den Vicomte, bald die Wirtin an. Bei Pierres exzentrischen Reden hatte Anna Pawlowna im ersten Augenblick trotz ihrer gesellschaftlichen Routine einen gewaltigen Schreck bekommen; aber als sie sah, daß bei den von Pierre ausgestoßenen gotteslästerlichen Reden der Vicomte nicht außer sich geriet, und als sie ferner sah, daß ein Vertuschen dieser Reden nicht mehr möglich war, da nahm sie ihren Mut zusammen, ergriff die Partei des Vicomtes und machte einen Angriff auf den dreisten Redner.
»Aber mein lieber Monsieur Pierre«, sagte Anna Pawlowna, »wie können Sie nur jemand für einen großen Mann erklären, der den Herzog – oder sagen wir überhaupt schlechtweg einen Menschen – ohne ordentliches Gericht schuldlos hat hinrichten lassen?«
»Ich möchte fragen«, sagte der Vicomte, »wie man den achtzehnten Brumaire auffassen soll. War das etwa kein Betrug? Das war eine Gaunerei, die mit der Handlungsweise eines großen Mannes ganz und gar keine Ähnlichkeit hat.«
»Und die Gefangenen in Afrika, die er ermorden ließ?« fügte die kleine Fürstin hinzu. »Das ist doch entsetzlich!« Sie zuckte mit den Schultern.
»Er ist ein Emporkömmling; da kann man nun sagen, was man will«, bemerkte Fürst Ippolit.
Monsieur Pierre wußte nicht, wem er antworten sollte, sah ringsumher alle an und lächelte. Sein Lächeln war von anderer Art als bei anderen Menschen; es war nicht eine Verschmelzung von Ernst und Heiterkeit, sondern, sobald sich bei ihm ein Lächeln einstellte, verschwand sofort, im gleichen Augenblick, das ernste und sogar etwas mürrische Gesicht vollständig, und es erschien ein anderes, kindliches, gutmütiges, sogar etwas einfältiges Gesicht, das gewissermaßen um Verzeihung bat.
Dem Vicomte, der ihn zum erstenmal sah, wurde klar, daß dieser Jakobiner durchaus nicht so fürchterlich war wie seine Reden. Alle schwiegen.
»Wie soll er es denn anfangen, allen auf einmal zu antworten?« sagte dann Fürst Andrei. »Übrigens muß man, wo es sich um Taten eines Staatsmannes handelt, unterscheiden, was er als Mensch und was er als Heerführer oder Kaiser getan hat. Das scheint mir notwendig.«
»Ja, ja, selbstverständlich!« rief Pierre schnell, erfreut über die Hilfe, die ihm plötzlich kam.
»Es läßt sich nicht leugnen«, fuhr Fürst Andrei fort, »daß Napoleon als Mensch sich bei manchen Anlässen groß gezeigt hat: auf der Brücke von Arcole, in den Lazaretten von Jaffa, wo er den Pestkranken die Hand gab; aber freilich ... andere seiner Taten sind schwer zu rechtfertigen.«
Fürst Andrei, der offenbar beabsichtigt hatte, den unangenehmen Eindruck von Pierres ungeschickten Reden zu mildern, stand auf, um wegzufahren, und gab seiner Frau ein Zeichen.
Plötzlich sprang Fürst Ippolit auf, hielt durch Zeichen mit den Armen alle zurück und bat sie, sich noch einmal hinzusetzen; dann begann er:
»Ach, heute habe ich eine reizende Geschichte aus Moskau erzählen hören; die muß ich Ihnen zum besten geben. Verzeihen Sie, Vicomte, daß ich sie auf russisch erzähle; sie würde sonst den richtigen Geschmack verlieren.« Und nun fing Fürst Ippolit an, russisch zu reden, mit einer Aussprache und Grammatik, welche an die von Franzosen erinnerte, die sich etwa ein Jahr lang in Rußland aufgehalten haben. Alle waren dageblieben; so eifrig und dringend hatte Fürst Ippolit um Aufmerksamkeit für seine Geschichte gebeten.
»In Moskau lebt eine Dame. Und sie ist sehr geizig. Sie mußte zwei Lakaien für ihre Kutsche haben. Und sehr groß gewachsene. Das war ihr Geschmack. Und sie hatte ein Dienstmädchen, die noch größer war. Da sagte sie ...«
Hier dachte Fürst Ippolit nach; augenscheinlich überlegte er mit Anstrengung, wie die Geschichte weiterging.
»Sie sagte ... ja, sie sagte: ›Mädchen, zieh Livree an und fahr mit mich aus, hinten auf das Wagen, Besuche machen.‹«
Hier prustete Fürst Ippolit los und lachte weit früher als seine Zuhörer, was einen für den Erzähler unvorteilhaften Eindruck machte. Viele lächelten jedoch, darunter die ältliche Dame und Anna Pawlowna.
»Die Dame fuhr. Auf einmal wurde ein starke Wind. Das Mädchen verlor den Hut, und die lange Haare wurden los ...«
Hier konnte er sich nicht mehr halten, begann stoßweise zu lachen und sagte zwischen diesen Lachanfällen nur noch:
»Und alle Leute merkten ...«
Damit war die Geschichte zu Ende. Obgleich nicht zu verstehen war, wozu er sie eigentlich erzählt hatte, und weshalb es unbedingt notwendig gewesen war, sie russisch zu erzählen, so waren doch Anna Pawlowna und andere dem Fürsten Ippolit dankbar für die weltmännische Liebenswürdigkeit, mit der er die unerfreulichen, schroffen Meinungsäußerungen dieses Monsieur Pierre in so hübscher Weise abgeschnitten hatte. Nach dem Vortrag dieser Anekdote zersplitterte die Unterhaltung in kleine, unbedeutende Plaudereien über den letzten Ball und über den demnächst bevorstehenden und über das Theater und darüber, wann und wo man sich wieder treffen werde.