Читать книгу Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi - Страница 7
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ОглавлениеEr fand Darja Alexandrowna in der Nachtjacke, die Flechten ihres bereits recht dünn gewordenen, früher so dichten schönen Haares am Hinterkopf aufgesteckt, mit verfallenem, hagerem Gesicht und großen, erschrockenen Augen, die infolge der Hagerkeit des Gesichts stark hervortraten. Sie stand mitten unter allerlei Sachen, die im Zimmer umhergeworfen waren, vor einem offenen Wäscheschrank, aus dem sie einzelnes heraussuchte. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne und blickte nach der Tür, wobei sie sich ohne Erfolg bemühte, ihrem Gesichte einen strengen, verächtlichen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, daß sie vor ihm Furcht hatte und sich vor der bevorstehenden Aussprache ängstigte. Eben erst hatte sie von neuem versucht, das zu tun, was sie schon zehnmal in diesen drei Tagen zu tun versucht hatte: von den Sachen der Kinder und von ihren eigenen das Notwendigste herauszusuchen, um es zu ihrer Mutter bringen zu lassen. Und wieder konnte sie sich nicht endgültig dazu entschließen; aber auch jetzt sagte sie sich ebenso wie bei den früheren Versuchen, daß dieser Zustand nicht fortdauern könne; sie müsse irgend etwas unternehmen, ihren Mann bestrafen, bloßstellen, sich an ihm rächen, indem sie ihm wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes antäte, den er ihr zugefügt habe. Sie sagte sich immer noch, daß sie ihn verlassen wolle, fühlte aber, daß das unmöglich sei; unmöglich aber war es deswegen, weil sie nicht davon lassen konnte, ihn als ihren Gatten zu betrachten und zu lieben. Außerdem sah sie voraus, daß, wenn sie schon hier, im eigenen Hause, mit der Pflege und Beaufsichtigung ihrer fünf Kinder kaum fertig wurde, diese dort, wohin sie sich mit ihnen allen begeben wollte, noch schlechter versorgt werden würden. War doch schon in diesen drei Tagen der Jüngste von schlechter Fleischbrühe, die er bekommen hatte, krank geworden, und die übrigen hatten gestern fast gar kein Mittagessen gehabt. Sie fühlte, daß es ihr unmöglich sei, von hier wegzugehen; aber sie täuschte sich trotzdem selbst etwas vor, suchte die Sachen zusammen und tat, als ob sie weg wolle.
Als sie ihren Mann erblickte, versenkte sie die Hände in ein Fach des Wäscheschrankes, als ob sie etwas suchte, und sah sich nach ihm erst um, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Aber ihr Gesicht, dem sie einen strengen, entschlossenen Ausdruck verleihen wollte, sprach nur von Ratlosigkeit und tiefem Leide.
»Dolly!« sagte er mit leiser, schüchterner Stimme. Er hatte den Kopf in die Schultern hineingezogen und wollte sich gern ein klägliches, demütiges Aussehen geben, aber dabei strahlte er doch von Frische und Gesundheit. Mit einem schnellen Blicke überschaute sie vom Kopf bis zu den Füßen seine prächtige, lebensfrohe Gestalt. ›Ja, er ist glücklich und zufrieden!‹ dachte sie. ›Aber ich? ... Und diese widerwärtige Gutmütigkeit, um derentwillen ihn alle lieben und loben; ich hasse an ihm diese Gutmütigkeit.‹ Ihr Mund preßte sich zusammen; die Wangenmuskeln auf der rechten Seite ihres bleichen, nervösen Gesichtes zuckten.
»Was wünschen Sie?« fragte sie schnell in unnatürlich klingendem Tone.
»Dolly«, sagte er noch einmal, und seine Stimme zitterte dabei. »Anna kommt heute her.«
»Was geht es mich an? Ich kann sie nicht empfangen!« schrie sie auf.
»Aber es wird doch nötig sein, Dolly ...«
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg!« rief sie, ohne ihn anzublicken, als wäre dieser Aufschrei durch einen körperlichen Schmerz hervorgerufen.
Stepan Arkadjewitsch hatte wohl ruhig sein können, solange er an seine Frau nur dachte; da hatte er hoffen können, es werde sich alles, nach Matweis Ausdruck, wieder einrenken, und hatte in dieser Hoffnung ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee trinken können; als er aber jetzt ihr abgehärmtes Märtyrergesicht vor sich sah und diesen Ton ihrer Stimme hörte, aus dem ihre Ergebung in das Schicksal und ihre Verzweiflung herausklangen, da war es ihm, als wenn er ersticken müßte; es stieg ihm etwas in die Kehle, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Mein Gott, was habe ich getan, Dolly! Um Gottes willen! Ich habe ja ...« Er konnte nicht weiterreden; ein Schluchzen verschloß ihm die Kehle.
Sie schloß die Schranktür und blickte ihn an.
»Dolly, was kann ich sagen? Nur das eine: Verzeih mir! Denke zurück; können denn nicht neun Jahre des Zusammenlebens einige wenige Augenblicke aufwiegen, in denen ...«
Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtet und hörte ihm zu, als warte sie, was er wohl sagen werde, als flehe sie ihn an, sie irgendwie von seiner Schuldlosigkeit zu überzeugen.
»... einige wenige Augenblicke, in denen ich mich hinreißen ließ ...«, fuhr er fort und wollte weitersprechen; aber bei diesen Worten preßten sich ihre Lippen wieder wie infolge eines körperlichen Schmerzes zusammen, und wieder zuckten die Muskeln ihrer rechten Wange.
»Gehen Sie weg, gehen Sie weg von hier!« schrie sie noch durchdringender. »Und sprechen Sie zu mir nicht davon, daß Sie sich hätten hinreißen lassen, und nicht von dem, was Sie Schändliches getan haben!«
Sie wollte hinausgehen; aber sie wankte und faßte nach einer Stuhllehne, um sich zu stützen. Sein Gesicht zog sich in die Breite, seine Lippen wurden dicker, und die Tränen strömten ihm aus den Augen.
»Dolly!« sagte er schluchzend. »Um Gottes willen, denke an die Kinder; sie tragen ja keine Schuld. Ich bin der Schuldige; strafe mich, laß mich meine Schuld büßen. Womit ich sie nur zu büßen vermag, ich bin zu allem bereit! Ich habe gefehlt, und es ist gar nicht mit Worten zu sagen, wie schwer ich gefehlt habe! Aber dennoch, Dolly, verzeihe mir!«
Sie setzte sich hin. Er hörte ihr schweres, lautes Atmen und empfand ein unsägliches Mitleid mit ihr. Sie setzte mehrere Male an, etwas zu sagen, war aber dazu nicht imstande. Er wartete.
»Du denkst an die Kinder nur, um mit ihnen zu spielen; wenn ich aber an sie denke, so weiß ich dabei, daß sie jetzt zugrunde gehen müssen«, sagte sie; es war dies offenbar eine der Redewendungen, die sie sich im Laufe dieser drei Tage immer wieder vorgesprochen hatte.
Sie hatte du zu ihm gesagt, und darum blickte er sie voll Dankbarkeit an und machte eine Bewegung, um ihre Hand zu ergreifen; aber sie wich mit Abscheu vor ihm zurück.
»Ich denke an die Kinder, und deshalb würde ich alles tun, was menschenmöglich ist, um sie zu retten; aber ich weiß selbst nicht, wodurch ich sie retten kann: ob dadurch, daß ich sie von ihrem Vater wegnehme, oder dadurch, daß ich sie bei ihrem liederlichen Vater lasse, – jawohl, bei ihrem liederlichen Vater. Nun, sagen Sie selbst, ist es denn nach allem, was geschehen ist, überhaupt noch möglich, daß wir weiter miteinander leben? Ist das überhaupt noch möglich?« fragte sie noch einmal mit erhobener Stimme. »Nachdem mein Mann, der Vater meiner Kinder, sich in eine Liebschaft mit der Erzieherin seiner eigenen Kinder eingelassen hat ...«
»Aber was ist nun zu machen? Was ist nun zu machen?« fragte er in kläglichem Ton; er wußte selbst nicht recht, was er sagte, und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer herabsinken.
»Sie sind mir widerwärtig und ekelhaft!« schrie sie, immer mehr in Hitze geratend. »Ihre Tränen sind weiter nichts als Wasser! Sie haben mich nie geliebt; Sie besitzen weder ein Herz noch eine vornehme Gesinnung! Sie sind mir verhaßt und ekelhaft; Sie sind mir ein Fremder, ja, ein ganz Fremder!« Mit bitterem Schmerze und tiefem Ingrimm sprach sie dieses Wort ›ein Fremder‹ aus, das ihr selbst schrecklich erschien.
Er blickte sie an, und der Ingrimm, der auf ihrem Gesichte zum Ausdruck kam, versetzte ihn in Schrecken und Staunen. Er begriff nicht, daß gerade sein Mitleid mit ihr sie reizte. Sie bemerkte bei ihm nur ein Gefühl des Bedauerns für sie, aber keine Liebe. ›Nein, sie haßt mich; sie wird mir nicht verzeihen‹, dachte er.
»Das ist furchtbar, ganz furchtbar!« sprach er vor sich hin.
In diesem Augenblick fing im Nebenzimmer eines der Kinder, das wahrscheinlich hingefallen war, an zu schreien. Darja Alexandrowna horchte auf, und ihre Miene wurde plötzlich milder.
Es schien, als sammle sie einige Sekunden lang ihre Gedanken, wie wenn sie nicht recht wüßte, wo sie sich befinde und was sie zu tun habe. Dann stand sie schnell auf und ging zur Tür hin.
›Also liebt sie doch mein Kind‹, dachte er, da er die Veränderung ihres Gesichtes beim Schreien des Kindes bemerkt hatte. ›Sie liebt mein Kind; wie kann sie dann mich hassen?‹
»Dolly, noch ein Wort!« sagte er, ihr nachgehend.
»Wenn Sie mir folgen, so rufe ich die Leute und die Kinder! Mögen sie es alle hören, daß Sie ein Schurke sind! Ich verlasse noch heute dieses Haus, und Sie können dann hier mit Ihrer Mätresse zusammen wohnen!«
Damit ging sie hinaus und schlug die Tür heftig hinter sich zu.
Stepan Arkadjewitsch seufzte, trocknete sich die Tränen vom Gesichte und ging mit leisen Schritten zu der Tür, durch die er gekommen war. ›Matwei sagt, es wird sich wieder einrenken; aber wie? Ich sehe schlechterdings keine Möglichkeit. Ach, was für eine schreckliche Lage! Und in welcher gewöhnlichen Weise sie schrie! Was für Ausdrücke!‹ sagte er zu sich selbst in Erinnerung an ihr Schreien und an die Worte Schurke und Mätresse. ›Vielleicht haben es sogar die Dienstmädchen gehört! Furchtbar gewöhnlich, wahrhaftig!‹ Stepan Arkadjewitsch blieb noch einige Sekunden allein stehen, trocknete sich die Augen, nahm eine feste Haltung an und verließ das Zimmer.
Es war Freitag, und im Eßzimmer zog gerade der deutsche Uhrmacher die Uhr auf. Stepan Arkadjewitsch erinnerte sich an einen Scherz, den er einmal über diesen pünktlichen, kahlköpfigen Uhrmacher gemacht hatte: dieser Deutsche sei wohl selbst einmal für das ganze Leben aufgezogen worden, um Uhren aufzuziehen. Und diese Erinnerung entlockte ihm ein Lächeln.
Stepan Arkadjewitsch liebte einen guten Witz. ›Vielleicht renkt es sich wieder ein! Ein hübscher Ausdruck das: Es renkt sich wieder ein‹, dachte er. ›Den muß ich weitererzählen.‹
»Matwei!« rief er und trug ihm auf, als er erschien: »Richte also mit Marja alles im Fremdenzimmer für Anna Arkadjewna her!«
»Zu Befehl.«
Stepan Arkadjewitsch zog seinen Pelz an und trat vor den Hauseingang hinaus.
»Werden Sie zu Hause speisen?« fragte Matwei, der ihn hinausbegleitete.
»Ich weiß noch nicht. Wie es sich gerade machen wird. Aber hier nimm das für Auslagen«, sagte er und händigte ihm aus seiner Brieftasche zehn Rubel ein. »Wird es reichen?«
»Es läßt sich vorher nicht sagen; jedenfalls werde ich es einzurichten suchen«, erwiderte Matwei, schlug den Kutschenschlag zu und trat auf die Stufen vorm Haustor zurück.
Darja Alexandrowna hatte unterdessen das Kind beruhigt, und als sie an dem Geräusche des Wagens merkte, daß ihr Mann weggefahren sei, kehrte sie in das Schlafzimmer zurück. Dies war immer ihre Zuflucht vor den häuslichen Sorgen; sobald sie diese Zuflucht verließ, stürmten die Sorgen stets wieder von allen Seiten auf sie ein. Auch jetzt, während sie die paar Minuten im Kinderzimmer gewesen war, hatten die Engländerin und Matrona Filimonowna die Gelegenheit benutzt, um ihr verschiedene Fragen vorzulegen, die keinen Aufschub duldeten und die sie allein entscheiden konnte: Was die Kinder zum Spaziergang anziehen sollten. Ob sie Milch bekommen sollten. Ob ein anderer Koch zur Aushilfe angenommen werden solle.
»Ach, laßt mich, laßt mich!« antwortete sie, kehrte in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf denselben Platz, auf dem sie mit ihrem Manne gesprochen hatte; sie preßte die abgemagerten Hände zusammen, an denen ihr die Ringe von den knochigen Fingern zu gleiten drohten, und ging in der Erinnerung das ganze vorhergehende Gespräch noch einmal durch. ›Er ist weggefahren! Aber wie mag er sich mit dieser Person auseinandergesetzt haben?‹ dachte sie. ›Ob er sie wohl noch besucht? Warum habe ich ihn nicht danach gefragt? Nein, nein, eine Aussöhnung ist unmöglich. Und selbst wenn wir in demselben Hause bleiben, so werden wir doch einander fremd sein. Fremd für immer!‹ Auf dieses ihr so furchtbare Wort kam sie immer wieder mit besonderem Nachdruck zurück. ›Und wie habe ich ihn geliebt, o mein Gott, wie habe ich ihn geliebt, wie habe ich ihn geliebt! – Und liebe ich ihn denn nicht auch jetzt noch? Liebe ich ihn nicht noch mehr als früher? Das Schrecklichste ist ...‹ Aber sie beendete diesen angefangenen Gedanken nicht, da Matrona Filimonowna durch die Tür hereinblickte.
»Gestatten Sie doch, daß ich meinen Bruder holen lasse«, sagte sie. »Der kann das Mittagessen herrichten; sonst bekommen die Kinder wieder wie gestern bis sechs Uhr nichts zu essen.«
»Nun gut, ich komme gleich und werde alles, was nötig ist, anordnen. Ist nach frischer Milch ge schickt?«
Und Darja Alexandrowna versenkte sich in die Sorgen des Tages und betäubte dadurch für einige Zeit ihren Gram.