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Stepan Arkadjewitsch hatte in der Schule dank seinen trefflichen Fähigkeiten gut gelernt, war aber träge und ausgelassen gewesen und infolgedessen bei der Entlassung in der Rangordnung einer der letzten geworden; aber trotz seinem allzeit lockeren Lebenswandel, trotz der Kürze seiner Dienstzeit und trotz seinem verhältnismäßig jugendlichen Lebensalter bekleidete er die angesehene, gut besoldete Stellung des Direktors einer Moskauer Verwaltungsbehörde. Diesen Posten hatte er durch Alexei Alexandrowitsch Karenin, den Gatten seiner Schwester Anna, erhalten, der eine der höchsten Stellen in dem Ministerium einnahm, dem jene Behörde unterstellt war. Aber auch wenn Karenin seinen Schwager nicht in diese Stelle gebracht hätte, so würde Stiwa Oblonski doch durch hundert andere Personen, durch Brüder, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten, diese oder eine andere, ähnliche Stelle mit etwa sechstausend Rubeln Gehalt bekommen haben; und eine solche Einnahme brauchte er recht nötig, da seine Geldverhältnisse trotz dem bedeutenden Vermögen seiner Frau sich in arger Zerrüttung befanden.

Halb Moskau und Petersburg war mit Stepan Arkadjewitsch verwandt oder befreundet. Er war mitten unter den Leuten geboren, die die Mächtigen dieser Welt waren oder wurden. Ein Drittel der hohen Regierungsbeamten, die älteren Männer, waren Freunde seines Vaters gewesen und hatten ihn noch im Kinderkleidchen gekannt; das zweite Drittel stand mit ihm auf du und du; und das dritte waren gute Bekannte. Somit waren die Verteiler irdischer Güter, als da sind Ämter, Pachtungen, Konzessionen und dergleichen, sämtlich mit ihm befreundet und konnten ihn als einen der Ihrigen nicht übergehen; und Oblonski brauchte sich nicht sonderlich zu bemühen, um eine einträgliche Stelle zu erhalten; er brauchte eine solche nur nicht auszuschlagen, sich nicht mißgünstig zu zeigen, sich mit niemandem zu überwerfen, sich nicht gekränkt zu fühlen, was er auch sowieso zufolge der ihm eigenen Gutmütigkeit niemals tat. Es wäre ihm lächerlich erschienen, wenn man ihm gesagt hätte, er würde keine Stelle mit einem Gehalte, wie er es brauchte, erlangen, um so mehr, da er nichts Außerordentliches beanspruchte; er wollte nur das, was seine Standesgenossen meist erlangten, und einen derartigen Posten konnte er ebensogut ausfüllen wie jeder andere.

Stepan Arkadjewitsch war nicht nur bei allen, die ihn kannten, wegen seines gutmütigen, heiteren Charakters und seiner unzweifelhaften Ehrenhaftigkeit beliebt, sondern in seinem ganzen Wesen, in seiner schönen, glänzenden Erscheinung, den blitzenden Augen, den schwarzen Brauen und Haaren, dem frischen, gesunden Gesicht lag etwas, was schon durch die rein physische Wirkung alle, die mit ihm in Berührung kamen, für ihn einnahm und in eine fröhliche Stimmung versetzte. »Ah! Stiwa! Oblonski! Da ist er ja auch!« riefen fast immer die, die mit ihm zusammentrafen, mit vergnügtem Lächeln. Und wenn sie nach einem Gespräche mit ihm sich bewußt wurden, daß eigentlich nichts besonders Vergnügliches vorgekommen sei, so freuten sie sich doch am anderen und am dritten Tage alle wieder ganz ebenso bei einer Begegnung mit ihm.

Schon mehr als zwei Jahre bekleidete Stepan Arkadjewitsch den Direktorposten bei der Moskauer Verwaltungsbehörde und hatte sich während dieser Zeit wie die Zuneigung so auch die Achtung seiner Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten und aller, die mit ihm zu tun hatten, erworben. Die Eigenschaften, die hauptsächlich dazu beitrugen, ihm diese allgemeine Achtung in dienstlicher Hinsicht zu verschaffen, waren erstens seine außerordentliche Leutseligkeit, die bei ihm auf dem Bewußtsein seiner eigenen Mängel beruhte; zweitens seine durchaus liberale, fortschrittliche Gesinnung, nicht die, die er sich aus den Zeitungen zu eigen machte, sondern die, die ihm im Blute steckte und infolge deren er alle Menschen, ohne jede Rücksicht auf ihren Stand und Beruf, völlig gleich und unparteiisch behandelte; drittens (und das war wohl die Hauptsache) seine vollständige Gemütsruhe gegenüber den Angelegenheiten, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, so daß er sich niemals von Erregungen hinreißen ließ und keine Übereilungsfehler machte.

Als Stepan Arkadjewitsch heute in seinem Wagen zu der Stätte seiner dienstlichen Tätigkeit gelangt war, begab er sich, begleitet von dem ehrerbietigen Pförtner, der ihm die Aktenmappe trug, in sein kleines Arbeitszimmer, zog die Uniform an und trat in den Sitzungssaal. Die Schreiber und Beamten erhoben sich sämtlich und verbeugten sich mit freundlicher, achtungsvoller Miene. Stepan Arkadjewitsch ging wie immer schnellen Schrittes zu seinem Platze, drückte den Räten die Hand und setzte sich. Er scherzte und plauderte ein wenig mit ihnen, gerade so viel, wie schicklich war, und nahm dann die Arbeit in Angriff. Niemand verstand es besser als Stepan Arkadjewitsch, jene Grenzlinie zwischen harmlosem, schlichtem Benehmen und dienstlicher Haltung zu finden, deren Innehaltung für eine angenehme Amtstätigkeit erforderlich ist. Freundlich und achtungsvoll, wie sich eben alle in Stepan Arkadjewitschs Amtsbereich benahmen, trat der Sekretär mit einigen Schriftstücken zu ihm heran und sagte in dem freien, ungezwungenen Tone, den Stepan Arkadjewitsch eingeführt hatte:

»Wir haben doch noch von dem Gouvernement Pensa die Nachrichten erhalten. Hier, ist es Ihnen vielleicht gefällig ...«

»Haben wir sie endlich bekommen?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch und schob einen Finger in das Aktenstück vor ihm an der Stelle, wo er es nachher aufschlagen wollte. »Nun, meine Herren ...« Und die Sitzung begann.

›Wenn die wüßten‹, dachte er, während er mit bedeutsamer Miene beim Anhören eines Berichtes den Kopf zur Seite neigte, ›welch ein zerknirschter Sünder noch vor einer halben Stunde ihr Vorsitzender gewesen ist!‹ Seine Augen lachten während der Verlesung des Berichtes. Bis zwei Uhr mußte nach der bestehenden Ordnung die Arbeit ohne Unterbrechung fortgeführt werden; um zwei Uhr kam dann eine Frühstückspause.

Es war noch nicht zwei Uhr, als die große Glastür des Sitzungssaales plötzlich geöffnet wurde und jemand hereinkam. Alle Beamten blickten, erfreut über eine kleine Ablenkung, zur Tür hin; aber der Türhüter, der dort seinen Posten hatte, wies den Eindringling sofort wieder hinaus und machte die Glastür hinter ihm wieder zu.

Als die Verlesung des gerade vorliegenden Schriftstückes beendet war, erhob sich Stepan Arkadjewitsch, reckte sich ein wenig, holte noch im Sitzungssaale, den fortschrittlichen Anschauungen der modernen Zeit Rechnung tragend, eine Zigarette hervor und machte sich auf nach seinem Arbeitszimmer. Zwei seiner Kollegen, der bejahrte, bereits in hohem Dienstalter stehende Nikitin und der Kammerjunker Grinjewitsch, gingen mit ihm zusammen hinaus.

»Nach dem Frühstück werden wir schon mit der Sache zu Ende kommen«, bemerkte Stepan Arkadjewitsch.

»Mit Leichtigkeit!« versetzte Nikitin.

»Aber ein gehöriger Gauner muß doch dieser Fomin sein«, meinte Grinjewitsch mit Bezug auf eine der Personen, die an der zur Untersuchung stehenden Sache beteiligt waren.

Stepan Arkadjewitsch runzelte bei Grinjewitschs Worten die Stirn, womit er zu verstehen gab, daß es unpassend sei, vorzeitig ein Urteil auszusprechen, und gab ihm keine Antwort.

»Wer kam denn da vorhin herein?« fragte er den Türhüter.

»Ich kenne ihn nicht, Euer Exzellenz. Er drang, ohne zu fragen, ein, als ich gerade einmal einen Augenblick den Rücken kehrte. Er fragte dann nach Ihnen. Ich habe ihm gesagt: wenn die Herren herauskommen, dann ...«

»Wo ist er denn?«

»Er muß wohl eben auf den Flur hinuntergegangen sein; bis vor kurzem ist er immer hier auf und ab gewandert. Da ist er«, sagte der Türhüter und wies auf einen kräftig gebauten, breitschulterigen, krausbärtigen Mann, der, ohne seine Schaffellmütze abzunehmen, schnell und behend die abgetretenen Stufen der Steintreppe heraufgelaufen kam. Ein hagerer Beamter, der mit den übrigen, seine Aktenmappe unter dem Arm, die Treppe hinunterstieg, blieb stehen, warf einen mißbilligenden Blick auf die Beine des Laufenden und blickte dann fragend Oblonski an.

Stepan Arkadjewitsch stand oben an der Treppe. Sein gutmütig glänzendes Gesicht über dem gestickten Uniformkragen strahlte plötzlich noch heller auf, als er den Heraufkommenden erkannte.

»Wahrhaftig! Ljewin! Endlich einmal!« rief er mit einem freundschaftlichen, ein wenig spöttischen Lächeln, während er den zu ihm tretenden Ljewin musterte. »Wie hast du es nur über dich gewinnen können, mich in dieser Räuberhöhle aufzusuchen?« fuhr Stepan Arkadjewitsch fort und begnügte sich nicht mit einem Händedruck, sondern küßte seinen Freund herzlich. »Bist du schon lange in Moskau?«

»Ich bin eben erst angekommen und wollte dich gern sprechen«, antwortete Ljewin und blickte dabei schüchtern und zugleich ärgerlich und unruhig um sich.

»Na, komm mit in mein Arbeitszimmer!« sagte Stepan Arkadjewitsch, der die empfindliche, leicht reizbare Schüchternheit seines Freundes kannte; er faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich, als ob er ihn durch drohende Gefahren hindurchgeleiten wollte.

Stepan Arkadjewitsch stand mit fast allen seinen Bekannten auf du und du: mit alten Männern von sechzig Jahren und mit jungen von zwanzig Jahren, mit Schauspielern, Ministern, Kaufleuten und Generaladjutanten, so daß sehr viele seiner Duzfreunde sich an den beiden entgegengesetzten Enden der gesellschaftlichen Stufenleiter befanden und sehr verwundert gewesen wären, zu erfahren, daß sie in Oblonski einen gemeinsamen Berührungspunkt hatten. Er duzte sich mit allen, mit denen er Champagner getrunken hatte, und Champagner trank er mit all und jedem. Traf er nun in Anwesenheit von Beamten, die ihm unterstellt waren, mit seinen ›kompromittierenden Duzfreunden‹, wie er im Scherze viele seiner Freunde nannte, zusammen, so verstand er es mit dem ihm eigenen Takte, den unangenehmen Eindruck abzuschwächen, den dies auf seine Untergebenen machen konnte. Ljewin gehörte nicht zu diesen kompromittierenden Duzfreunden; aber Oblonski merkte mit dem feinen Gefühl, das er für solche Dinge besaß, daß Ljewin glaubte, er, Oblonski, möge vor seinen Untergebenen nicht gern sein engeres Verhältnis zu ihm, Ljewin, bekunden; darum beeilte sich Oblonski, ihn in sein Arbeitszimmer zu führen.

Ljewin war beinah gleichen Alters mit Oblonski, und seine Duzfreundschaft mit ihm stammte nicht etwa nur vom Champagner her. Ljewin war schon in früher Jugend sein Kamerad und Freund gewesen. Sie mochten einander gern trotz der Verschiedenheit der Charaktere und Neigungen, wie eben Freunde einander gern haben, die sich in früher Jugend zusammengefunden haben. Aber trotzdem ging es auch bei ihnen, wie so oft bei Leuten, die sich für stark verschiedene Arten von Tätigkeit entschieden haben: obgleich ein jeder von ihnen der Tätigkeit des anderen bei genauerer Überlegung Gerechtigkeit widerfahren ließ, schätzte er sie doch im Grunde seiner Seele gering. Jedem schien das Leben, das er selbst führte, das einzig wahre Leben zu sein und das des Freundes nur eine Karikatur des Daseins. Oblonski konnte, sobald er Ljewin zu sehen bekam, ein leises, spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. Wer weiß wie oft hatte er ihn nun schon von seinem Gute, wo er sich irgendwelcher Tätigkeit hingab, nach Moskau kommen sehen; aber was er dort eigentlich tat, das hatte Stepan Arkadjewitsch nie so recht begreifen können, und es interessierte ihn auch nicht besonders. Wenn Ljewin nach Moskau kam, so war er immer stark aufgeregt, in großer Hast, ein wenig befangen und eben infolge dieser Befangenheit sehr reizbar, und meistens hatte er sich inzwischen irgendeine völlig neue, überraschende Anschauung über diesen oder jenen Gegenstand zu eigen gemacht. Stepan Arkadjewitsch lachte über das Wesen seines Freundes, hatte es aber doch gern. Ganz ebenso verachtete auch Ljewin im Grunde seiner Seele die städtische Lebensweise des anderen und seine dienstliche Tätigkeit, der er jeden Wert absprach, und machte sich darüber lustig. Aber ein Unterschied bestand darin, daß Oblonski, der so lebte wie alle anderen Menschen auch, wenn er über seinen Freund spottete, dies voll Selbstvertrauen und in gutmütiger Weise tat, Ljewin dagegen ohne rechtes Selbstvertrauen und mitunter in aufgebrachtem Tone.

»Wir haben dich schon lange erwartet«, sagte Stepan Arkadjewitsch beim Eintritt in sein Zimmer und ließ nun Ljewins Hand los, wie wenn er dadurch ausdrücken wollte, daß hier keine Gefahr mehr sei. »Ich bin sehr, sehr erfreut, dich wiederzusehen«, fuhr er fort. »Nun, was machst du? Wie geht es dir? Wann bist du angekommen?«

Ljewin schwieg und richtete seine Blicke auf die ihm unbekannten Gesichter der beiden Kollegen Oblonskis und namentlich auf die Hände des eleganten Grinjewitsch mit den langen, weißen Fingern, mit den langen, gelben, an den Spitzen gekrümmten Nägeln und den riesigen, blitzenden Manschettenknöpfen. Diese Hände nahmen augenscheinlich Ljewins ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und ließen ihn an nichts anderes mehr denken. Oblonski bemerkte das sofort und lächelte.

»Ach ja, gestatten Sie, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte er. »Meine Kollegen: Filipp Iwanowitsch Nikitin, Michail Stanislawitsch Grinjewitsch«, und auf Ljewin deutend: »Ein Koryphäe der ländlichen Selbstverwaltung, ein moderner Landwirt, ein Athlet, der mit einer Hand anderthalb Zentner hebt, Viehzüchter, Jäger und mein Freund, Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, ein Bruder von Sergei Iwanowitsch Kosnüschew.«

»Sehr angenehm«, sagte der alte Beamte.

»Ich habe die Ehre, Ihren Bruder Sergei Iwanowitsch zu kennen«, bemerkte Grinjewitsch und streckte ihm seine schmale Hand mit den langen Nägeln hin.

Ljewin zog ein finsteres Gesicht, reichte ihm kühl die Hand und wandte sich sofort Oblonski zu. Obgleich er seinen mit ihm von derselben Mutter stammenden Stiefbruder, einen in ganz Rußland bekannten Schriftsteller, sehr hoch schätzte, konnte er es doch nicht leiden, wenn man ihn im Verkehr nicht als Konstantin Ljewin, sondern als den Bruder des berühmten Kosnüschew behandelte.

»Nein, ich beteilige mich nicht mehr an der ländlichen Selbstverwaltung. Ich habe mich mit allen überworfen und fahre nicht mehr zu den Versammlungen«, sagte er, zu Oblonski gewendet.

»Das ist einmal flink gegangen!« erwiderte Oblonski lächelnd. »Aber warum? Wie ist das gekommen?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich will sie dir ein ander Mal erzählen«, antwortete Ljewin, begann aber mit der Erzählung doch sofort. »Nun, um es kurz zu machen, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es eine ersprießliche ländliche Selbstverwaltung nicht gibt und nicht geben kann«, fing er an, und zwar mit einer Heftigkeit, als hätte ihn soeben jemand beleidigt. »Erstens ist es eine Spielerei, man spielt Parlament; ich bin aber weder jung genug noch alt genug, um an Spielereien Vergnügen zu finden. Und zweitens« (er begann zu stottern) »ist das für die feinen Leute im Kreise ein Mittel, um Geld herauszuschlagen. Früher dienten dazu die Vormundschaftsämter und Landschaftsgerichte, jetzt jedoch die Kreisverwaltung. Sie bereichern sich zwar nicht durch Annahme von Bestechungsgeldern, wohl aber durch Bezug von Gehältern, für die sie nichts leisten.« Er brachte das alles so hitzig vor, wie wenn einer der Anwesenden seine Ansicht bestritte.

»Ei sieh einmal! Du befindest dich ja, merke ich, wieder auf einer neuen Entwicklungsstufe; du bist jetzt konservativ«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Je doch, darüber sprechen wir später einmal.«

»Ja, ja, später. Aber ich habe notwendig mit dir zu reden«, versetzte Ljewin mit einem haßerfüllten Blick auf Grinjewitschs Hände.

Stepan Arkadjewitsch lächelte kaum merklich.

»Hast du nicht vor kurzem gesagt, du wolltest nie mehr europäische Kleidung tragen?« fragte er, während er Ljewins neuen Anzug, offenbar das Werk eines französischen Schneiders, musterte. »Ja, ja, ich sehe schon, eine neue Entwicklungsstufe!«

Ljewin errötete plötzlich, aber nicht so, wie erwachsene Leute erröten, nur so ein wenig und ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, sondern so, wie Knaben erröten, die fühlen, daß sie durch ihre Befangenheit lächerlich erscheinen und die nun infolgedessen sich noch mehr schämen und noch mehr erröten, beinah bis zum Weinen. Der Anblick dieses klugen, männlichen Gesichtes in einem so kindlichen Zustande wirkte so befremdend, daß Oblonski die Augen davon wegwandte.

»Also, wo wollen wir denn zusammenkommen? Ich muß nämlich notwendig, ganz notwendig mit dir reden«, sagte Ljewin.

Oblonski überlegte einen Augenblick.

»Wir könnten es so machen: wir fahren jetzt gleich zu Gurin, frühstücken da und reden dabei miteinander. Bis drei Uhr bin ich frei.«

»Das geht nicht«, antwortete Ljewin nach kurzem Nachdenken. »Ich habe jetzt noch eine notwendige Besorgung.«

»Nun gut, dann wollen wir zusammen Mittag essen.«

»Mittag essen? Etwas Besonderes habe ich dir eigentlich nicht zu sagen; es sind nur ein paar Worte; ich wollte dich etwas fragen. Nachher können wir ja miteinander plaudern.«

»So sage doch die paar Worte jetzt gleich; dann können wir uns bei Tische vollständig einer gemütlichen Unterhaltung widmen.«

»Die paar Worte sind nämlich die«, sagte Ljewin. »Übrigens ist es weiter nichts Besonderes.«

Sein Gesicht nahm plötzlich einen ärgerlichen Ausdruck an, der durch die Anstrengung hervorgerufen wurde, mit der er seiner Verlegenheit Herr zu werden suchte.

»Was machen denn Schtscherbazkis? Alles beim alten?« fragte er.

Stepan Arkadjewitsch, der schon lange wußte, daß Ljewin in seine, Stepans, Schwägerin Kitty verliebt war, lächelte leise, und seine Augen blitzten lustig.

»Da hast du nun also deine paar Worte gesagt; ich kann dir aber nicht mit ein paar Worten antworten, weil ... Entschuldige einen Augenblick!«

Ein Sekretär kam herein. Mit einer Art von achtungsvoller Vertraulichkeit und einem gewissen, bei allen Sekretären zu findenden bescheidenen Bewußtsein der eigenen Überlegenheit über den Dienstherrn, was Geschäftskenntnis anlangt, trat er mit einigen Aktenstücken in der Hand an Oblonski heran und begann, unter der Form einer Frage, irgendeine Schwierigkeit auseinanderzusetzen. Stepan Arkadjewitsch hörte ihn nicht bis zu Ende an, sondern unterbrach ihn, indem er ihm freundlich die Hand auf den Rockärmel legte.

»Nein, machen Sie das doch nur so, wie ich gesagt habe«, versetzte er, wobei er den Tadel, der in dieser Bemerkung lag, durch ein Lächeln milderte. Dann erklärte er ihm kurz, wie er die Sache auffasse, und schob die Papiere mit den Worten zurück: »So also machen Sie es, bitte, so, Sachar Nikitisch.«

Verlegen entfernte sich der Sekretär. Ljewin, der während der Erörterung mit dem Sekretär seine Befangenheit vollständig überwunden hatte, stand mit beiden Händen auf eine Stuhllehne gestützt da, und auf seinem lächelnden Gesichte malte sich ein spöttisches Interesse.

»Mir unbegreiflich, mir unbegreiflich«, sagte er.

»Was ist dir denn unbegreiflich?« fragte Oblonski, gleichfalls heiter lächelnd, und holte eine Zigarette hervor. Er erwartete, daß Ljewin wieder einmal in besonderer Weise losbrechen werde.

»Es ist mir unbegreiflich, mit welchen Dingen ihr euch da abgebt«, erwiderte Ljewin achselzuckend. »Wie kannst du dergleichen nur ernsthaft betreiben!«

»Wieso?«

»Nun, weil es eigentlich doch eine Art Müßiggang ist.«

»Das denkst du so; aber wir sind mit Arbeit überhäuft.«

»Mit papierener Arbeit. Na ja, dafür hast du ja eine Begabung«, fügte Ljewin hinzu.

»Das heißt, du meinst, daß es mir anderweitig mangelt?«

»Kann schon sein«, versetzte Ljewin. »Aber trotzdem bewundere ich deine hervorragenden Eigenschaften und bin stolz darauf, einen so großen Mann zum Freunde zu haben. – Aber du hast mir auf meine Frage noch nicht geantwortet«, fügte er hinzu und blickte mit verzweifelter Anstrengung dem anderen gerade in die Augen.

»Na schön, schön! Warte nur, du kommst auch noch einmal auf unseren Standpunkt. Du bist ja gut dran mit deinen dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk und mit solchen Muskeln und mit solcher Lebensfrische wie ein zwölfjähriges Mädchen, – aber auch du wirst noch auf unsere Seite kommen. Ja, also was deine Frage betrifft: es hat sich da nichts geändert; aber schade, daß du so lange nicht hier gewesen bist.«

»Wieso?« fragte Ljewin erschrocken.

»Nun, es ist nichts Besonderes«, antwortete Oblonski. »Wir sprechen schon noch darüber. Aber zu welchem Zwecke bist du denn eigentlich hergekommen?«

»Ach, darüber können wir ja auch später noch sprechen«, erwiderte Ljewin und wurde wieder rot bis über die Ohren.

»Na schön, gewiß«, versetzte Stepan Arkadjewitsch. »Siehst du, ich würde dich gern zu mir einladen; aber meine Frau ist nicht recht wohl. Aber weißt du was? Wenn du die Schtscherbazkischen Damen sehen willst, die sind heute höchstwahrscheinlich von vier bis fünf im Zoologischen Garten. Kitty läuft da Schlittschuh. Fahre da hin; ich hole dich nachher ab, und wir essen dann zusammen irgendwo zu Mittag.«

»Ausgezeichnet! Also auf Wiedersehen!«

»Aber denk auch daran! Daß du es ja nicht etwa vergißt oder wohl gar plötzlich aufs Land zurückfährst! Ich kenne dich!« rief Stepan Arkadjewitsch lachend.

»Nein, nein, du kannst dich auf mich verlassen.«

Erst als er an der Tür war, fiel es Ljewin ein, daß er ja vergessen hatte, sich von Oblonskis Kollegen zu verabschieden; hastig holte er das Versäumte nach und verließ das Zimmer.

»Wohl ein sehr energischer Herr?« bemerkte Grinjewitsch, als Ljewin hinausgegangen war.

»Ja, liebster Freund«, antwortete Stepan Arkadjewitsch, den Kopf hin und her wiegend, »das ist ein Glückskind! Dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasinsk, das ganze Leben noch vor sich, und was für eine Frische! Nicht so wie unsereiner!«

»Sie wollen sich beklagen, Stepan Arkadjewitsch, Sie?«

»Ja, scheußlich geht es einem, gar zu schlimm!« antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer.

Anna Karenina | Krieg und Frieden

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