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Der Narzisst

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Der Mann mit den Ei-Resten im Vollbart und den durchlöcherten Frotteesocken schlug den Fisch immer wieder auf das Küchenregal. Die Schuppen flogen wild durch den Raum. Die pensionierte Krankenschwester war besorgt – um ihre Einrichtung, um die Tassen, um den Fisch…

Sid ging immer nach dem gleichen Schema vor. Er projizierte auf gut Glück Worte auf den Bildschirm und kostete ihren Geschmack. Was blieb ihm auch anderes übrig? Wie der Jäger - mehr oder weniger geübt - den Schrei des Hirsches oder Entengequake imitiert, um die Tiere zum größten Fehler ihres Lebens zu animieren, so köderte er Wörter. Hier eine Wortschlinge ausgelegt, dort eine Silbengrube gebuddelt und dann: Lauschen und abwarten. Ähnlich dem Sonar eines Schatzsuchers tastete er den manchmal schlammigen, manchmal sandigen oder auch schon mal steinigen Grund seiner Persönlichkeit und seiner Welt ab, in der Hoffnung auf ein Muster, eine Resonanz, die vom Boden zurückgeworfen wird und irgendwie ein erkennbares Bild ergibt.

Er griff zur Maus und wollte die Sätze schon löschen, unterließ es aber. Wer weiß, dachte er, wozu man die Szene noch brauchen konnte. Er streckte sich und freute sich über seine Weisheit. Ja, alles hat oder bekommt einen Sinn, wenn die Zeit reif dafür ist, keine Frage. Aber warum musste das jetzt ein Mann sein?

Der mit dem Fisch rumfuchtelte.

Nun gut, man würde sehen.

Der Narzissmus – so wie auch die Persönlichkeitsstörung von Sid - entwickelt sich aufgrund mangelnder Zuwendung durch die Eltern während der Kindheit, gepaart mit einem zu hohen Leistungsanspruch von Vater und Mutter. So wird einerseits das Selbstwertgefühl nie richtig entwickelt, andererseits entsteht – paradoxerweise - als Kompensation dieses Mangels ein mächtiges, mit allen Mitteln der Kunst konstruiertes Selbstbewusstsein.

Der Narzisst verbringt sein weiteres Leben wie ein Ballonfahrer. Ein klitzekleines Selbstwertgefühl, kaum sichtbar, hängt an einer aufgeblasenen, erfundenen Persönlichkeit, ohne Boden unter den Füßen, getrieben vom Wind, woher der auch immer weht. Die Übersicht über die Dinge da unten ist gut, da gibt’s nichts zu bekritteln, wenn da nicht gleichzeitig diese störende Distanz zur Welt wäre.

Der Narzisst wird meist auch wenig oder gar nicht von der Mutter gestillt, ihm fehlt also das nötige Sprungbrett, um rechtzeitig zu lernen, Nähe und soziale Kontakte herzustellen. Er nuckelt in der Folge an sich selbst rum.

So auch Sid. Seine ersten Erinnerungen sind die eines einsamen Jungen, der sinnierend auf seinem Kletterbaum sitzt und an seinem Arm nuckelt. Klar hatte er damals keine Ahnung, was in ihm vorging.

Dazu war er zu jung.

Doch die Weichen waren gestellt.

Wer im Zuge seiner weiteren persönlichen Entwicklung soziale Kontakte meidet und infolgedessen lange Zeit den Einflüsterungen durch die Gemeinschaft entgeht, muss sich ein eigenes Bild der Welt entwerfen. Sid, der jetzt fünfzig ist, hatte dazu, an seinem Ballon hängend, viel Zeit. Die Welt steht für ihn auf dem Kopf. Menschen sind für ihn nicht die Spitze der Evolution. Seine Sicht der Dinge stößt andere vor den Kopf und macht ihn zum schrägen Vogel. Doch wie dem kosmischen Narr, der nichts mehr ernst nehmen kann oder will, erwachsen auch Sid als intelligentem Neurotiker gerade durch seine autodidaktisch erworbene Einsamkeit besondere Fähigkeiten.

Der Verbrecher bedrohte die geschockte Frau - ihres Zeichens Krankenschwester im nahegelegenen orthopädischen Krankenhaus - nun ganz direkt und unverhohlen mit dem Fisch.

»Ich habe Sie gewarnt. Aber sie wollten ja partout nicht auf mich hören. Jetzt müssen sie die Suppe auch auslöffeln.« Er holte aus und schlug der Frau den Fisch kräftig auf die Schultern. Ins Gesicht wollte er sie nicht schlagen - seine gute Erziehung hätte dies nie zugelassen. Die Krankenschwester wusste nicht, was sie am meisten abstieß: Der Vollbart mit den Eiresten, der nackte, weiße, schwabbelige Körper des Angreifers oder seine weißen, durchgewetzten Frotteesocken.

Sid war mit dem Absatz noch nicht ganz zufrieden. Er würde ihn später überarbeiten müssen. Sein Blick fiel auf das Buch, das er gestern gekauft hatte. Was wollte ihm der Autor sagen? Wie war das eigentlich mit diesen glücklichen Schriftstellern? Jedes Mal, wenn Sid ein Buch kaufte, las er mit dumpfem Gefühl, als hätte ihm jemand das Hirn amputiert, die Danksagung des Autors:

»…ich danke ganz besonders meiner wunderbaren, geliebten Frau, ohne die dieses Werk nie zustande gekommen wäre. Mit Geduld, Aufopferungsbereitschaft und einem Herz voller Liebe stand sie stets an meiner Seite, wenn es mal mit dem Schreiben nicht so recht weiterging. Ohne den Rückhalt meiner Familie wäre ich nicht der, der ich heute bin. Ich danke auch ganz besonders Lilly, Mandy und George, meinen Kindern, die mich stets vorbehaltlos unterstützten. Ich liebe Euch!

WTF? War es nicht bekannt, nein, bewiesen, dass man als Schriftsteller ausgiebig leiden musste, bevor man in die Ruhmeshalle der Vielzitierten gelangte? War nicht seit eh und je der Grad des Leidens in direktem und der des Mitgefühls durch eine unterstützende, rücksichtsvoll-ruhig durchs Haus schleichende, schultermassierende Frau in reziprokem Verhältnis zum literarischen Erfolg zu sehen?

Nein, die Zeiten waren vorbei.

Heute durften die ausgeglichensten Menschen mit völlig intaktem sozialem Umfeld und schöner, liebender, ebenfalls in keiner Weise von Selbstzweifeln zerfressener Frau und strafrechtlich gesehen unauffälligen Kindern auf schamlose Art und Weise ihre Druckwerke in Umlauf bringen.

Wo sollte das alles nur hinführen?

Das Mädchen mit dem Fisch

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