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Stillleben mit Früchten, Brot, Käse und USB-Stick

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Er entschied sich, noch ein wenig zu arbeiten und holte die Liste aus seiner Jackentasche. Wenn er flott war, sollte das heutige Arbeitspensum in zwei Stunden erledigt sein. Er kontrollierte ohnehin nur die Bewohner seines Bezirkes und so musste er nicht viel in der Gegend herumfahren. Die nächste Adresse war zwei Blocks weiter und Sid schloss die übliche Wette mit sich selbst ab, welches Argument er heute wohl als erstes hören würde. Würde es heißen: »Ich bin grad nicht angezogen«, »Sie dürfen bei mir ohne Durchsuchungsbefehl gar nicht rein« oder eher: »Ich hab gar keinen Fernseher«.

Er würde sehen. Aber wie auch immer, er musste, als waschechter Stadtneurotiker, seine Wette machen, bevor er das erste Haus betrat. Er tippte auf: »Ich bin grad nicht angezogen.«

Er begann immer ganz oben und läutete deshalb im dritten Stock des Altbaus bei der hintersten Tür. Der Gang roch nach Knoblauch, vollen Aschenbechern und Waschpulver. Keiner da. Oder man machte nicht auf. Das konnte man nie wissen. Er notierte es auf der Liste. Er würde später noch einmal kommen müssen. Nächste Tür. Nachdem er geklingelt hatte, zog jemand im Inneren der Wohnung den Vorhang hinter der verglasten Eingangstür zur Seite.

»Grüß Gott, Gebührenstelle des öffentlich rechtlichen Rundfunks.« Sid nannte seinen Namen.

»Ich wollte fragen, ob Sie über Fernseher, Radio oder Internetanschluss verfügen.«

»Nix wissen!«

Die Antwort war kurz ausgefallen und anders, als Sid gewettet hatte. Der Vorhang wurde wieder zugezogen. Er klopfte an die Scheibe: »Da Sie keine Rundfunkgebühr zahlen, muss ich Sie fragen, ob Sie Empfänger in ihrer Wohnung haben.« Da sich nichts mehr im Inneren regte, machte er einen Kreis mit einem Schrägstrich in seine Liste und ging zur nächsten Tür.

Er klingelte. Er hörte das typische, augeregte Kratzen von Hundepfoten auf Melaminharzboden. Die Tür ging auf, es wurde jedoch nicht heller im Gang, sondern dunkler. Das widersprach Sids Erfahrungen in jeder Hinsicht. Jetzt stand ein schwarz gekleideter Mann Mitte Vierzig vor ihm. Seine langen schwarzen Haare reichten ihm bis über die Schultern und kamen auf einem schwarzen Black-Sabath-T-Shirt zu liegen. Die schwarze Lederhose und die schwarzen Hausschuhe passten zu dem großen schwarzen Collie und den drei schwarzen Katzen, die ihre Köpfe nun an Sids Beinen rieben. Nirgends wurde Licht vom Gang reflektiert, außer auf dem großen silbernen Kreuz auf der Brust des Mannes. Die Wände der Wohnung waren schwarz gestrichen, so wie die Decke und die Böden. Aus den Kopfhörern des Mieters erklang Motörhead und der Bass von Lemmy Kilmister erzählte auf unschöne Art eine schöne Geschichte, oder: auf schöne Art eine unschöne Geschichte. Das war reine Geschmackssache. Sid fragte, ob er kurz reinkommen dürfe.

»Kommen Sie.« Der Mann in Schwarz machte eine einladende Geste und nichts deutete darauf hin, dass hier im Moment eine schwarze Messe abgehalten wurde. Weder hatte der Mann Blut an seinen Händen noch blökten oder quiekten verblutende Tiere im Hintergrund. Es waren auch keine Kerzen am Boden in Form eines Pentagramms aufgestellt. Die Tiere des Mannes verhielten sich auf freundliche Weise normal und taten, was Haustiere am besten können: Den fremden Besucher beschnuppern und zu vergleichen, ob ihnen der Geruch geläufig war.

Es war nicht so, dass Sid nicht schon Wohnungen gesehen hätte, deren Bewohner und Ausstattung, hätte man sie beschreiben müssen, merkwürdig bis grotesk genannt werden mussten, doch diese Behausung stellte ihn auf eine echte Probe. Es gab nur schwarze Gegenstände, sah man einmal von den vielen hundert Rücken der VHS-Kassetten ab, die in den Regalen im Vorzimmer in Reih und Glied standen. Sogar die Lampenschirme waren schwarz. Sid verlor die Haustiere aus den Augen, da diese sich auf ihre angestammten Lieblingsplätze zurückgezogen hatten und sich somit nicht mehr vom dunklen Hintergrund abhoben.

»Setzen Sie sich doch bitte. Darf ich Ihnen was anbieten?« Der Mann war außergewöhnlich nett – sonst wollten die Leute den Besucher von der Gebührenstelle möglichst schnell wieder loswerden.

»Äh, nein, danke. Darf ich mich nur kurz vergewissern, dass in den Räumlichkeiten kein Rundfunkempfänger aufgestellt ist?«

»Bitte.« Der Gothik-Mann führte Sid durch das schwarze Schlafzimmer und die schwarze Küche. Nirgends war eine Fernsehantenne oder ein Radio zu sehen. Im Wohnzimmer wies ihn der Mann darauf hin, dass er sich nur Videos ansah, aber kein TV-Benutzer sei.

»Sie sammeln wohl Videos?« Sid stellte sich vor eines der Regale im Vorzimmer.

»Ja, aber nur unzensierte Horrorfilme. Die sehen Sie nie im Kino. Echt die harten Sachen, verstehen Sie?«

»Oh.«

»Kommen Sie, ich zeig Ihnen was.« Er führte Sid noch mal ins Schlafzimmer und zeigte mit silbern beringten Fingern auf den riesigen Plasmabildschirm am Fußende des Betts.

»Was glauben Sie, was ich mit meiner Freundin rumstreite in letzter Zeit. Dabei steh ich einfach drauf, mir vor dem Einschlafen einen besonders harten Freddy Krüger reinzuziehen.« Er schüttelte mit rollenden Augäpfeln verständnislos den Kopf – wie jemand, der dafür gescholten wurde, dass er im Weg rumsteht, obwohl er nur einer alten Dame den umgekippten Rollator wieder aufgestellt hatte.

»Tja, ich denke, ich sollte dann mal weiter…« Sid drängte sich an dem Mann vorbei und ging zur Tür. Die vier Haustiere warteten schon, um noch mal zu schnüffeln.

»Also dann. Bitte melden Sie sich, falls Sie sich doch einen Empfänger zulegen sollten.«

»Mach ich. Mach ich.« Der Mann schob sich die Ohrhörer in die Gehörgänge zurück und schloss die Tür. Sid machte einen Kreis neben den Namen des Mieters.

Sonst ließ ihn heute keiner in die Wohnung rein, was gut und gleichzeitig schlecht war. Einerseits brauchte er Ergebnisse und andererseits hatte er so einen Grund, nochmals – sagen wir mal in einem Monat – kommen zu müssen und das hieß, dass man ihn und seine Arbeitskraft brauchte. Für einen Narzissten keine Kleinigkeit – es gab für die Inhaber dieser Persönlichkeitsstörung nichts Schöneres, als gebraucht zu werden.

Er war früher fertig als erwartet und beschloss, bei Ben vorbeizusehen. Der hatte sein Atelier um die Ecke, war immer zuhause und nie so schwer beschäftigt, dass er keine Zeit für Sid gehabt hätte. Sid liebte arbeitsscheue Menschen, die viel zuhause waren und sich gerne Zeit für ihn nahmen.

Ben zeigte ihm sein neuestes Werk. Das Stillleben mit Früchten, Brot und Käse, im Original von Floris van Dyck 1613 gemalt, fand sich nun, nach Ölfarbe und Lösungsmitteln duftend, in absolut verwirrender Detailtreue und um einen USB-Stick bereichert, auf Bens Staffelei wieder, umbenannt auf: Stillleben mit Früchten, Brot, Käse und USB-Stick.

Sid ging bis auf Nasenlänge an das Bild heran. Ben war ein Meister, oder vielleicht auch eine Art Inselbegabung, keine Frage, eines von beiden auf jeden Fall. Neben der Staffelei stand eine ausgedruckte Kopie des Originalgemäldes. Der frühbarocke Floris van Dyck war zwar nur durch ein relativ kleines Œuvre bekannt, seine Werke hießen: Stillleben mit Käse, Stillleben mit Früchten, Brot und Käse, Stillleben mit Käse, Früchten und Trinkgefäßen, Stillleben mit altem Käse, Früchten und Nüssen auf einer Tischdecke mit Spitze, Stillleben mit Käse, Brot und Früchten auf einem gedeckten Tisch, Stillleben mit Früchten, Käse, Brot und Wein und Stillleben mit Käse und Früchten.

Unglaublich, wie täuschend echt die Kopie des Gemäldes gelungen war. Das herbstliche Mahl mit Käselaib, Brot und Trauben, auf einer Spitzendecke ausgelegt, die wie versehentlich von der Tischkante hängende Apfelschale, die Walnüsse und Edelkastanien als gesunde Dekoration und, unmittelbar hinter der Tischkante die frühbarocke Dunkelheit, sprich Schwarzheit. Wen interessiert es schon, was hinterm Tisch los ist? Ihr wollt Stillleben, dann kriegt ihr Stillleben und kein bisschen mehr, das scheinen sich die Maler dieser Epoche gedacht zu haben und malten den Hintergrund einfach schwarz an.

Nun kam auf Bens Version des Ganzen das erfrischende, das Auge provozierende, kleine Detail hinzu. Vor der Apfelschale, in der Mitte des Gemäldes, lag ein USB-Stick. Unaufdringlich, fast unscheinbar und doch so fehl am Platz, dass dies nur als Hinweis auf die Exklusivität und, vor allem, den Preis des Werks zu verstehen sein konnte.

»Du hast Dich selbst übertroffen. Das ist alles, was mir dazu einfällt.«

»Danke, bin auch ganz zufrieden. Grade fertig gestellt.« Ben sortierte seine Marderhaar-Pinsel und schenkte dann zwei Gläser Cabernet ein.

»Was glaubst Du, was da rausspringt?«

»Keine Ahnung. Weißt ja, ich versteigere meine Werke.«

»Du Glücklicher. Davon kann ich als Schriftsteller nur träumen.«

Ben nahm das Bild von der Staffelei und dahinter kam ein weiteres zum Vorschein. Auch Frühbarock. Eine Fischhandlung mit Mädchen.

»Das ist Frans Snyders´ Fischladen.« Fällt gar nicht auf, das Detail, oder?

Sid graste das Bild mit den Augen ab. Ein Tisch. Ganze Fische. Fischsteaks. Schalentiere aller Art. Das Bild wirkte überladen. Auch hier geschwärzter Hintergrund, das sitzende Mädchen hinter dem Tisch wirkt abgelenkt, wie sie mit den Händen einen unidentifizierbaren Fisch abtatscht, und erst jetzt entdeckte Sid den High-Tech-Autoschlüssel von Renault, der vor einem einzelnen Flusskrebs lag und auf diesen zielte, als wollte er dem Krustentier die Motorhaube öffnen.

»Wahnsinn, passt echt gut rein, der Funkschlüssel.«

Ben war kein Narzisst und konnte sich deshalb auch eine gehörige Portion Selbstwertgefühl leisten:

»Da kannst Du aber einen drauf lassen, dass der da reinpasst.«

»Und das geht? Die mögen das? Kaufen das?«

»Reißen ´s mir quasi aus den Händen. Übertreiben darf man halt nicht. Die Zeiten von Warhol sind vorbei. Das Letzte Abendmahl mit Dildo wollte keiner. Elektronikteile auf Frühbarock-Gemälden gehen besser.«

Sid studierte das Mädchen. Sie sah ihn nicht an und schien mehr in einen inneren Dialog verwickelt zu sein als in die Auseinandersetzung mit dem Kind neben ihr. Der Fisch in ihrer Hand wirkte wie die natürliche Verlängerung ihres Arms, wie ein Instrument.

Das Kind zu ihrer Rechten störte. Wie einen Gag-Schulrucksack hatte es ein riesiges Krustentier am Rücken. WTF sollte das bedeuten? Sid deckte das überflüssige Kind mit der Hand ab und sah wieder das Mädchen an. In Gedanken ersetzte er das Kind durch eine andere Person. Mario Carponi. Er musste lachen. Warum in aller Welt Carponi? Aber da war schon alles klar. Er kippte in einem Zug den Cabernet runter.

»So, ich muss sofort gehen. Hab zu arbeiten.«

»So plötzlich? Kommst du zur Vernissage?«

»Klar, mit Sashimi.«

Das Mädchen mit dem Fisch

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