Читать книгу Das Mädchen mit dem Fisch - Leon Skip - Страница 5
Sashimi
ОглавлениеSid zog das Kabel aus der Kabeltrommel des Staubsaugers. Narzisst gut und schön, aber Messie war er nun wirklich keiner. Staubbüschel, die beim Öffnen einer Tür durch die Wohnung wirbelten, waren nicht sein Ding. Er steckte das Ding ein und begann zu saugen. Gerade beim Putzen wurde er oft an seine Neurose erinnert. Mit beiden Füßen genau auf der Mitte des Läufers im Vorzimmer, setzte er die Saugbürste auf, genau darauf achtend, dass der Läufer sich nicht durch das Saugen und die Bewegung verschob.
Das war etwas, das er nicht mochte.
Aber es war eines der kleineren Übel, die ihn plagten.
Das Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Es war Nachmittag und dies zum Glück der erste Anruf an diesem Tag. Anrufe machten Sid generell nervös. Er liebte Textnachrichten, sprach aber nicht besonders gerne am Telefon. Da war immer die Vorstellung, dass über das Telefon mehr als nur die Stimme übertragen wurde. Beim Telefonieren fühlte er sich irgendwie nackt, obwohl er wusste, dass ihn keiner sehen konnte. Schließlich war er kein Idiot. Aber empfahl man nicht auch Personen, die in Heimarbeit Versicherungen verkauften, sich so zu kleiden, wie wenn sie den Kunden persönlich besuchen würden? Wurde nicht von Marketingexperten eindringlich empfohlen, dass man nicht nackt oder mit Gurkenmaske im Gesicht per Telefon völlig fremde Menschen als Kunden für DAS neue, revolutionäre Guarana-Extrakt keilen sollte?
Am Display stand Sashimi. Die einzige, die ihn wirklich kannte und, soweit er sich erinnern konnte, noch nie genervt hatte, also stellt er den Staubsauger ab und ging ran.
»He Süße, wie geht’s? Lange nichts gehört.«
»Stimmt. Ist eine Ewigkeit her, seit wir uns gestern gesehen haben.«
»Ja, da kann schon einiges passieren, an so einem langen Tag.«
»Ich wollt dich eigentlich nur was fragen.«
Sid fläzte sich aufs Sofa. Man kennt das ja, wenn man mit ausgestreckten Beinen den Blick durch den Raum schweifen lässt, stolz darauf, wieder einmal einen kleinen Sieg gegen Lurch, Krümel und abgestorbene Hautzellen errungen zu haben, auch wenn man den Krieg gegen den Dreck nie gewinnen würde. Ordentlich war Sids Wohnung zwar noch nicht, aber guten Willen hatte er allemal bewiesen. Das war für ihn schon ein Anfang.
»Ich hab mir grad einen Horrorfilm angesehen.«
»Mitten am frühen Nachmittag?«
»Ja, wieso nicht?«
Sie schwieg. Ihr Schweigen sollte wohl heißen: Wieso sollte ich mir nicht nachmittags einen Horrorfilm ansehen? Und irgendwie war ihr Schweigen berechtigt: Wer sagte denn, dass es nachmittags verboten ist, sich zu gruseln? Noch dazu für jemanden, der nachts arbeitete. Noch dazu in einer durch und durch gruseligen Existenz.
Dann fuhr sie fort:
»Also, ich denk mir, die sind da noch nicht auf den grünen Zweig gekommen mit dem Horror.«
»Was meinst?«
»Denk mal nach! Maritimer Horror mit Riesenkraken, Piranhas, weißen Haien und so. Ist uns geläufig. Aus der Luft kennen wir Attacken von Viren, Mördervögeln, Heuschrecken und Killerbienen. Und Spinnen, Ameisen, menschenfressende Riesenwürmer. Schlangen, die aus Containern in Flugzeugen entweichen, um die Passagiere zu quälen, alles schon da, aber das war ´s doch noch lange nicht.«
»Okay!?«
»Ja, ich meine, wenn schon Horror, dann doch so richtig. Aber das dürfen die wahrscheinlich gar nicht. Dass jeder normale neurotische Mensch Angst kriegt, sobald er bis zur Hüfte im Wasser steht, ist nach drei Folgen Weißer Hai scheinbar tolerierbar, aber stell dir mal vor, wenn die richtig zur Sache gehen würden. Ich denk da etwa an Horror im Haushalt. Hör zu! Wie wär ´s mit Toilette des Grauens?
Erste Szene: Die ahnungslose Hausfrau geht im Morgenrock aufs Klo, während ihre Kinder beim Frühstück sitzen und ums Müsli streiten. Auch ein Hund ist dabei. Ein Labrador-Mischling. Im Hintergrund die offene Küchentür. Der Blick erschließt einen Garten mit Kinderspielzeug und vielleicht hört man einen Benzinrasenmäher. Nein, besser einen Elektro-Rasenmäher, da hört man noch das Vogelgezwitscher.
Keiner denkt sich was, alles ganz normal. Dann hört man fetzende, spritzende Geräusche und einen kurzen erstickten Schrei aus dem Abort. Die Kinder stürzen hin und rütteln vergeblich an der Tür, während unten ein rotes Rinnsal raus läuft. Dann kommen Titelmelodie und Filmvorspann und alle im Kino wissen, dass sie ab heute nie wieder entspannt aufs Klo gehen können. Wäre das nicht viel gruseliger, wirkungsvoller als bei bekannten Horrorgenres…?«
Sid sagte nichts und wechselte das heißgelaufene Telefon vom rechten zum linken Ohr.
» … da könnte man doch eine richtige Massenpsychose auslösen. Oder wie wär´s mit flammenwerfenden Föhns. Wieso kommt da eigentlich niemand drauf?«
»Hat was, kann ich nicht bestreiten…«
Sid fand es nicht okay, dass er ausgerechnet jetzt an Sashimis Schwanz dachte. Sashimi wollte sich unterhalten und da sollte er schon bei der Sache bleiben. Er war aber doch gleichzeitig zufrieden, sein Fehlverhalten aus einem kritischen Blickwinkel gesehen zu haben. Immerhin ein Anfang.
Sid war nicht schwul. Zumindest nicht, wenn man die Parameter behaarte Beine, tiefe Stimme, Fußballkucken und Bierrülpser ins Spiel brachte. Eine attraktive Frau mit was zwischen den Beinen war da schon was anderes. Schwanzblasen war eigentlich nicht sein Ding und Analsex musste auch nicht immer sein. Aber Sashimi war die einzige Person auf diesem Planeten, die alles, wirklich alles von ihm wusste und sie war das offenste Wesen, dem er je begegnet war. Und für ihn kam sowieso nur experimenteller Sex in Frage - darin war sie Spezialistin.
Er fuhr fort: » …aber da stoßen die eben an Tabus, das ist es wahrscheinlich. Klos, die Hausfrauen zerfetzen? Da denkt doch jeder an Anal. Es ist zu intim. Denk doch bloß dran, dass in achtundzwanzig amerikanischen Bundesstaaten sogar Oralsex verboten ist. Da ist nicht daran zu denken, im Film unschuldige Bürger beim Verrichten ihrer Notdurft von einer Killer-Toilette metzeln zu lassen.
Stell dir vor: In Cleveland dürfen Frauen keine Lackschuhe zum Rock tragen, weil Männer in deren Spiegelung ihr Höschen sehen könnten. In Nebraska sind Ehepaare gesetzlich dazu verpflichtet, beim Sex Nachthemden zu tragen. In Wyoming ist Sex in Kühlhäusern verboten. In Connecticut dürfen Kondome offiziell nicht verkauft werden. In Indiana ist es Frauen verboten, Kondome zu kaufen. Und in Irland, da gibt’s die gar nicht, die Kondome.«
»Hast Lust auf Skype?«
Sashimis Stimme hatte jetzt das gewisse Etwas, das kannte Sid schon. Er griff sich das Laptop und eine Minute später grinste sie ihm entgegen.
»Wo bist du eigentlich gerade?«
»In Tschechien.«
Sie stand vor einem Spiegel und bürstete sich das Haar. Es fiel bis über ihre Schulterblätter, war fransig geschnitten und … blau.
»He he hee, das sieht ja gut aus.«
»Nennt sich Atlantic Blue. Gefällt´s dir? Hab ich mir gestern machen lassen.«
»Bist echt für Überraschungen gut. Was heißt hier gefallen?«
Die Webcam zeigte sie von den Knien aufwärts bis zum Scheitel. Sid nahm sie unter die Lupe, während sie an ihrem anthrazitfarbenen Catsuit rumzupfte. Als ob der nicht perfekt sitzen würde. Aber so war sie eben nun mal. Ihr Busen, ihre Brustwarzen und auch sonst fast jedes Detail waren durch den dünnen Stoff klar zu erkennen. Sid fragte sich, wann er zum letzten Mal in Tschechien gewesen war.
»Na, vermisst du mich?« Sashimi fuhr mit einem blauen Fingernagel über ihr bestes Stück und rückte ein Stück näher an die Kamera. Sie beugte sich vor, drückte ihren Busen und streckte ihm die Zunge raus. Sid griff zur Wasserflasche und nahm einen Schluck, um seine Zunge vom Gaumen zu lösen. Sie wusste, dass sie ihn nicht verführen konnte, zumindest nicht, ohne ihm vorher irgendeine Substanz zuzuführen, die Amphetamine oder THC enthielt. Und Amphetamine nahm Sid nur äußert selten.
»Blöde Frage: Wann kommst du wieder?«
»Übermorgen. Hab hier noch zwei Kunden.«
»Und? Klingelt die Kasse?«
»Kann nicht klagen. Ein Araber und ein Japaner. Die zahlen gut, wollen aber ziemlich schräge Sachen. Na ja, ist nicht richtig ausgedrückt. Die sind eigentlich stinknormal, verglichen mit dir.«
Sie klimperte mit ihren Wimpern und die blauen Augen kamen im Sekundentakt zum Vorschein wie Falschfarbenaufnahmen der Galaxie NGC 1232. Ihr bestes Pseudo-Verliebt-Lächeln mit kirschroten Lippen rundete das Ganze ab.
»Ich hoffe, du besorgst es dir nicht zu oft selbst, du Armer.«
»Äh, nein. Nein nein nein ... Du weißt doch, dass ich sexuellen Dingen gegenüber sehr verschlossen bin. Außerdem bin ich gerade in einer Output-Phase.
»Noch immer der Mörder mit dem Fisch?«
»Ja, ist aber eigentlich kein Mörder. Er erschreckt nur Hausfrauen und dabei stirbt halt manchmal eine an Herzversagen.«
»Du hast einfach die besten Geschichten auf Lager.«
»Sag das mal den Verlagen. Ich glaub, ich werde das alles noch mal überarbeiten. Bin mir noch nicht sicher, ob die Geschichte so stehenbleiben wird.«
»Wird schon. Wirst sehen.«
»Ich denk oft an Dich. Hätte ich genug Geld, würde ich Dich täglich buchen. Als Muse. Aber das wäre dir wahrscheinlich ohnehin zu langweilig. Da müsstest du den ganzen Tag lang bei mir abhängen und ich würde dich ab und zu ansehen, um nicht am Leid der Welt zu ersticken. Naja, nimm´s einfach als Kompliment.«
»Ja, mach ich. Bis dann.« Sie zwitscherte ihr Lachen und stülpte die Lippen vor, um auf die Kamera zu hauchen.
Dann war das Bild weg.
Beziehungen waren für Sid genauso bereichernd, hilfreich, heilsam und auch vernünftig im ökonomischen Sinn als auch lächerlich und nervig in ihrem Bemühen, über die primitiven Tatsachen des Lebens und die Illusion der ruppigen Existenz hinwegzusehen und das hieß für ihn, dass er nie ganz bei der Sache war. Menschen – also auch Frauen - wollten aber ganz oder gar nicht geliebt werden - wer konnte es ihnen verübeln? Da musste man schon dann und wann fünfe grade sein lassen, um im Spiel zu bleiben.
Dieses Ganz-oder-gar-nicht war Sids Verhängnis. Er hätte so manches Mal im Leben gerne gesagt: Ich liebe Dich, echt, obwohl Du mich auch irgendwie nervst! Das wäre jedoch der Liebe abträglich gewesen und der Tod jeder Romantik wäre vorprogrammiert. Lass dich einmal ablenken vom Fokus auf die Sinnhaftigkeit, lass die Zügel im falschen Moment schleifen und du bist raus. Auf der Autobahn lässt man auch nicht mir nichts dir nichts das Lenkrad aus. Auch wenn man ganz genau weiß, dass man eine ignorante Drecksau ist, die in der stinkenden Dreckskarre die Umwelt verpestet und den Weg in eine annehmbare Zukunft verbarrikadiert.
Ähnlich im Bett: Assoziierst du im falschen Augenblick, und sei es auch nur für einen Sekundenbruchteil, eine böswillige Hexe mit runzligen, behaarten Warzen auf den Wangen, Mundgeruch und schlechten Intentionen oder einen versoffenen Penner mit fettigem Haar, Schuppen und Ausschlag an den Mundwinkeln mit deinem Gegenüber, so kann ES, dein Gegenüber, das merken und dich unerwartet zur Rede stellen oder es wird sich zumindest eine spontane erektile Dysfunktion einstellen.
Also alles der Reihe nach:
Man schlage seinen Kopf aus Sicherheitsgründen erst dann Dutzende Male als völlig berechtigte Kenntnisnahme seiner Ignoranz gegenüber der Umwelt aufs Lenkrad, nachdem man den Wagen zum Stillstand gebracht hat.
Man assoziiere die abstoßende Hexe oder den versoffenen Penner erst dann mit seiner Frau oder seinem Mann, nachdem man Sex hatte.
Eins nach dem anderen.
Das verlangt das Leben von einem. Das ist der Deal.
Wem es nicht gefällt, bitte: Spring von der Brücke! Tritt dem örtlichen Bingo-Verein bei! Organisiere Kinder-Trachtenbälle!
Das hast du dann davon.