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Zur Einführung: Wie das Herz wieder zu seinem Recht kommt

Natürlich sind wir angesichts der weltweiten ökologischen Krise auf technische Lösungen angewiesen, denn nur mit ihrer Hilfe können wir verhindern, dass die globale Erwärmung 2 Grad Celsius übersteigt – was für die gesamte Biosphäre eine Katastrophe wäre. Wenn sich der Mensch völlig unverantwortlich verhielte, nichts unternähme und die durchschnittliche Temperatur auf 4, 5 oder gar 6 Grad Celsius anstiege, dann wären die bekannten Lebensformen einschließlich des Menschen stark bedroht. Doch die Technik ist nicht alles und keineswegs die Hauptsache. Frei nach Galileo Gallei können wir sagen: „Die Wissenschaft belehrt uns über Aufbau und Funktionsweise des Himmels, aber nicht darüber, wie man in den Himmel kommt.“

Die Wissenschaft erläutert uns, wie die Dinge funktionieren, aber sie ist nicht in der Lage, uns darüber zu belehren, ob sie für das System Leben und das System Erde insgesamt gut oder schlecht sind. Hierfür müssen wir auf ethische Kriterien zurückgreifen, denen die Praxis der Wissenschaft selbst unterworfen ist.

Bis zu welchem Punkt ist es möglich, Gaia, die lebendige Erde, allein mittels technischer Möglichkeiten so im Gleichgewicht zu halten, dass sie uns weiter auf ihr erträgt und dazu noch das Lebensnotwendige für die anderen Lebewesen bereithält? Wird sie die Tausende von synthetischen chemischen Substanzen, die gentechnisch veränderten Lebewesen usw., für die ihr Magen im Laufe der Jahrtausende der Evolution nicht vorbereitet wurde, aufnehmen oder abstoßen? Die Wissenschaft selbst kann uns darauf keine eindeutige Antwort geben. Deshalb müssen wir unser Handeln an den Prinzipien der Vorbeugung, der Vorsorge und der Achtsamkeit orientieren, damit unsere Gesundheit nicht beeinträchtigt werde.

Technisches Eingreifen ist notwendig, um die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen. Doch dieses technische Eingreifen muss einem neuen, weniger aggressiven Paradigma der Produktion, einer gleichmäßigeren Verteilung, einer Art des Konsumierens, das von solidarischer Genügsamkeit geprägt ist, und einem Umgang mit Abfällen entsprechen, der den Ökosystemen nicht schadet.

Die Erdcharta, ein von der UNESCO verabschiedetes Dokument, das aus einem Konsultationsprozess im Lauf von acht Jahren (1992–2000) hervorging, an dem praktisch alle Völker beteiligt waren, vereinigt in sich Werte und Prinzipien, die uns zu einer neuen Art und Weise ermutigen, unseren Planeten zu bewohnen. In diesem Dokument stehen die von tiefer Weisheit geprägten Sätze:

Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit fordert uns unser gemeinsames Schicksal dazu auf, einen neuen Anfang zu wagen. […] Das erfordert einen Wandel in unserem Bewusstsein und in unseren Herzen. Es geht darum, weltweite gegenseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung neu zu begreifen. Wir müssen die Vision eines nachhaltigen Lebensstils mit viel Fantasie entwickeln und anwenden, und zwar auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene. (Erdcharta, 16)

Hier wird gesagt, dass wir eine neue Lesart der gesamten Wirklichkeit (Bewusstsein) und eine neue Empfindsamkeit (Herz) gleichermaßen entwickeln müssen, einen Sinn dafür, dass alle Lebewesen zueinander gehören, und einen Sinn für die umfassende Verantwortung für das gemeinsame Schicksal von Erde und Menschheit.

Das Bewusstsein, das heißt die derzeitige Sichtweise des Universums, der Geschichte der Erde, des Lebens und der Menschheit, hat sich zu einem großen Teil im Lauf eines langen Zeitraums ausgeprägt. Was dringend nottut, ist es, das Herz wachzurütteln, damit es mit der Erde, ihren Ökosystemen und allen Lebewesen, das heißt unseren Gefährten in diesem irdischen Dasein, fühlt, mit ihnen Mitleid empfindet, sich mit ihnen solidarisiert und sie liebt. Das Bewusstsein allein verfügt nicht über alle Hilfsmittel, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Es braucht die Unterstützung des Herzens. Das Herz ist es nämlich, das uns zum Handeln motiviert und die besten Wege zu unserer Rettung ausfindig macht. Deshalb sprechen wir davon, dass das Herz ins Recht gesetzt werden muss, dass diese Rechte des Herzens öffentlich proklamiert und mit Leben erfüllt werden müssen, und zwar um unseres eigenen Überlebens willen.

Die Dimension des Herzens wurde im Lauf der Moderne vernachlässigt. Die analytische und instrumentelle Vernunft sowie die an der Technik orientierten Wissenschaft strebten methodisch nach der strengstmöglichen Trennung von Emotion und Vernunft, von denkendem Subjekt und dem Gegenstand des Denkens.

Alles, was dem Bereich der Emotionen, der Affekte, des Empfindens, mit einem Wort: des Pathos, entstammt, so meinte man, würde den analytischen, „objektiven“ Blick auf das Objekt trüben. Diese Dimensionen mussten unter Verdacht geraten, sie mussten unter Kontrolle gehalten, ja sogar zurückgedrängt werden.

Nun aber hat die Wissenschaft selbst diese reduktionistische, verkürzende Sichtweise überwunden: etwa durch die Quantenmechanik, wie sie Nils Bohr und Werner Heisenberg interpretierten, oder durch die Biologie im Denken von Maturana und Varela und schließlich durch die psychoanalytische Tradition, die von der Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre, u. a.) noch verstärkt wird. Diese Denkströmungen machten deutlich, dass die gegenseitige Verschränktheit von Subjekt und Objekt unvermeidlich ist. Vollkommene Objektivität ist eine Illusion. Am Erkenntnisprozess selbst sind stets Interessen des Subjektes beteiligt, es sind Emotionen und Affekte mit im Spiel, wie sie dem Menschen und seinem In-der-Welt-Sein mit anderen eigen sind. Mehr noch: Diese Wissenschaftler haben uns davon überzeugt, dass die Grundstruktur des Menschen nicht die Vernunft ist, sondern dass diese Basis von Gefühl und Empfinden gebildet wird.

Daniel Goleman hat mit seinem Buch EQ – Emotionale Intelligenz (Goleman, 2011) den empirischen Beweis dafür geliefert. Darin stellt er die These auf, dass die Emotion der Vernunft vorausliegt. Die erste Reaktion angesichts jedweder Art von Realität entspringt der Emotion, und erst einige Sekunden danach wird die Vernunft wachgerufen. Michel Maffesoli singt das „Lob der empfindsamen Vernunft“ (Maffesoli 1996), Patrick Viveret hält ein Plädoyer für eine „glückliche Genügsamkeit“, deren Grundlage die Übereinstimmung zwischen der Vernunft und der Intellligenz des Herzens ist, Adele Cortina schrieb über die „Vernunft des Herzens“, und ebenso Muniz Sodré in mehreren Werken.

Dies wird noch verständlicher, wenn wir bedenken, dass wir Menschen nicht einfach rationale, vernunftbegabte Lebewesen, sondern vernunftbegabte Säugetiere sind. Vor mehr als 200 Millionen Jahren traten die Säugetiere auf den Plan, und es brach innerhalb des evolutiven Prozesses das limbische System des Gehirns hervor. Dieses ist verantwortlich für das Gefühl, die Fürsorge, die liebevolle Zuwendung. Die Mutter empfängt das Junge und trägt es aus, und nach der Geburt umgibt es dieses Junge mit Fürsorge und Zärtlichkeit. Erst in den letzten fünf oder sechs Millionen Jahren entstand die Großhirnrinde, und seit 200.000 Jahren gibt es das Gehirn in der heutigen Form, das zu abstraktem Denken, Begriffsbildung und vernünftigem Sprachgebrauch befähigt.

Heute besteht die zentrale Herausforderung darin, das wieder in den Mittelpunkt zu rücken, was am ältesten an uns ist: das Gefühl und das Empfinden, das am besten mit dem Ausdruck „Herz“ beschrieben wird. Es kommt entschieden darauf an, das Herz wieder in sein Recht zu setzen und zu betonen, dass es genauso wie Vernunft, Wille, Verstand und Libido seinen unersetzbaren Platz hat.

Im Herzen ist unsere Mitte, unsere Fähigkeit, tief zu empfinden; hier ist der Sitz der Liebe, und hier haben die Werte ihren Wurzelgrund.

Wir sind weit davon entfernt, die Vernunft herunterzuspielen. Wir brauchen sie, denn sie ist unverzichtbar, wenn es darum geht, die Gefühle kritisch zu beurteilen und sie in eine vernünftige Rangordnung zu bringen, ohne sie jedoch ersetzen zu wollen. Wenn wir es heute nicht lernen, die Erde als Gaia, als lebendiges Wesen, zu empfinden, sie so zu lieben, wie wir unsere Mutter lieben, und uns nicht so um sie zu kümmern, wie wir uns um unsere Kinder kümmern, dann wird es schwer werden, sie zu retten.

Ohne das Empfinden ist das Werk von Technik und Wissenschaft unzureichend. Doch eine von Gewissen und ethischem Empfinden durchdrungene Wissenschaft kann befreiende Auswege aus unseren Krisen finden. Deshalb kommt es darauf an, den ganzen Menschen, der Kopf und Herz, Gefühl und Vernunft, Musik und Arbeit, Poesie und Technik in sich vereint, neu zu erfinden.

Ziel unseres kleinen Buches ist es, die Menschen einzuladen, empfinden zu lernen, die für gewöhnlich kalte und berechnende Vernunft mit dem warmen und Wärme ausstrahlenden Gefühl zu verbinden. Aus dieser Mischung wird gleichsam wie von selbst unser Wille hervorgehen, uns um alles Lebendige, Schwache und für das Leben des Menschen und das Leben auf dem Planeten insgesamt Wichtige zu kümmern.

Das Herz hat sein eigenes Recht und folgt seiner eigentümlichen Logik. Es sieht nicht so klar wie die Vernunft, aber es sieht in einer tieferen Weise und mit Gewissheit. Wir erkennen besser, wenn wir lieben. Und wir lieben intensiver, wenn unser Erkennen klarer und vorurteilsfreier ist.

Herzenssache

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