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ОглавлениеDer Mensch – ein Knotenpunkt von Beziehungen
Im Jahr 1945 schrieb Karl Marx seine berühmten Thesen über Feuerbach, die allerdings erst im Jahr 1888 von Friedrich Engels veröffentlicht wurden. Die sechste von insgesamt elf Thesen enthält eine wahre Aussage, wenn auch in verkürzter Weise: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx 2015, 133) Tatsächlich kann man das Wesen des Menschen nicht ohne seine gesellschaftlichen Beziehungen adäquat denken. Doch es ist viel mehr als dies, denn es geht aus der Gesamtheit seiner umfassenden Bezüge hervor.
Auf der rein beschreibenden Ebene können wir, ohne eine Definition des Wesens des Menschen zu versuchen, feststellen: Es tritt als ein Knoten von Beziehungen in Erscheinung, die in alle Richtungen weisen: nach unten, nach oben, nach innen und nach außen. Es ist wie ein Wurzelstock, dessen einzelne Wurzeln sich nach allen Richtungen hin ausbreiten. Der Mensch bildet sich selbst in dem Maße heraus, in dem er diesen Komplex von Beziehungen, und nicht allein die gesellschaftlichen, aktiviert.
Mit anderen Worten: Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er als grenzenlose Offenheit in Erscheinung tritt. Offenheit für sich selbst, für die Welt, für den anderen und für die Gesamtheit der Wirklichkeit. Er spürt in sich einen unendlichen Herzschlag, auch wenn er nur Begrenztes vorfindet. Daher rührt seine stete Unerfülltheit und Unzufriedenheit.
Es geht hierbei nicht um ein psychologisches Problem, das ein Psychoanalytiker oder ein Psychiater heilen könnte. Es ist kein Defekt, sondern das ontologische Unterscheidungsmerkmal des Menschen.
Doch ausgehend von Marxens These können wir sagen, dass ein guter Teil der Herausbildung des Menschlichen tatsächlich innerhalb der Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber nachdenken, welche Gesellschaftsform am ehesten die Bedingungen herstellt, dass sich der Mensch noch vollkommener in die unterschiedlichsten Bezüge hinein entfaltet.
Ohne jetzt die nötigen Vermittlungsschritte anzuführen, möchte ich direkt auf den Punkt kommen und behaupten, dass die beste Gesellschaftsform die Demokratie ist – eine gemeinschaftliche, soziale, repräsentative, partizipative Demokratie, die sich von unten nach oben aufbaut und alle ohne Ausnahme in sich integriert. Um mit dem berühmten portugiesischen Soziologen Boaventura de Souza Santos zu sprechen: Die Demokratie muss grenzenlos sein.
Wir haben es bei der Demokratie mit einem offenen, sich stets im Aufbau befindlichen Entwurf zu tun, der innerhalb der familiären Beziehungen, der Beziehungen in der Schule, in der Gemeinde, in den Vereinen, in den sozialen Bewegungen, in den Kirchengemeinden seinen Ausgang nimmt und schließlich in die Organisation des Staatswesens mündet.
Für mich sind es gleichsam vier „Tischbeine“, die eine echte Demokratie in ihren Mindestanforderungen tragen, wie es Herbert de Souza (Betinho)1 sein Leben lang betont hat und wie ich selbst es zusammen mit ihm anlässlich von Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen unter den politisch Verantwortlichen und Vertretern von Volksbewegungen zu verbreiten versucht habe.
Das erste „Tischbein“ oder die erste tragende Säule ist die Partizipation (Teilhabe). Der mit Verstand begabte und freie Mensch möchte nicht einfach Nutznießer eines Prozesses sein, sondern Akteur und Teilnehmender. Er möchte das Brot nicht nur in Empfang nehmen. Er möchte dazu beitragen, dass es gebacken wird. Nur so wird er zum Subjekt und zum Bürger. Diese Teilhabe muss von unten ihren Ausgang nehmen, um niemanden auszuschließen.
Die zweite tragende Säule ist die Gleichheit. Wir leben in einer Welt der Ungleichheit in jeglicher Hinsicht. Ein jeder von uns ist einzigartig und anders. Doch die wachsende Teilhabe an allem verhindert, dass aus Unterschied Ungleichheit wird, und macht eine zunehmende Gleichheit möglich. Es geht um die Gleichheit aller vor dem Gesetz, um die Anerkennung der Würde einer jeden Person und um die Achtung ihrer Rechte. Diese grundlegende Gleichheit ist das tragende Fundament der sozialen Gerechtigkeit. Mit der Gleichheit geht das einher, was einem jeden angemessen ist und zukommt: der adäquate Anteil, den einer für seine Teilhabe am Aufbau des gesellschaftlichen Ganzen erhält.
Die dritte tragende Säule ist die Andersheit. Sie ist von Natur aus gegeben. Jedes Lebewesen, jede Seinsform und insbesondere der Mensch (Mann und Frau) sind unterschiedlich. Dies muss als die äußere Erscheinung der je eigenen Möglichkeiten von Einzelnen, Gruppen und Kulturen akzeptiert und respektiert werden. Die Unterschiede sind es, die uns offenbar machen, dass wir in vielfacher Weise Mensch sein können und dass eine jede dieser Formen eben menschlich ist und deshalb Respekt und Akzeptanz verdient. Wir können Mensch sein auf afrikanische Art, auf japanische, chinesische Art, auf die Art der Yanomami-Indianer und auf Brasilianisch: ganz unterschiedlich, aber in gleicher Würde.
Die vierte Säule ist die Gemeinschaft: Der Mensch verfügt über Subjektivität, über die Fähigkeit zur Kommunikation mit seinem inneren Selbst und der Subjektivität der anderen. Er ist das Subjekt von Werten wie Solidarität, Mitleid, Verteidigung der Wehrlosesten und Dialog mit der Natur sowie mit dem Göttlichen. Hier scheint die Spiritualität als jene Dimension des Bewusstseins auf, die bewirkt, dass wir uns selbst als Teil eines Ganzen und als jene Gesamtheit unveräußerlicher Werte empfinden, die unserem persönlichen und gesellschaftlichen Leben sowie dem Universum insgesamt Sinn verleihen.
Diese vier „Tischbeine“ gehören stets zusammen und halten so den Tisch im Gleichgewicht, das heißt, sie bilden die tragende Grundlage einer echten Demokratie. Sie erzieht uns dazu, Mitgestalter am Aufbau des Gemeinwohls zu sein; in ihrem Namen lernen wir, unsere individuellen Wünsche hintanzustellen zugunsten der Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse.
Diesen Tisch mit vier Beinen gäbe es nicht, wenn er nicht fest auf dem Erdboden stünde. Deshalb wäre auch die Demokratie nicht vollständig, wenn sie nicht die Natur mit einschließt, die alles erst möglich macht. Sie liefert die physikalische, chemische und ökologische Grundlage, die das Leben und jeden Einzelnen von uns trägt.
Alle Seinsformen sind aufgrund der Tatsache, dass sie einen Wert in sich, unabhängig von ihrem Nutzen für uns, besitzen, Träger von Rechten. Sie verdienen es, weiter zu existieren, und an uns ist es, sie zu respektieren und als unsere Mitbewohner zu begreifen. Sie werden in eine gesellschaftlich-kosmische Demokratie ohne Grenzen mit integriert sein.
Der Mensch streckt sich in all diese Richtungen aus und verwirklicht sich so innerhalb der Geschichte und in seinem konkreten Leben im Lauf eines Prozesses, der keine Grenzen kennt.
1 Herbert José de Souza (1935–1997), liebevoll „Betinho“ genannt, war ein führender brasilianischer Soziologe, der sich an der Seite der Volksbewegungen engagierte und neben seiner theoretischen Arbeit Initiativen und Kampagnen zur Überwindung von Armut und Elend ins Leben rief. Betinho litt an der Bluterkrankheit (Hämophilie) und musste deshalb regelmäßig Bluttransfusionen erhalten. Durch eine verseuchte Blutkonserve infizierte er sich mit dem HIV-Virus. Bekannt wurde Betinho vor allem durch seine „Aktion der Bürger und Bürgerinnen gegen Hunger, Elend und für das Leben“. Ihr Zeichen war eine grüne Armbinde. Wer sich noch an die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2002 erinnert (Brasilien besiegte Deutschland damals im Finale mit 2 : 0 Toren), der hat vielleicht auch noch in Erinnerung, dass auch die brasilianische Mannschaft die grüne Armbinde als Zeichen der Unterstützung dieser Kampagne trug (d. Übers.).