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5 Berlin-Mitte

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Ich war zu Besuch bei einem alten Freund in Berlin, und da ich mit ihm sowohl zweimal Falcos Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof (einmal mit, einmal ohne Falcos »Mama« an dessen Seite) als auch das Grab von Helmut Schmidt in Hamburg besucht hatte, schonte ich ihn auch an diesem für ihn noch sehr frühen, weil verkaterten Sommermorgen nicht und bat ihn, mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof zu begleiten.

In Hamburg hatte Flexi mir gezeigt, dass Helmut Schmidts Grab auf golocal.de mit fünf von fünf Sternen bewertet worden war. In einer der Bewertungen hieß es, es lägen, zur Ehrerweisung, manchmal Mentholzigaretten auf oder hinter seinem Grabstein. Und weil mein alter Freund starker Raucher und deshalb Fan des Altkanzlers ist, hatte er sich an jenem Nachmittag davon überzeugen wollen, und wir fuhren zum Ohlsdorfer Friedhof und liefen etwa eine Stunde lang zu Schmidts Grab, hinter dem letzten Endes keine Zigaretten lagen – was Flexi mit drei von fünf Sternen auf golocal.de dann auch kritisch anmerkte.

Flexi ist eigentlich ein guter Mensch, aber vollkommen pietätlos. Er ist sehr dünn, trägt eine große Brille und einen Schnauzbart, er hat dunkle Locken und rauchte damals noch den ganzen Tag französische Zigaretten. Seine Hobbys zu der Zeit waren, er hatte es selbst gesagt: »Alkohol, Tabak und Computer!«

Mit ihm nahm ich vom Görlitzer Bahnhof erst die U1 bis zum Halleschen Tor, dann die U8 bis zum Naturkundemuseum, von wo aus wir zum Friedhof liefen.

Unsere Münder standen offen, es war der heißeste Tag des Jahres, in den Nachrichten hieß es von Feuerwehrbeamten: »Wir haben eine Extremsituation.« Noch aber hatte der Sommer nicht die Dimension erreicht, die ihn zum Zeitpunkt der Auswertungen zum trockensten aller bisher aufgezeichneten machen würde.

Ich hatte mir wie immer die Namen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufgeschrieben, diesmal aber keine Grabnummern, weil ich, aufgrund der relativ geringen Größe bei gleichzeitiger Prominentendichte des Friedhofs, hoffte, sie auch so zu finden.

Nur mit einem hatten wir nicht gerechnet: Ein Friedhof mitten in Berlin ist ein Ort voller Touristen. Wie überall in der Stadt schleppten sie sich auch hier mit ihren Rollkoffern und Zara-Tüten durch die Grabreihen. Die Hartgummireifen gerieten auf den Kieswegen ins Stocken, die Kugellager gaben auf, und die Koffer mit den verpixelten Schwarz-Weiß-Abbildungen von Paris hinterließen mehrere Zentimeter tiefe Schleifspuren auf den Wegen. Auch bei ihnen standen die Münder offen, aber vor Hohlheit.

Der seelen- und leidenschaftslos praktizierte Massentourismus in Europa ist eine der größten Sünden unserer Zeit, und ich ließ es die Touristen, auf deren Instagram-Accounts wahrscheinlich Sprüche wie »Travel as much as you can!« standen, mit heftigen Zischlauten wissen. Niemand von diesen Menschen hatte eine »Aufgabe«, sie waren einfach nur da, sie waren mittelmäßige Existenzen. Sie schauten sich um, und sie verstanden nichts. Die totale Musealisierung Europas war gekommen und auch die Grabstätte nur ein Ausstellungsstück auf dem überfüllten Friedhof.

»Top Lage, aber ein wenig zu unruhig«, sagte Flexi und lachte hustend – die Zigarette im Mundwinkel.

Überall, hinter den Bäumen und Mauern des Friedhofs, schauten aus den Fenstern von Zimmern der Bundesministerien und Hotels die Lebenden zu den Toten hinab.

»Eigentlich das Gegenteil eines schönen Friedhofs«, sagte ich, »aber er passt irgendwie zur Innenstadt: alles staubig und strukturlos, unselig, grob verhauen und verklotzt, irgendwie dreckig.«

»Ah, Brecht!«, unterbrach mich Flexi. »Der Grabstein, an den jeder Hund gern pinkeln möchte – so wollte er es haben.« Er ging näher auf das Grab des Augsburgers zu, der dort mit seiner Frau Helene, stark eingeengt, am Rand einer Backsteinmauer liegt.

Rechts neben Brechts lagen Heinrich Mann, Johannes R. Becher, Lilly Becher und Anna Seghers fast nebeneinander.

Heinrich Mann wollte mit dem polnischen Transatlantik-Passagierdampfer Batory, dem man während des Zweiten Weltkriegs und aufgrund mehrerer glücklich überstandener Luft- und Seeangriffe den Spitznamen The lucky ship verpasst hatte, von Los Angeles und aus den Fängen seines Bruders Thomas zurück nach Deutschland reisen, allerdings zögerte er zu lange und erlag in Kalifornien einem Herzinfarkt. Erst 1961 wurde sein Leichnam über Prag nach Berlin gebracht. Seine Frau Nelly liegt noch immer in Santa Monica. Ein Versäumnis, das sich irgendwann, dachte ich, durch einen paranormalen Bund zwischen den beiden rächen wird – egal in welcher Form. Überhaupt fielen mir die Namen der Frauen auf, die entweder abseits, gesondert, kleiner oder tiefer erwähnt wurden.

Neben Mann lag Becher. In seiner Schlichtheit ein ebenso wuchtiges Grab. Oben sein Name, untendrunter der Name seiner Frau Lily, dazwischen ein irre pathetisch verfasster Text, in dem ein gewisser heiliger Ernst lauerte:

Vollendung träumend,

hab ich mich vollendet,

wenn auch mein Werk

nicht als vollendet endet.

Denn das war meines Werkes

heilige Sendung

Dienst an der Menschheit

künftiger Vollendung.

Vor dem Grab von Anna Seghers hatte sich eine große und schwitzende Touristengruppe versammelt. Eine von diesen Hunderttausenden Touristenführungen in Berlin. Hier wurde alles seziert und zitiert. Diese Stadt war das komplette Gegenteil von Frankfurt. Frankfurt war zwar auch hässlich, aber wenigstens versuchte man nichts daraus zu machen. Hier wollte man zeigen, was es alles gab und wie schön das alles war, auch wenn es völlig belanglos wirkte. Sie schauen sich sicherlich gerade das Grab von Ernst Litfaß, dem Erfinder der Litfaßsäule an, dachte ich.

Als sie gingen und wir an Anna Seghers’ Grab standen, musste ich an eine Fotografie denken, ein Bild von Anna Seghers, das kurz nach ihrem Autounfall in Mexiko-Stadt 1943 aufgenommen wurde. Noch nie habe ich so traurige und schöne Augen gesehen. Mehrere Umstände machen dieses Bild und diesen Blick besonders: die grauen Haare, die Ermordung ihrer Mutter, der Tod ihres Vaters, die Enthauptung eines Freundes, die weite Entfernung zu ihrer im Luftkrieg zerstörten Heimatstadt Mainz, die Fahrerflucht des Unfallverursachers, der Autounfall selbst und die bei ihr durch diesen Unfall verursachte kurzzeitige Blindheit.

Anna Seghers zog mit ihren Eltern 1904 in die Kaiserstraße, exakt in dieselbe Straße und dieselbe Hausnummer und auch in dasselbe Stockwerk, in das ich zu Beginn meines Studiums in Mainz gezogen war. Allerdings brannte das Haus während des Zweiten Weltkriegs nieder, und ich wohnte, wahrscheinlich leicht versetzt zur tatsächlichen Wohnung Anna Seghers’, zusammen mit zwei Sportstudenten – die sich die ganze Nacht Bratwürste brieten und inzwischen Co-Trainer von Paris St. Germain sind – in einem hässlichen Neubau, sodass ein möglicher »entkörperter Geist« kein »objektives Etwas« in unserer Wohnung mit Ektoplasma erzeugt hatte, wie es sich manche Spiritisten erklären. Trotzdem ist die Mainzer Kaiserstraße eine Straße mit viel Energie, es gibt dort viel Irrationales – einmal, nach der Lektüre von Gustav Meyrinks Der Golem, glaubte ich bei einem Nachtspaziergang hinter der Christuskirche am Hans-Klenk-Brunnen ein Hologramm eines schwarzbraunen mit dünnen Linien verzierten und quadratischen Steinblocks zu sehen, der sich jedem Zugriff entzog, aber womöglich hatte es sich dabei nur um eine Wahnvorstellung gehandelt.

Seit meinem Auszug aus Mainz warte ich auf eine sogenannte, von Anna Seghers’ Energie ausgelöste, Retrokognition – auf das »Zurücksehen« und das Erblicken eines längst vergangenen Ereignisses, das mir weder auf Fotografien noch in Filmen oder Texten jemals erschienen sein konnte. Zum Beispiel würde ich mich gerne vor 1933 mit Anna Seghers über die Rheininsel Petersau laufen sehen, aber dieses Bild kam bisher nicht.

»Sie war Präsidentin des antifaschistischen Heinrich-Heine-Klubs«, unterbrach ich mich selbst in meinen Gedanken, weil ich eine Gänsehaut bekam. Flexi, der nicht wusste, warum ich vor diesem Grab stand und lächelte, entlockte wenigstens diese Tatsache auch eins.

Wir gingen weiter, an Christa Wolfs Grab vorbei, das uns sehr hübsch und weiß und schlicht vorkam und neben dem viele Werther’s Original Karamellbonbons lagen. Überhaupt wunderten wir uns an jeder Ecke. In das Steinfundament um Heiner Müllers Grab war ein Aschenbecher eingelassen; auf dem von Herbert Marcuse stand »weitermachen!«; überall sahen wir Figürchen und Gummilöwen und Wasserpistolen, Gräber waren von Weinranken umgeben und mit Münzen und Federn und Plastikblumen überhäuft, und wir dachten das, was auf Fritz Teufels Grab steht: »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient …«

Ganz in der Nähe konnten wir jetzt auch Thomas Brasch und Stephan Hermlin betrachten und Elfriede Brüning und Hanns Eisler und Fichte und Schinkel und Tabori. Vielleicht berühren sich – durch die in der Nähe unterirdisch fahrende und kleine Erdbeben verursachende U6 – inzwischen ihre Schädel- und Oberschenkelknochen.

Nachdem ihm Mann und Brecht noch etwas sagten, war es hier, bei Wolf, Brasch und Hermlin, gänzlich um das Verständnis Flexis geschehen. Er kannte die Biographien dieser Menschen nicht. Für ihn waren sie nicht unsterblich, sie waren nicht verschwunden, sie haben für ihn noch nie existiert und würden es auch nie.

Wie mein Bruder, der auf dem Frankfurter Hauptfriedhof nur mit den Schultern gezuckt hatte, wusste auch Flexi mit der seltsamen Situation auf seine Weise umzugehen: Er rauchte eine rote Gauloises-Zigarette nach der anderen. Er schnickte sie nach rechts auf die Gräber von Egon Bahr, Helene Weigel und John Heartfield und nach links auf die Grabplatten und Urnengräber von Johannes Rau und Bernhard Minetti.

Als wir vorm Grabstein von Wolfgang Herrndorf standen, stoppte ich ihn. Hier würde er keine Kippen versenken. Es war noch immer Wassernotstand, ich konnte es nicht zulassen, dass er diesen Friedhof in Schutt und Asche legte, und ich wollte bei Herrndorf, der sich vor knapp fünf Jahren in den späten Abendstunden am Hohenzollernkanal mit allerletzter Kraft mit einem Kopfschuss das Leben nahm (»Ich sehe die Walther PPK in meiner Hand, ich sehe sie in meinem Mund«), ich wollte wenigstens dort etwas Pietät bewahren.

Am Tag von Herrndorfs Freitod war es warm gewesen, ich konnte mich erinnern, es war einer der Tode, den man damals erwartete, und es hatte ununterbrochen geregnet. Ich hatte den ganzen Augustnachmittag auf einem Sofa im Wohnzimmer einer Freundin gesessen und Cointreau aus einer Muschelschale getrunken, die ich im Bad gefunden hatte. (Mein Mund schäumte erst ein bisschen, weil sie die Muschel wohl als Seifenschale benutzt hatte.) Ab und zu stellte ich mich mit Flexi, der auch dabei war, ans Fenster des Wohnzimmers und schaute ihm beim Rauchen zu. Die Kippen versuchte er so aus dem Fenster zu schmeißen, dass sie auf den Lindenblättern der Bäume unter uns zum Liegen kamen. Ein alter Freund radelte an uns vorüber. Wir riefen laut seinen Namen, und wenig später saß er mit uns im Wohnzimmer und weinte, er weinte über einen Verlust, der nichts mit Herrndorfs Tod zu tun hatte – von dem noch niemand etwas ahnte –, und vielleicht weinte er auch, weil er einen bald bevorstehenden Verlust schon spüren konnte – von dem aber ebenfalls noch niemand etwas ahnte und der auch nicht an diese Stelle gehört.

In Herrndorfs letztem und unvollendeten Buch gibt es einen bemerkenswerten Dialog, der zwischen der jungen Hauptfigur und einem Mann in einer grünen Trainingsjacke (der Herrndorf aufgrund seiner eigenen Vorliebe für grüne Adidas-Trainingsjacken sehr ähnelt) geführt wird. Sie stehen zusammen am Grab von Daniel Franz, einem im Zweiten Weltkrieg verstorbenen Soldaten, auf dessen Grab jemand nach jüdischem Brauch mehrere Steine gelegt hatte:

»Wozu sind die Steine?«, frage ich.

»Das ist eine jüdische Sitte.« Er blickt auf das Grab. »Obwohl das kein Jude ist. Die Leute machen das jetzt überall so. Alles Idioten. Und wir müssen’s ausbaden.«

Später würde ich den Friedhofsverwalter von Bad Oldesloe treffen und ihn nach dem Missbrauch von Bräuchen fragen.

»Der Schriftsteller von Tschick ist schon tot?«, würde er antworten und dann kurz gegen das aus den Fenstern auf seinen Schreibtisch fallende Licht blinzeln. »Na ja – wir haben es hier mit der sogenannten ›Abladementalität‹ zu tun. Das ist ganz einfach eine Orientierungslosigkeit der Menschen. Sie wissen nicht, wie sie sich an einem Grab benehmen sollen, auch hier geht’s viel um das Ich. Ich war hier, also lege ich zum Zeichen meiner Anwesenheit – nicht unbedingt zum Gedenken! – einen Stein auf das Grab. Oder einen Engel aus Plastik, Schrott halt.«

Auf Herrndorfs Grab lagen nicht nur Steine, sondern auch Kastanien, Münzen, Marienkäfer aus Holz und Federn. Unterschiedlichste Abladementalitäten waren in letzter Zeit vor diesem Grab zusammengekommen. Es war auch eines der jüngsten Gräber auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, also lagen hier im Vergleich die meisten Gegenstände, die Fans, Verehrer, Vertraute und Trauernde hinterlassen hatten. Bei Hertha und Wolfgang Borchert in Hamburg hatte nichts mehr gelegen außer ein paar Zigarettenstummeln, bei Harry Rowohlt nur ein Fläschchen Whiskey, die Inschrift von Ricarda Huchs Grab in Frankfurt war kaum noch zu erkennen gewesen.

In der Nähe, im Brecht-Haus, gab irgendjemand ein Konzert, jetzt wurde es auch noch laut auf dem Friedhof. Ich fasste Flexi am Ärmel seines Hemdes und nickte. Er verstand das als Aufforderung zum Verschwinden und ließ seine leer gerauchte Kippe nach ein paar Schritten wieder durch die Luft schwirren. Ich verfolgte sie mit meinem Blick. Sie landete auf dem Kiesweg vor dem Grab von Arnold Zweig.

»Warte mal«, sagte ich und ging kurz zurück zu Wolfgang Herrndorf.

Mit einem Donnerschlag wischte ich die Steine von seinem Grabstein.

»Komm«, sagte ich und meinte damit Flexi, und wir gingen gegenüber ins Quell-Eck, der Gaststätte mit der ältesten und noch immer nicht verschwundenen (weil geschickt in der Nähe eines Friedhofs platzierten) Bierzapfsäule der Stadt.

In zwangloser Gesellschaft

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