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2. Kapitel

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Das Meer tief unter ihm war tintenblau. Ein kräftiger Passatwind kämmte Wellen hinein, die sich am Fuß der Steilküste brachen. Ihr Geräusch war hier oben nicht zu hören. Es war ein Ort vollkommener Stille, steinig und karg bis auf einige Flechtgewächse und Zistrosen. Über allem wölbte sich ein gläserner Himmel, der die weiße Kapelle und die verbrannten Hügel noch nackter leuchten ließ.

Ein skeletthaftes Land aus nichts als Knochen, hatte der Dichter Miguel de Unamuno die Insel Fuerteventura genannt und hinzugefügt: »Es ist ein Land, das eine ermüdete Seele zu stählen vermag.«

Genau das, dachte Daniel Derndorfer, während er aufs Meer starrte, muss mein Vater in dieser Ödnis gesehen haben, als er vor mehr als vierzig Jahren herkam. Damals lebten weniger als 16000 Menschen auf der Insel und mehr als doppelt so viel Ziegen; Touristen waren eine unbekannte Spezies, das Land unwirtlich und bitterarm. Daniel selbst war seit sechs Monaten auf der Insel und begann, seinen Vater zu verstehen.

Fuerte ist ein Ort, an dem man seinem inneren Ich begegnen kann, seinen verlorenen Träumen, seinen Grenzen und seinen Möglichkeiten. Mit beinahe dreiundvierzig Jahren wusste Daniel Derndorfer, wie mühselig es sein konnte, zu sich selber und seinen Hoffnungen zurückzufinden. Womöglich gegen den Rest der Welt und gegen die eigene Vergangenheit.

»Wir hätten öfter miteinander reden sollen«, sagte Daniel in die Stille und wandte sich seinem Vater zu. »Gerade in den letzten Jahren.« Seine Stimme klang spröde. Vielleicht lag es am feinsandigen Staub, der hier beinahe ständig durch die Luft wirbelte. Der Vater sagte – wie immer – nichts.

Wortkarg und in sich gekehrt war er sein Leben lang gewesen. Es blieb zu vermuten, dass ihn seine frühen Erlebnisse als Kindersoldat unter Hitler hatten verstummen lassen. 1945 war Leonhart Derndorfer siebzehn Jahre alt und bereits drei Monate an der Westfront gewesen. Die Hälfte seiner Klassenkameraden hatte er sterben sehen. Nein, krepieren.

Danach jedenfalls hatte er nicht mehr Tritt gefasst in Deutschland, war schließlich nach Fuerte übersiedelt, statt die Leitung der väterlichen Baumaschinenfirma zu übernehmen. Ein Kinderspiel, in Zeiten des Wiederaufbaus damit Geschäfte zu machen, doch Leonhart war längst jede Form des Befehlens oder der Unterordnung verhasst – ob militärisch oder zivil. Er hatte sich von der Schwester ausbezahlen lassen und gemeinsam mit Consuelo – seiner spanischen Frau – die Einsamkeit auf dieser Insel vorgezogen.

Die beiden hatten eine alte Finca gekauft und diese – misstrauisch beäugt oder belächelt von den Einheimischen – mühsam restauriert. Am schwersten war es gewesen, den Brunnen wieder freizugraben. Wasser war das kostbarste Gut der Insel.

Der Vater hatte begonnen zu malen. Düstere Bilder zunächst, die vom unbenennbaren Grauen seiner Kriegserlebnisse sprachen. Später folgten helle, immer hellere Landschaften im Wüstenlicht. Großzügige Flächen in jenen Farben, die Fuerte bei sinkender Sonne strahlen lassen: rostrote Berge, lavaschwarze Felder, durchsetzt von blassgrünen Streifen, weißer bis goldgelber Wüstensand voll wandernder Schatten.

Wer genau hinschaute, entdeckte in den Bildern eine heilsame Weite und einen Frieden, den Menschen nicht zu stören vermögen – der verlorene Traum seines Vaters.

»Man sieht, dass du glücklich warst, als du diese Bilder gemalt hast. Jedenfalls so glücklich, wie es einem wie dir möglich war.« Daniel wandte den Kopf nach links, wo sein Vater lag und eisern schwieg, was sonst. Sein Schweigen musste vollkommen geworden sein, als seine Frau starb, bei der Geburt von Daniel.

»War es das, was du mir nicht verzeihen konntest?«

Daniel hatte sich diese Frage wer weiß wie oft gestellt. Sich, aber nie seinem Vater. Jetzt kam er sich besonders albern dabei vor. Gerade jetzt. Es war doch klar, dass er nie mehr eine Antwort bekommen würde. Jedenfalls keine andere als die, die seine Tante Lena, Vaters ältere Schwester, für ihn parat gehabt hatte, seit er denken konnte.

»Was hätte dein Vater mit dir allein auf dieser gottverdammten Insel machen sollen? Du weißt, was ich von ihm und seiner Kleckserei halte, aber dich zu mir nach Deutschland zu schicken war der vernünftigste Entschluss, den er seit Jahren gefasst hatte. Hier hattest du alles, was du brauchst. Ein Zuhause, eine vernünftige Schule, Freunde ...« Und Tante Lena, das glatte Gegenteil seines Vaters.

Eine Frau, die zum Kommandieren geboren schien und die die elterliche Baumaschinenfirma zu ungeahnter Blüte brachte. Tante Lena eben, die nach dem Krieg – als die Auswahl an Männern gering war – auf eine Heirat verzichtete. Lena und die schwachen Männer.

Ein verschmitztes Grinsen stahl sich auf Daniels Lippen. Er wandte dem sprachlosen Vater den Rücken zu, griff sich einen roten Stein und schleuderte ihn über die Abrisskante der Steilküste hinab ins Meer.

Was Tante Lena wohl von seinen neuen Plänen halten würde? Der Brief musste sie inzwischen erreicht haben, aber noch wartete er auf eine Reaktion. So viel war immerhin klar, sie würde schäumen. Sie würde mit allen Mitteln, vor allem sehr unfeinen, kämpfen, um ihn von seiner Idee abzubringen. Zunächst mit sehr durchsichtigen Schmeicheleien, aber die sanfte Tour lag ihr nicht, auch wenn sie es gern anders sah.

Dann würden nölende Klagen folgen – völlig unglaubwürdig, denn jammern stand ihr nicht zu Gesicht. Schließlich würde sie zu handfesten Drohungen übergehen, die gewöhnlich in der Ankündigung »Du bist enterbt!« gipfelten. Ein Wunder, dass Tante Lena nicht schon längst ein entsprechendes Telegramm geschickt hatte.

Und dann war da noch Beatrice, die unberechenbare, wunderbare Beatrice. Immerhin hatte sie bei ihrem letzten und leider einzigen Besuch auf Fuerte sofort von der Insel geschwärmt. Sie liebe Abenteuer, hatte sie immer wieder betont, ein Robinsonleben sei ihr heimlicher Traum. Hoffentlich war das mehr als spontaner Überschwang gewesen. Man würde sehen, gleich wollte er ihr einen ausführlichen Brief schreiben. Eine Nachricht wie diese taugte nicht für ein Telefonat.

Sicher war es richtig, dass er seine Entscheidung vor und nicht nach der Heirat getroffen hatte. So hatten sie beide die Möglichkeit zum Rückzug. Nichts dass er einen Rückzug beabsichtigte. Beatrice tat ihm gut, ihre Sprunghaftigkeit, ihr munteres Wesen, ihre kalkulierten Koketterien und intelligenten Frechheiten. All das bewahrte ihn vor seinem Hang zur Schwermut.

Dennoch: Er würde ihr in jedem Fall einen Aufschub der Hochzeit vorschlagen, schließlich kannten sie sich kaum ein Jahr.

Blieb die Frage, was Tante Lena sagen würde, wenn die Heirat verschoben oder sogar abgeblasen würde. Für Lena Derndorfer war die Hochzeit im neuen Hotel samt Eröffnungsgala, Promigästen und Fernsehcrew eine Haupt- und Staatsaffäre. Ganz vernarrt war sie in den Plan. Sein neuestes Vorhaben hingegen würde sie hassen, das war klar.

Daniel schlenderte zum Rand der Steilklippen, eine Windböe fegte ihm das Haar aus dem Gesicht, zerrte an den Ärmeln seines Hemdes. Er und seine Tante hatten ein Leben lang miteinander gekämpft. Diesmal war er fest entschlossen, Lenas Drohgebärden nicht nachzugeben. Genauso wenig wie damals, als er – nach dem Abitur und ein paar Wanderjahren – endgültig in ihre Baumaschinenfirma hatte eintreten sollen.

»Es wird Zeit, dass endlich wieder ein männlicher Derndorfer die Firma leitet, nachdem dein Vater so kläglich versagt hat«, hatte die Tante resolut verkündet. Als ob sie das ernsthaft gestört hätte! Im Gegenteil. Ohnehin war es mit ihrem Respekt für das männliche Geschlecht nicht weit her: »Die Memmen hättest du mal damals bei der Flak sehen sollen«, war einer ihrer Lieblingssprüche.

Meist folgten darauf Anekdoten, die den Eindruck erweckten, sie – Lena Derndorfer – hätte als 20-jährige Flakhelferin Ende 1944 in letzter Sekunde einen Großteil der alliierten Flieger vom Himmel holen können, wenn man ihr das Kommando überlassen hätte.

Tante Lena eben – im Felde unbesiegt –, wobei sie mit »diesem Bürstenschnauzer Hitler und seinem braunen Gesocks« überhaupt nichts am Hut gehabt hatte. Lena Derndorfer war lediglich kein Freund von Niederlagen.

Doch als es um die Übernahme der Firmenleitung ging, hatte Daniel gesiegt und stattdessen ein Architektur- und Interior-Design-Studium in Amerika begonnen. Er drehte sich wieder zu seinem Vater hin: »Ein wenig war ich also doch wie du. Widerspenstig und entschlossen, meine eigenen Pläne durchzusetzen.« Keine Antwort. Dafür hörte Daniel in Gedanken noch einmal Lenas alte Einwände. Typisch, selbst an einem Ort vollkommener Stille konnte die ihre Klappe nicht halten.

»Interior Design, pah! Das klingt ja schlimmer als das, was dein nichtsnutziger Vater macht. Willst du etwa Blümchentapeten entwerfen oder Teppichmuster?«

»Ich hatte mehr an Kaffeekannenwärmer gedacht.«

»Das langt, mein Lieber. Du bist ab sofort enterbt. Von mir siehst du keinen Pfennig mehr.«

Pfennige hatte Daniel von ihr in der Tat nicht gesehen, dafür einen monatlichen Wechsel in harten Dollars. Dollars, die er dem einzigen butterweichen Fleck in Lenas männerresistentem Herzen verdankte. Lena Derndorfer liebte ihren Neffen Daniel mit der Leidenschaft einer Löwenmutter – weshalb sie weniger zu zarten Koseworten denn zu Drohgebrüll, Zähnefletschen und gelegentlichen Nackenbissen neigte.

Nun, Lenas Dollars hatten sich am Ende bezahlt gemacht. Daniel Derndorfer war ein weltweit anerkannter Hoteldesigner geworden, dessen Konzepte und Entwürfe für Luxusressorts und Ferienoasen im Fünf-Sterne-Bereich neue Maßstäbe gesetzt hatten.

Grund genug für Tante Lena, hin und wieder in Projekte zu investieren, die er entwickelte. So wie hier auf Fuerte. Das »Flores del Agua« – Daniels jüngstes Werk – hatte sie teilweise mitfinanziert. In der Hoffnung übrigens, dass Daniel sich künftig ganz dem lukrativen Massentourismus zuwenden würde, statt seine Zeit an prestigeträchtige Mini-Hotels auf einsamen Südseeinseln zu verschwenden.

»Diese Künstlerflausen. Darin bist du ganz dein Vater«, war Lenas ständige Klage. »Einen See in einen Fels sprengen, künstliche Wasserfälle anlegen, was so was kostet! Und alles für ein paar durchgedrehte Millionäre, die von allem zu viel und selbst davon die Nase voll haben. Das ist dekadent und kindisch.«

In diesem Punkt gab Daniel seiner Tante inzwischen Recht. Er war die kindischen Millionäre leid, zumal einer von ihnen ihm vor zwei Jahren die eigene Frau – Susan – ausgespannt hatte. Der Massentourismus war allerdings nicht Daniels neues Ziel. Im Gegenteil.

Er wandte sich wieder dem stummen Vater zu.

»Ich habe deine alte Finca gekauft. Oder besser gesagt, das, was davon übrig ist«, sagte Daniel. Keine Reaktion, nichts, was hatte er erwartet? Ein Wunder? Daniel sprach schneller, um diese schreckliche Stille zwischen ihnen zu übertönen.

»Ich werde das Haus wieder aufbauen und die Bilder, die du mir geschenkt hast, dort ausstellen. Ich möchte die Finca zu einer Künstlerkolonie machen, hörst du? Ein Hotel, eine Begegnungsstätte, ein Sommeratelier ganz im Einklang mit der stillen Schönheit dieser Insel. Ich werde auch Mutters Garten wieder bepflanzen. Du hättest ihn nicht so vernachlässigen dürfen. Von euren Fotos weiß ich, dass sie den Garten geliebt hat, er war ihr Kunstwerk. Nirgends sah sie glücklicher aus.«

Wartete er wirklich auf eine Antwort? Was für ein Unsinn. Daniel sprach trotzdem weiter. »Ich denke, sie hat es zunächst nicht leicht gehabt hier in dieser Einöde. So weit weg von ihrem geliebten Barcelona, den Ramblas., den Parks, den Cafés, ihren Freunden. Sie muss eine unternehmungslustige Frau gewesen sein, man sieht es an ihren Augen.«

Herausfordernde, glänzend braune, spanische Augen, die Daniel von ihr geerbt hatte, vielleicht zusammen mit der Umtriebigkeit, die sein bisheriges Leben geformt hatte.

»Sie muss dich sehr geliebt haben, um das alles aufzugeben«, sagte er jetzt in Richtung seines Vaters.

Consuelos Liebe war etwas, um das er seinen Vater beneidete. Nicht weil ihm die Liebe der Mutter vorenthalten geblieben war, sondern weil er eine solch hingebungsvolle Liebe von einer Frau nie kennen gelernt hatte. Ob Beatrice solch einer Liebe fähig war? Seltsam, er hatte sich diese Frage bislang nie gestellt.

Beatrice hatte Temperament – so wie Consuelo es gehabt hatte –, daran bestand kein Zweifel. Ihre Zuneigung zu ihm hatte von Anfang an äußerst stürmische Züge gehabt. Sie war so anders als Susan, sie war hinreißend gewesen, unwiderstehlich. Gewesen? Warum dachte er in der vollkommenen Vergangenheitsform an sie? Beatrice ist hinreißend, murmelte Daniel korrigierend. Aber hingebungsvoll? Nein, Hingabe und Beatrice, das passte so gut zusammen wie Champagner und Kamillentee.

»Meine Scheidung ist endgültig durch«, sagte er laut, um das Thema zu wechseln. »Susan hat mich ganz schön ausgezogen, ein cleveres Luder war sie schon immer. Aber«, er zuckte mit den Achseln, »ich habe von Anfang an gewusst, dass sie mehr am Geld und meinem Status als an meiner Person interessiert war. Wobei sie mein wahres Ich kaum gekannt haben dürfte. Ich habe es schließlich jahrelang gut versteckt.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Weißt du, Susan habe ich mir passend zu meinem Status ausgesucht: schön, kühl, vorzeigbar. Ein richtiges Designerstück für gehobene Ansprüche. So wie meine Hotelentwürfe. Ich habe wenig Talent für Frauen. Mein Gott, Vater, ich wünschte, wir hätten wirklich mehr miteinander gesprochen. All die verlorenen Jahre. Ich hätte gern mehr von dir gehabt als deine Bilder.«

Daniel sprach gegen eine Wand.

Sie war aus weißem Marmor und trug eine schlichte Inschrift in Gold: »Leonhart Demdorfer 1928 – 1998«. Hinter der Platte war – nach spanischer Sitte – die Urne in einer kleinen, tiefen Grabkammer eingeschlossen.

Es war eine besondere Ehre, dass man den Vater auf diesem verlassenen Friedhof direkt an der westlichen Steilküste beigesetzt hatte. Am Ende seines Lebens war Leonhart Derndorfer auf Fuerte ein respektierter und allgemein geschätzter Mann gewesen, der in seinen Bildern die ursprüngliche Schönheit der Insel festgehalten hatte. Eine Schönheit, die sich dem wirklichen Liebhaber erschließt. Sein plötzlicher Tod bei einem Autounfall hatte das Inselparlament in Puerto del Rosario zu einer Gedenkminute veranlasst. Und seinen Sohn Daniel zu einer Rückkehr auf die Insel seiner Geburt.

Er hatte den Auftrag für das Hotel auf Fuerte angenommen, um Abschied vom Vater zu nehmen. Aus dem Abschied war ein neuer Anfang geworden.

»Ich werde deine Finca wieder aufbauen«, wiederholte Daniel mit belegter Stimme. »Ich möchte etwas schaffen, dass wirklich Bestand hat, so wie du es getan hast. Ich möchte ein gutes, wahrhaftiges Leben führen. Vielleicht kann ich sogar noch eine Familie gründen. Mit Beatrice. Sie ist sehr schön. Sie sagt, sie liebt mich.« Er zögerte kurz, dann gab er dem Grabstein einen Klaps. »Adios hombre.«

Fiesta Fatal

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