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1 Liebe Theresa,

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ich liege auf dem Bett und vermisse Dich. Meine Augen sind ganz geschwollen, heiße Tränen laufen mir übers Gesicht. Draußen wütet ein heftiges Sommergewitter.

Heute abend bin ich durch die Straßen gegangen und habe in den Gesichtern aller Frauen nach Dir gesucht, wie an jedem Abend während meines einsamen Exils. Ich fürchte, ich werde Deine lachenden, verschmitzten Augen niemals wiedersehen.

Vorhin habe ich in Greenwich Village mit einer Frau einen Kaffee getrunken. Eine Freundin hatte uns zusammengebracht, überzeugt, daß wir eine Menge gemeinsam hätten, weil wir doch beide „politisch” wären. Wir saßen also im Café; sie redete über die Politik der Demokraten und Seminare und Photographie und Probleme mit ihrer Kooperative und wie sehr sie gegen die Mietpreisbindung sei. Kein Wunder – Papi ist Immobilienmakler.

Ich sah sie an und dachte bei mir, daß ich in den Augen dieser Frau eine Fremde bin. Sie sieht mich an, aber sie nimmt mich nicht wahr. Dann sagte sie schließlich, daß sie die Gesellschaft dafür verabscheut, was sie „Frauen wie mir“ angetan hat – Frauen, die sich selbst so sehr hassen, daß sie meinen, wie Männer aussehen und sich verhalten zu müssen. Ich spürte, wie ich zusammenzuckte und rot wurde, und ich erzählte ihr ganz cool und gelassen, daß es Frauen wie mich schon seit ewigen Zeiten gegeben hätte, bevor es Unterdrückung gab, und daß diese Gesellschaften uns damals akzeptiert hätten, und sie setzte ihr sehr interessiertes Gesicht auf – und außerdem müßte sie jetzt gehen.

Wir brachen also auf und kamen an eine Straßenecke, wo ein paar Bullen einen Obdachlosen fertigmachten. Ich blieb stehen und fing an zu motzen, und sie gingen mit erhobenen Knüppeln auf mich los, und sie zog mich am Gürtel zurück. Ich sah sie nur an, und plötzlich kamen Dinge in mir hoch, von denen ich glaubte, daß ich sie erfolgreich verdrängt hätte. Ich stand da und dachte an Dich, als sähe ich die Bullen, die mich schlagen wollten, gar nicht; mir war, als fiele ich in eine andere Welt zurück, an einen Ort, den ich wiedersehen wollte.

Und plötzlich tat mir das Herz so weh, und mir wurde bewußt, wie lange es her war, daß mein Herz auch nur das Geringste gespürt hatte.

Ich muß heute abend zu Dir nach Hause kommen, Theresa. Doch das geht nicht. Deshalb schreibe ich Dir diesen Brief.

Jetzt fällt mir dieser Tag wieder ein, vor Jahren, als ich in der Konservenfabrik in Buffalo anfing. Du warst schon ein paar Monate dort, und ich erinnere mich, wie Deine Augen meinen Blick einfingen und mit mir spielten, bevor sie mich wieder freigaben. Ich sollte dem Vorarbeiter folgen, um ein paar Formulare auszufüllen, aber ich war ganz damit beschäftigt, mich zu fragen, welche Farbe Dein Haar unter diesem weißen Papiernetz wohl hatte und wie es aussehen und sich anfühlen würde, wenn es gelöst war. Und Du hast leise gelacht, als der Vorarbeiter sich umdrehte und sagte: „Kommen Sie jetzt endlich?“

Wir KVs waren höllisch wütend, als wir hörten, daß Du rausgeschmissen worden warst, weil Du Dich gewehrt hattest, als der Boss Deine Brüste begrapschen wollte. Ich hab noch ein paar Tage weiter an der Rampe entladen, aber ich war ziemlich niedergeschlagen. Es war einfach nicht dasselbe ohne Dich.

An dem Abend, als ich in diesen neuen Club auf der West Side ging, konnte ich es kaum glauben. Da standest Du, an die Bar gelehnt, in diesen unbeschreiblich engen Jeans und mit langem gelöstem Haar. Und wieder dieser Blick in Deinen Augen. Du hast mich nicht nur wiedererkannt, Dir hat auch gefallen, was Du sahst. Und diesmal waren wir auf unserem Terrain. Ich war frei, mich so zu bewegen, wie Du es wolltest, und ich war froh, daß ich mich in Schale geworfen hatte.

Auf unserem Terrain … „Tanzt du mit mir?“

Du hast nicht ja oder nein gesagt, hast mich nur mit den Augen provoziert, meine Krawatte gerichtet, mir den Kragen glattgestrichen und mich an der Hand genommen. Schon bevor Du Dich an mich gepreßt hast, hattest Du mein Herz erobert. Tammy sang gerade „Stand by your man“, und wir änderten im Geiste jedes „he“ in ein „she“, damit es paßte. Nachdem Du Dich so an mich gepreßt hattest, war Dir mehr als nur mein Herz gewiß. Ich verzehrte mich nach Dir, und das gefiel Dir. Mir auch.

Die älteren Butches warnten mich: Wenn Du Deine Ehe nicht aufs Spiel setzen willst, geh nicht in die Bars. Aber ich war immer monogam gewesen. Außerdem war es unsere Gemeinschaft, die einzige, die wir hatten, also gingen wir jedes Wochenende hin.

In den Bars gab es zwei Arten von Prügeleien. An den meisten Wochenenden brach mindestens eine von ihnen aus, an manchen beide. Es gab die Prügeleien der Butches – geprägt von Suff, Scham und eifersüchtiger Unsicherheit. Manchmal waren die Kämpfe furchtbar und breiteten sich aus wie ein Netz, in dem sich jede in der Bar verfing – wie in der Nacht, in der Heddy ihr Auge verlor, als sie von einem Barhocker getroffen wurde.

Ich war richtig stolz, daß ich in all den Jahren nie eine Butch geschlagen habe. Weißt Du, ich habe sie eben auch geliebt, und ich verstand ihren Schmerz und ihre Scham, weil ich ihnen so ähnlich war. Ich liebte die tiefen Linien, die sich in ihre Gesichter eingegraben hatten, und ihre gebeugten, arbeitsmüden Schultern. Manchmal schaute ich in den Spiegel und fragte mich, wie ich in ihrem Alter wohl aussehen würde. Heute weiß ich es.

Sie haben mich auch geliebt, auf ihre Art. Sie haben mich beschützt, weil sie wußten, daß ich keine „Samstagabend-Butch“ war. Die Wochenend-Butches hatten Angst vor mir, weil ich eine Stone Butch war. Hätten sie bloß gewußt, wie machtlos ich mich in Wirklichkeit fühlte! Aber die älteren Butches kannten den langen Weg, der vor mir lag, und es wäre ihnen am liebsten gewesen, wenn ich ihn nicht hätte gehen müssen, weil er so schmerzvoll war.

Wenn ich im Anzug und mit hängenden Schultern in die Bar kam, sagten sie zu mir: „Sei stolz auf dich!“, und dann rückten sie mir den Schlips zurecht, so ähnlich wie Du. Ich war wie sie; sie wußten, daß ich keine Wahl hatte. Deshalb habe ich mich nie mit ihnen geprügelt. In den Bars schlugen wir einander auf die Schulter, und auf der Arbeit gaben wir uns gegenseitig Rückendeckung.

Es gab aber auch Zeiten, in denen unsere wirklichen Feinde kamen: Trupps besoffener Matrosen, faschistische Schlägertypen, Psychopathen und die Bullen. Wir kriegten es jedesmal sofort mit, weil immer schnell jemand den Stecker der Jukebox rauszog. Egal, wie oft es schon passiert war, wir stöhnten alle „O nein …“, wenn die Musik abbrach, und dann war klar, daß es jetzt zur Sache ging.

Wenn die Fanatiker kamen, war eine Prügelei angesagt, und wir machten alle mit. Wir kämpften hart – Femmes und Butches, Frauen und Männer gemeinsam.

Setzte die Musik aus und die Bullen standen in der Tür, stöpselte jemand die Jukebox wieder ein, und wir tauschten Tanzpartnerinnen. Wir in Schlips und Kragen taten uns mit den Drag Queens in ihren Kleidern und hochhackigen Pumps zusammen. Heute können wir uns kaum noch vorstellen, daß es damals illegal war, wenn Frauen mit Frauen oder Männer mit Männern tanzten. Wenn die Musik endete, verbeugten wir Butches uns, unsere Partnerinnen knicksten, und wir kehrten zu unseren Plätzen zurück, zu unseren Liebsten und unseren Drinks, und warteten darauf, daß das Schicksal seinen Lauf nahm.

Dabei muß ich wieder an Deine Hand auf meinem Gürtel unter meinem Jackett denken. Da lag sie die ganze Zeit, während die Bullen da waren. „Ganz ruhig, Baby. Bleib bei mir, Schatz, bleib cool“, hast Du mir dann ins Ohr gesungen wie ein Liebeslied für Kriegerinnen, die sich genau überlegen müssen, wann sie in den Kampf ziehen, wenn sie überleben wollen.

Weißt Du noch, der Abend, an dem Du zu Hause bei mir geblieben bist, weil ich krank war? Das war der Abend, an dem die Bullen sich die härteste Butch aussuchten, um sie mit ihren Demütigungen zu vernichten, eine Frau, von der alle sagten, daß sie „im Regenmantel duschte“. Wir erfuhren, daß sie sie vor allen Leuten in der Bar nackt ausgezogen und sie ausgelacht haben, als sie ihre Blöße bedecken wollte. Sie sei später verrückt geworden, hieß es. Dann hat sie sich aufgehängt.

Was hätte ich wohl getan, wenn ich in jener Nacht dort gewesen wäre?

Ich muß an die Razzien in den Bars in Kanada denken. Wenn die Samstagabend-Butches in die Transporter verfrachtet wurden, kicherten sie albern, versuchten, ihr Haar zu richten und Klamotten zu tauschen, damit sie zu den Femmes in den Bau kamen – sie sagten, das wäre „wie im siebten Himmel“. Laut Gesetz mußten wir mindestens drei Teile Frauenkleidung tragen.

Wir haben nie die Kleidung getauscht. Auch die Drag Queens nicht. Genau wie Du wußten wir, was uns bevorstand. Wir brauchten unsere aufgekrempelten Hemdsärmel und unser mit Pomade zurückgekämmtes Haar, um das, was kam, zu überleben. Die Hände hatten sie uns auf den Rücken gefesselt. Du hattest die Handschellen vor dem Körper. Du hast mir die Krawatte gelockert, den Kragen aufgeknöpft und mein Gesicht berührt. Ich sah den Schmerz und die Angst um mich in Deinem Gesicht, und ich flüsterte, es würde alles gut werden. Wir wußten, daß das nicht stimmte.

Ich habe Dir nie erzählt, was sie uns dort angetan haben – Drag Queens und Butches in einer Zelle –, aber Du wußtest es ohnehin. Sie schleiften unsere Brüder einen nach dem anderen aus der Zelle, ohrfeigten und schlugen sie, schlossen die Zellentüren schnell hinter sich zu, für den Fall, daß wir uns nicht mehr beherrschen konnten und versuchen würden, sie aufzuhalten – als ob wir das gekonnt hätten. Sie fesselten einem Bruder die Hände an die Fußgelenke oder ketteten ihn mit dem Gesicht an die Gitterstäbe, und wir mußten es mitansehen. Manchmal fingen wir den Blick des gefolterten Opfers auf und gaben ihm sanft zu verstehen: „Ich bin bei dir, Schätzchen, sieh mich an, ist schon gut, wir bringen dich nach Hause.“

Wir weinten nie vor den Bullen. Wir wußten, daß wir die nächsten sein würden.

Ob ich überlebt habe? Hab ich wohl. Aber nur, weil ich wußte, daß ich vielleicht wieder zu Dir nach Hause kommen würde.

Montags ließen sie uns dann wieder raus, eine nach dem anderen. Ohne Anklage zu erheben. Zu spät, um sich auf der Arbeit krank zu melden. Ohne Geld mußten wir trampen, die Grenze zu Fuß überqueren, in verknitterten Klamotten, blutverschmiert, uns nach einer Dusche sehnend, verletzt und verängstigt.

Ich wußte, Du würdest da sein, wenn ich es nur bis nach Hause schaffte. Du hast mir ein duftendes Schaumbad eingelassen. Mir eine frische weiße Unterhose und ein T-Shirt rausgelegt und mich allein gelassen, damit ich die erste Schicht Scham abwaschen konnte.

Es war jedesmal dasselbe. Ich zog die Unterhose an und konnte mir gerade noch das T-Shirt überstreifen, als Du auch schon einen Grund fandst, ins Badezimmer zu kommen, um etwas zu holen oder wegzuräumen. Mit einem Blick hast Du Dir die Wunden an meinem Körper wie eine Straßenkarte eingeprägt – die Schnitte, die Blutergüsse, die Verbrennungen von Zigaretten.

Später im Bett hast Du mich gehalten, mich überall gestreichelt, die zartesten Berührungen für die Stellen reserviert, wo ich verletzt war; Du kanntest jeden einzelnen schmerzenden Fleck in- und auswendig. Du hast mich zuerst nur sanft gestreichelt, weil Du wußtest, daß ich noch zu fertig war, um mich sexy zu fühlen. Aber langsam und vorsichtig hast Du mir meinen Stolz wiedergegeben, indem Du mir zeigtest, wie sehr Du mich begehrtest. Du wußtest, daß Du Wochen brauchen würdest, das Eis wieder zum Schmelzen zu bringen, den Stein zu erweichen.

Ich habe in letzter Zeit Geschichten von Frauen gelesen, die auf ihre Stone Butches so wütend sind, daß sie sich sogar über die Leidenschaft lustig machen, die sie zeigen, wenn sie endlich vertrauen und sich berühren lassen können. Und ich frage mich, ob es Dir damals weh getan hat, wenn ich mich nicht von Dir berühren lassen konnte? Ich hoffe nicht. Du hast es zumindest nie gezeigt. Ich glaube, Du wußtest, daß nicht Du es warst, vor der ich mich verschloß. Du hast mein Stone-Ich wie eine Wunde behandelt, die geheilt werden mußte. Danke. Das hat nach Dir nie wieder eine getan. Wenn Du heute abend hier wärst … na ja, ein Wunschtraum, oder?

Das alles habe ich Dir nie gesagt.

Ich erinnere mich daran, wie ich einmal allein aufgegriffen wurde, auf fremdem Terrain. Du zuckst wahrscheinlich jetzt schon zusammen, aber ich muß Dir das erzählen. Es war der Abend, an dem wir neunzig Meilen gefahren sind, um in einer Bar Freundinnen zu treffen, die sich dann nie haben blicken lassen. Als die Polizei den Club stürmte, waren wir „allein“, und der Bulle mit seinen goldenen Streifen an der Uniform kam direkt auf mich zu und befahl mir aufzustehen. Kein Wunder, ich war an dem Abend die einzige Butch dort.

Er begrapschte mich überall, lüpfte den Bund meiner Unterhose und forderte seine Männer auf, mir Handschellen anzulegen – ich trug keine drei Teile Damenbekleidung. Ich wollte gleich losschlagen, weil ich wußte, daß diese Chance im nächsten Moment vertan sein würde. Ich wußte aber auch, daß alle in dieser Bar Prügel bekommen würden, wenn ich mich verteidigte, also blieb ich einfach stehen. Sie hatten Dir die Arme auf den Rücken gefesselt. Ein Bulle hatte Dich im Schwitzkasten. Ich weiß noch, wie Du mich angesehen hast. Es tut mir heute noch weh.

Sie fesselten mir die Arme so fest auf den Rücken, daß ich fast aufgeschrien hätte. Dann zog dieser Bulle ganz langsam seinen Reißverschluß auf, grinste schleimig und befahl mir, mich hinzuknien. Erst dachte ich: Ich kann nicht! Dann sagte ich laut zu mir selbst, zu Dir und zu ihm: „Ich will nicht!“ Ich habe Dir das nie gesagt, aber in diesem Augenblick hat sich etwas in mir verändert. Ich erkannte den Unterschied zwischen dem, was ich nicht tun kann, und dem, was ich nicht tun will.

Für diese Lehre mußte ich bezahlen. Die Einzelheiten muß ich Dir nicht erzählen.

Als ich am nächsten Morgen aus dem Knast kam, warst Du da. Du hast mich auf Kaution rausgeholt. Keine Anzeige, sie haben nur Dein Geld behalten. Du hattest die ganze Nacht auf der Wache gewartet. Nur ich weiß, wie schwer es für Dich gewesen sein muß, ihren anzüglichen Blicken, ihren Provokationen, ihren Drohungen standzuhalten. Ich wußte, daß Du Dich bemüht hast, etwas aus dem Zellentrakt zu hören, und bei jedem Geräusch zusammengezuckt bist. Du hast gebetet, mich nicht schreien hören zu müssen. Ich habe nicht geschrien.

Als wir nach draußen auf den Parkplatz kamen, bist Du stehengeblieben, hast mir leicht die Hände auf die Schultern gelegt und bist meinem Blick ausgewichen. Sanft hast Du die blutigen Stellen auf meinem Hemd berührt und gesagt: „Diese Flecken krieg ich nie wieder raus.“

Und wehe, es denkt jemand, Dein Leben sei darauf beschränkt gewesen, Dich um die Sauberkeit meiner Hemdkragen zu sorgen.

Ich wußte genau, was Du meintest. Es war eine seltsam zarte Art zu sagen – oder nicht zu sagen –, was Du fühltest. Ein bißchen wie meine Art, gefühlsmäßig dichtzumachen, wenn ich Angst habe, verletzt bin, mich hilflos fühle und dann komische unwichtige Sachen sage, die völlig zusammenhanglos erscheinen.

Während der Fahrt nach Hause hatte ich die ganze Zeit den Kopf in Deinem Schoß, und Du hast mein Gesicht gestreichelt. Du hast mir ein Bad eingelassen. Frische Unterwäsche rausgelegt. Mich ins Bett gebracht. Mich vorsichtig gestreichelt und sanft gehalten.

Später in der Nacht bin ich noch mal aufgewacht und stellte fest, daß ich allein im Bett war. Du hast mit einem Glas am Küchentisch gesessen, den Kopf in die Hände gestützt. Du hast geweint. Ich hab Dich in die Arme genommen und festgehalten, und Du hast Dich gewehrt und mich mit den Fäusten bearbeitet, weil an den eigentlichen Feind nicht ranzukommen war. Dann fielen Dir meine Prellungen ein, und Du hast noch heftiger geweint: „Es ist meine Schuld – ich konnte sie nicht davon abhalten!“

Ich hatte immer vor, es Dir zu sagen: In diesem Augenblick wußte ich, daß Du wirklich verstanden hast, wie sich mein Leben anfühlte. Das Ersticken an der Wut, das Gefühl der Machtlosigkeit, die Unfähigkeit, mich oder die, die mir am wichtigsten waren, zu beschützen, und doch immer wieder zurückzuschlagen, nicht aufgeben zu wollen. Damals wußte ich nicht, wie ich Dir das sagen sollte. Ich sagte nur: „Es wird schon werden, es wird alles gut.“ Und dann lächelten wir ironisch, und ich brachte Dich zurück in unser Bett und liebte Dich so gut ich in meinem Zustand konnte. In jener Nacht hast Du wohlweislich nicht versucht, mich zu berühren. Du bist mir nur mit den Fingern durchs Haar gefahren und hast geweint und geweint.

Wann haben sich unsere Wege getrennt, süße Kriegerin? Wir dachten, wir hätten den Befreiungskrieg gewonnen, als wir uns das Wort gay zu eigen gemacht hatten. Doch dann kamen plötzlich die Studierten aus ihren Löchern hervor und erklärten uns die neuen Spielregeln. (Wer hat sie eigentlich dazu ermächtigt?)

Sie warfen uns raus, sorgten dafür, daß wir uns für unser Aussehen schämten. Sie sagten, wir wären Chauvinistenschweine, der Feind. Es waren Frauen, denen sie auf diese Weise das Herz brachen. Es war nicht schwer, uns wegzuschicken, wir gingen widerstandslos.

Damals fing ich an, als Mann aufzutreten. Seltsam, vom eigenen Geschlecht ausgeschlossen zu sein und in einem Exil zu wohnen, das niemals meine Heimat sein wird.

Du warst auch verbannt, in ein anderes Land, mit Deinem Geschlecht, und doch zwangsweise von den Frauen getrennt, die Du so liebtest, wie Du Dich selbst zu lieben versuchtest.

Seit mehr als zwanzig Jahren lebe ich jetzt in diesem einsamen Land und frage mich, was wohl aus Dir geworden ist. Hast Du Dich samstags abends verschämt abgeschminkt? Bist Du in Wut entbrannt, wenn eine Frau zu Dir sagte: „Wenn ich einen Mann wollte, wäre ich mit einem richtigen Mann zusammen.“?

Gehst Du jetzt anschaffen? Arbeitest Du als Kellnerin, oder lernst Du Word Perfect 5.1?

Bist Du in einer Lesbenbar und hältst verstohlen Ausschau nach einer Butch? Reden die Frauen da auch über die Politik der Demokraten und über Seminare und Kooperativen? Bist Du mit Frauen zusammen, die nur einmal im Monat bluten?

Oder lebst Du in einer anderen Stadt, bist verheiratet und liegst neben einem arbeitslosen Fabrikarbeiter, der mir viel ähnlicher ist als sie, und lauschst auf das gleichmäßige Atmen Deiner schlafenden Kinder? Pflegst Du seine seelischen Wunden, so wie Du meine zu heilen versucht hast?

Denkst Du manchmal an mich, in der Kühle der Nacht?

Ich schreibe schon seit Stunden an diesem Brief. Meine Rippen tun mir ganz schön weh von einer Schlägerei, die ich kürzlich hatte. Du weißt schon.

Ich hätte nie so lange überleben können, wenn ich Deine Liebe nicht gekannt hätte. Und doch vermisse ich Dich immer noch schmerzlich. Und brauche Dich so sehr.

Nur Du könntest dieses Eis zum Schmelzen bringen. Kommst Du je zurück?

Das Gewitter ist jetzt vorbei. Ein rosafarbenes Leuchten breitet sich am Horizont aus. Ich denke an die Nächte, in denen ich Dich tief und langsam gefickt habe, bis der Himmel genau diese Farbe hatte.

Ich muß aufhören, an Dich zu denken, der Schmerz verschlingt mich. Ich muß die Erinnerung an Dich weglegen wie ein wertvolles altes Foto. Es gibt noch so vieles, was ich Dir sagen, mit Dir teilen will.

Da ich Dir den Brief nicht mit der Post schicken kann, schicke ich ihn an einen Ort, wo sie Erinnerungen von Frauen bewahren. Vielleicht wirst Du eines Tages, auf dem Weg durch diese große Stadt, dort einkehren und ihn lesen. Vielleicht auch nicht.

Gute Nacht, meine Liebste.

Stone Butch Blues

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