Читать книгу Stone Butch Blues - Leslie Feinberg - Страница 7

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Fast ein ganzes Jahr verging, bevor ich den Mut aufbrachte, mich bei der Auskunft nach der Adresse von Tifka’s zu erkundigen. Schließlich stand ich vor der Bar, zitternd vor Angst. Ich fragte mich, wieso ich dachte, dies könnte ein Ort sein, wo ich hinpaßte. Und wenn es nicht so war?

Ich trug mein blau-rot gestreiftes Hemd, ein marineblaues Jackett, das meine Brüste kaschieren sollte, schwarze gebügelte Chinos und schwarze Stiefel, weil ich keine guten Schuhe besaß.

Als ich eintrat, befand ich mich ganz einfach in einer Bar. Durch den Rauchschleier sah ich Gesichter, die herüberblickten und mich von oben bis unten musterten. Es gab kein Zurück mehr, und ich wollte auch nicht mehr zurück. Vielleicht hatte ich hier zum ersten Mal meine Leute gefunden. Ich wußte bloß nicht, wie ich es anstellen sollte, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Ich schob mich bis zur Theke vor und bestellte ein Genny.

„Wie alt bist du?“ fragte die Barfrau.

„Alt genug“, entgegnete ich und legte das Geld hin. Ein Grinsen erschien auf den anderen Gesichtern an der Theke. Ich trank einen Schluck Bier und versuchte, cool zu wirken. Eine ältere Tunte musterte mich eingehend. Ich nahm mein Bier und steuerte auf das verräucherte Hinterzimmer zu.

Was ich da sah, trieb mir die Tränen in die Augen, die ich jahrelang zurückgehalten hatte: starke, kräftig gebaute Frauen in Jacketts und Krawatten. Ihre Haare waren zu perfekten Elvis-Tollen zurückgekämmt. Die stattlichsten Frauen, die ich je gesehen hatte! Einige waren in langsame Tanzbewegungen versunken, mit Frauen in engen Kleidern und hohen Absätzen, die sie sanft berührten. Ich empfand ein schmerzliches Verlangen beim bloßen Zusehen.

Meine kühnsten Träume hatten sich erfüllt.

„Warst du schon mal in so einer Bar?“ fragte mich die Tunte.

„Schon oft“, antwortete ich schnell. Sie lächelte.

Dann mußte ich sie so dringend etwas fragen, daß ich vergaß, meine Lüge aufrechtzuerhalten. „Kann ich wirklich einer Frau einen Drink ausgeben oder sie zum Tanzen auffordern?“

„Klar, Schätzchen“, antwortete sie, „aber nur die Femmes.“ Sie lachte und sagte mir, sie hieße Mona.

Ich schaute wie gebannt auf eine Frau, die allein an einem Tisch saß. Gott, wie schön sie war! Ich wollte mit ihr tanzen. Die Four Tops sangen „Baby, I need your loving“. Ich wußte nicht genau, ob ich tanzen konnte, aber ich ging schnurstracks auf sie zu, bevor mich der Mut verließ.

„Tanzt du mit mir?“ fragte ich.

Mona und die Rausschmeißerin trugen mich praktisch aus dem Hinterzimmer in die vordere Bar und setzten mich auf einen Barhocker. Mona legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir in die Augen. „Kid, es gibt da ein paar Dinge, die ich dir erklären sollte. Es ist meine Schuld. Ich habe dir gesagt, du könntest ruhig eine Frau auffordern. Aber das erste, was du lernen mußt, ist: Frag niemals die Frau von Butch Al!“

Ich machte mir in Gedanken gerade einen Knoten ins Taschentuch, als plötzlich Butch Als Schatten auf mich fiel. Die Rausschmeißerin trat zwischen uns, und die Transvestiten scheuchten Butch Al ins Hinterzimmer. Es ging alles sehr schnell, aber der kurze Blick auf diese Frau hatte mich bereits umgehauen. Butch Al war der Inbegriff von Macht, eine Erinnerung, die ich weder festhalten noch vergessen mochte.

Noch lange, nachdem die Aufregung des Augenblicks für alle anderen verflogen war, saß ich zitternd an der Theke. Ich fühlte mich wie im Exil, noch einsamer, als ich gewesen war, bevor ich die Bar betreten hatte, denn jetzt wußte ich, wo ich nicht dazugehörte.

Ein rotes Licht leuchtete über der Theke auf. Mona ergriff meine Hand und zerrte mich durch das Hinterzimmer in die Damentoilette. Sie ließ den Klodeckel runter und bedeutete mir hinaufzuklettern. Sie schob die Klotür halb zu und sagte, ich solle da drinbleiben und mich ruhig verhalten. Die Bullen wären da. Da hockte ich also. Lange. Erst als ich eine Femme, die die Klotür öffnete, halb zu Tode erschreckte, begriff ich, daß die Polizei schon längst wieder fort war, das Schmiergeld des Barbesitzers in der Tasche. Kein Mensch hatte daran gedacht, daß ich noch auf der Toilette war.

Als ich vom Klo kam, lachte das ganze Hinterzimmer auf meine Kosten. Ich zog mich wieder in die vordere Bar zurück und hielt mich an einem Bier fest.

Später fühlte ich eine Hand auf meinem Arm. Es war jene schöne Frau, die ich aufgefordert hatte. Butch Als Femme.

„Los, Schätzchen, komm rüber zu uns“, bot sie mir an.

„Nein, ich bleib lieber hier“, sagte ich, so tapfer ich konnte. Aber sie legte sanft ihren Arm um mich und zog mich vom Barhocker.

„Na komm, komm zu uns. Ist schon okay. Al tut dir nichts“, beruhigte sie mich. „Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Das bezweifelte ich, zumal Butch Al aufstand, als ich an ihren Tisch trat.

Sie war eine imposante Frau, die mich an Größe und Statur überragte. Ich selbst war ja fast noch ein Kind. Die Stärke, die sich in ihrem Gesicht zeigte, gefiel mir sofort. Ihr energisches Kinn. Die Wut in ihren Augen. Ihre Körperhaltung. Das Sportsakko betonte und verhüllte ihren Körper zugleich. Rundungen und Falten. Ein breiter Rücken, ein massiger Nacken. Große, fest eingebundene Brüste. Weißes Hemd, Krawatte, Jackett. Hüften verborgen.

Sie musterte mich von oben bis unten. Ich stellte mich breitbeiniger hin. Sie nahm das zur Kenntnis. Ihr Mund verweigerte ein Lächeln, aber ihre Augen schienen dem zu widersprechen. Sie streckte ihre kräftige Hand aus. Ich ergriff sie. Die Festigkeit ihres Händedrucks überraschte mich. Sie verstärkte den Druck, ich erwiderte ihn. Ich war froh, daß ich keinen Ring trug. Ihr Händedruck wurde noch fester, meiner ebenfalls. Endlich lächelte sie.

„Es besteht Hoffnung“, sagte sie. Ich wurde rot, weil ich ihre Worte so dankbar aufsaugte.

Ich schätze, man könnte jenen Händedruck als Prahlerei abtun. Aber damals bedeutete er mir sehr viel, und das tut er heute noch. Ein solcher Händedruck ist mehr als eine Methode, die Stärke deines Gegenübers zu testen. Ein solcher Händedruck ist eine Herausforderung. Mit ihm spürst du die Stärke der anderen durch zunehmende Ermutigung auf. Wenn die maximale Stärke erreicht und Gleichheit hergestellt ist, seid ihr einander wirklich begegnet.

Ich war Butch Al wirklich begegnet. Ich war so aufgeregt. Und eingeschüchtert. Das hätte ich nicht zu sein brauchen, denn niemand ist jemals netter zu mir gewesen. Sie war zwar schroff, aber sie würzte ihre Schroffheit, indem sie mir das Haar zauste, mich umarmte und meiner Wange etwas mehr als ein Tätscheln und doch weniger als eine Ohrfeige gab. Das tat gut. Ich mochte die Zuneigung in ihrer Stimme, wenn sie mich Kid nannte, was sie häufig tat. Sie nahm mich unter ihre Fittiche und brachte mir all das bei, was eine Baby Butch wie ich ihrer Meinung nach wissen mußte, bevor sie sich auf diese gefährliche und schmerzensreiche Reise begab. Auf ihre Art war sie dabei sehr geduldig.

Damals konnte man den Anteil der Lesben und Schwulen in den Bars im Rotlichtbezirk in Prozent ausdrücken. Tifka’s war zu ungefähr fünfundzwanzig Prozent homosexuell. Das hieß, daß uns ein Viertel der Tische und der Tanzfläche zustanden, doch dieser Raum wurde uns ständig streitig gemacht. Butch Al lehrte mich, wie wir unser Territorium schützten.

Ich lernte, die Bullen als Todfeinde zu fürchten und die Zuhälter zu hassen, die das Leben so vieler Frauen, die wir liebten, kontrollierten. Und ich lernte zu lachen. In jenem Sommer waren die Freitag- und Samstagabende voller Lachen und zumeist gutmütiger Neckereien.

Die Tunten setzten sich auf meinen Schoß, und wir posierten für Polaroids. Wir fanden erst viel später heraus, daß der Typ, der sie gemacht hatte, ein eingeschleuster Bulle war. Ich konnte die alten Bulldagger betrachten und in ihnen meine Zukunft erkennen. Und ich lernte, was ich von einer anderen Frau wollte, indem ich Butch Al und Jacqueline, ihre Geliebte, beobachtete.

Die beiden erlaubten mir, den ganzen Sommer mit ihnen zusammenzusein. Ich hatte meinen Eltern erzählt, daß ich freitags und samstags abends doppelte Schichten arbeitete, „um fürs College zu sparen“, und bei einer Schulfreundin übernachtete, die in der Nähe meiner Arbeitsstelle wohnte. Sie nahmen mir die Geschichte ab. Die ganze Woche über zählte ich die Stunden bis zum Schichtende am Freitagabend, denn dann konnte ich mich wieder auf den Weg nach Niagara Falls machen.

Wenn die Bar in den frühen Morgenstunden zumachte, gingen wir ziemlich angeheitert die Straße runter, Jacqueline in unserer Mitte. Sie hob dann den Kopf gen Himmel und sagte: „Danke, lieber Gott, für diese beiden gutaussehenden Butches.“ Al und ich beugten uns dann vor und zwinkerten einander zu, und wir lachten aus purer Freude darüber, daß es uns gab und daß wir zusammen waren.

An den Wochenenden ließen sie mich auf ihrem alten Sofa schlafen. Um vier Uhr morgens briet Jacqueline Eier, während Al mir was beibrachte. Es war immer dieselbe Lektion: Werde hart. Al sagte nie genau, was mir bevorstand. Es wurde nie ausgesprochen. Aber ich begriff, daß es etwas Schreckliches sein mußte. Ich wußte, daß sie sich Sorgen machte, ob ich es überleben würde. Ich war nicht sicher, ob ich dazu schon in der Lage war. Als Botschaft lautete: Du bist es noch nicht!

Das war nicht sehr ermutigend. Aber ich wußte, daß Als Lektionen so hart waren, weil es ihr dringlich schien, daß ich so schnell wie möglich auf dieses schwierige Leben vorbereitet wurde. Sie wollte mich nicht verletzen. Sie nährte meine Butch-Stärke so, wie sie es am besten verstand. Und, wie sie häufig betonte, für sie hatte das niemand getan, als sie eine Baby Butch gewesen war, und sie hatte trotzdem überlebt. Das war merkwürdig beruhigend. Butch Al war meine Mentorin.

Al und Jackie bauten mich auf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jacqueline schnitt mir in der Küche die Haare. Sie nahmen mich mit in die Second-Hand-Läden, um mir mein erstes Sportsakko mit Krawatte zu kaufen. Al ging die Kleiderständer durch und suchte ein Jackett nach dem anderen aus. Ich probierte sie der Reihe nach an. Jackie legte den Kopf schief und lehnte eines nach dem anderen ab. Schließlich strich sie mir übers Revers und nickte zufrieden. Al stieß einen leisen anerkennenden Pfiff aus. Ich war im siebten Butch-Himmel.

Und dann die Krawatte. Al suchte sie für mich aus. Einen schmalen schwarzen Seidenschlips. „Mit einem schwarzen Schlips kannst du nichts falsch machen“, verkündete sie mir feierlich. Und natürlich hatte sie recht.

Es machte schon Spaß. Aber die Sache mit dem Sex lag mir auf der Seele, und Al wußte das. Eines Tages, als wir am Küchentisch saßen, holte Al einen Pappkarton hervor und meinte, ich sollte ihn aufmachen. Er enthielt einen Gummi-Dildo. Ich war schockiert.

„Du weißt, was das ist?“ fragte sie mich.

„Klar“, sagte ich.

„Du weißt, wie man ihn benutzt?“

„Klar“, log ich.

Jacqueline klapperte mit dem Geschirr. „Mein Gott, Al, laß die Kleine doch mal in Ruhe!“

„Eine Butch muß Bescheid wissen“, beharrte Al.

Jackie warf das Geschirrtuch in die Ecke und verließ entnervt die Küche.

Dies sollte die Butch-Version eines Aufklärungsgesprächs werden. Al redete, und ich hörte zu. „Weißt du, wovon ich rede?“ drängte sie.

„Klar“, sagte ich. „Klar.“

Als Jackie in die Küche zurückkam, war Al überzeugt, mir genug Informationen vermittelt zu haben.

„Noch eins, Kid“, fügte sie dann hinzu. „Benimm dich nicht wie diese Bulldagger, die sich das Ding umschnallen und ohne Rücksicht auf Verluste loslegen. Zeig den gebührenden Anstand, verstehst du, was ich meine?“

„Klar“, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung.

Al ging aus der Küche, um vor dem Schlafengehen noch zu duschen. Jacqueline trocknete weiter das Geschirr ab, bis die Röte aus meinem Gesicht gewichen war und meine Schläfen aufgehört hatten zu pochen. Sie setzte sich neben mich auf einen Küchenstuhl. „Hast du verstanden, was Al dir erzählt hat, Schätzchen?“

„Klar“, sagte ich und schwor mir, das nie wieder zu sagen.

„Gibt es da noch etwas, was du nicht verstehst?“

„Also“, sagte ich langsam, „es klingt, als ob man ein bißchen üben muß, aber ich habe eine ungefähre Vorstellung. Ich meine, das mit vorne und hinten und oben und unten hört sich so an, na ja, als müßte ich es üben, bis es richtig klappt.“

Jacqueline machte ein verwirrtes Gesicht. Dann lachte sie, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Schätzchen“, fing sie an, aber sie mußte so lachen, daß sie nicht weiterreden konnte. „Du kannst das Ficken doch nicht nach dem Mechanik-Lehrbuch lernen. So wird eine Butch keine gute Liebhaberin.“

Aha. „Und wie wird eine Butch eine gute Liebhaberin?“ fragte ich und versuchte dabei so zu tun, als wäre mir die Antwort nicht besonders wichtig.

Ihr Blick wurde weicher. „Das ist schwer zu erklären. Ich glaube, eine gute Liebhaberin respektiert die Femme. Sie hört auf den Körper ihrer Femme. Sie achtet darauf, auch wenn es härter zur Sache geht, daß die Femme genau das auch will und daß sie selbst dennoch aus einer inneren Sanftheit heraus handelt. Kannst du das nachvollziehen?“

Das konnte ich nicht. Das war nicht die Art von Information, die ich gewollt hatte. Es stellte sich jedoch heraus, daß das genau die Information war, die ich gebraucht hatte. Um das zu begreifen, mußte ich allerdings mein ganzes Leben darüber nachdenken.

Jacqueline nahm mir den Gummi-Dildo aus der Hand und legte ihn mir vorsichtig auf den Oberschenkel. Meine Körpertemperatur stieg. Sie berührte ihn sanft, als wäre er etwas wirklich Schönes.

„Weißt du, damit könntest du bewirken, daß sich eine Frau richtig gut fühlt. Vielleicht besser als je zuvor in ihrem Leben.“ Sie hörte auf, den Dildo zu streicheln. „Du könntest sie aber auch sehr verletzen und an die anderen Situationen in ihrem Leben erinnern, in denen sie verletzt worden ist. Daran mußt du jedesmal denken, wenn du ihn umschnallst. Dann wirst du eine gute Liebhaberin.“

Ich wartete, hoffte auf mehr. Doch Jackie stand auf und machte sich in der Küche zu schaffen. Ich ging zu Bett. Ich versuchte, mir jedes Wort, das mir gesagt worden war, unauslöschlich einzuprägen, bis ich einschlief.

Alle in der Bar kriegten es mit, als Monique anfing, mit mir zu flirten. Monique jagte mir höllische Angst ein. Jacqueline hatte einmal gesagt, daß Monique Sex wie eine Waffe benutzte. Wollte Monique mich wirklich? Die Butches sagten es, also mußte es stimmen. Irgendwie wußten alle sofort, daß ich meine Butch-Jungfräulichkeit bei Monique verlieren würde.

Am Freitagabend schlugen die Butches mir auf die Schultern, rückten meine Krawatte zurecht und schickten mich rüber an Moniques Tisch. Als wir zusammen die Bar verließen, bemerkte ich, daß mich keine der Femmes ermunterte. Warum wich Jacqueline meinem Blick aus? Sie klopfte nur mit ihren langen lackierten Fingernägeln an ihr Whiskyglas und starrte es an, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Ahnte sie die bevorstehende Tragödie?

Am nächsten Abend ging ich später als sonst in die Bar und hoffte, daß Monique und ihre Freundinnen nicht da wären. Doch sie waren da. Ich schlich mich zu unserem Tisch und setzte mich. Niemand wußte, was in der letzten Nacht passiert oder nicht passiert war. Aber alle wußten, daß irgend etwas absolut nicht stimmte.

Ich saß da und ertrank in meiner Scham, als ich an die vergangene Nacht dachte. Als wir bei Monique zu Hause angekommen waren, war ich schon ganz verängstigt gewesen. Mir war klar geworden, daß ich gar nicht genau wußte, was Sex eigentlich war. Womit und wie fing es an? Was wurde von mir erwartet? Und Monique jagte mir eine Höllenangst ein. Plötzlich überlegte ich es mir anders. Ich machte einen Rückzieher. Ich plapperte nervös drauflos. Monique grinste süffisant. Als ich vom Sofa zu einem Stuhl wechselte, folgte sie mir. „Was is’n?“ spottete sie. „Magst du mich nicht, Schätzchen? Was is’n los, ey!“ Ich redete belangloses Zeug, bis Monique entnervt aufstand. „Mach, daß du hier rauskommst!“ Ihre Stimme klang angewidert. Erleichtert murmelte ich irgendwelche Ausflüchte und rannte aus dem Haus.

Aber in der Bar konnte ich den Folgen nicht ausweichen. Ich saß in Sichtweite von Monique an unserem Tisch und rieb mir die Stirn, als könnte ich die Erinnerung an das Vorgefallene wegwischen. Ich fragte mich, wie lange dieser Abend wohl währen mochte. Lange. Sehr lange.

Monique flüsterte einer Butch in ihrer Nähe etwas zu. Die Butch kam quer durch den Raum zu unserem Tisch. „Hey!“ rief sie mir zu. Ich sah nicht auf. „Hey, Femme, willste mal mit ’ner richtigen Butch tanzen?“

Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Al flüsterte der Butch etwas zu.

„Oh, Verzeihung, Al, ich wußte nicht, daß sie deine Femme ist.“

Al stand auf und haute der Frau eine runter, bevor wir anderen kapierten, was los war. Dann sah Al mich erwartungsvoll an. „Nun?“ sagte sie. Sie hielt die Butch fest. Al wollte, daß ich die Frau verprügelte, um meine Ehre zu retten. Doch es gab niemanden im Raum, die ich hätte schlagen wollen, außer vielleicht mich selbst. Ich hatte keine Ehre mehr zu verteidigen.

Die Butches in Moniques Nähe standen auf und schickten sich an herüberzukommen. Al und die anderen Butches aus unserer Gruppe bauten sich vor unserem Tisch auf, um mich zu verteidigen. Jacqueline legte mir ihre Hand auf den Oberschenkel, um mir zu verstehen zu geben, daß ich nicht kämpfen mußte. Das wäre nicht nötig gewesen. Mona trat hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern. Die Femmes stellten sich ebenfalls hinter mich. Ich saß da, schlug die Hände vors Gesicht, schüttelte den Kopf und wollte, daß das alles einfach aufhörte. Aber das geschah nicht.

Schließlich zog sich Moniques Gruppe zurück. Aber keine von uns konnte die Bar verlassen, bevor die anderen gegangen waren, sonst würden sie sich auf uns stürzen. Es würde in der Tat eine lange Nacht werden.

Al war sauer auf mich. „Du läßt dir gefallen, daß diese Bulldagger so mit dir redet?“ Sie hieb mit der Faust auf den Tisch.

„Halt die Klappe, Al!“ schnappte Jacqueline. Ich war so überrascht, daß ich den Kopf hob und sie ansah. Sie starrte Al wütend an. „Laß die Kleine in Ruhe, kapiert?“

Al wandte sich ab und sah den Paaren beim Tanzen zu. Ihre Körpersprache ließ mich wissen, daß sie ziemlich angewidert von mir war. Jacqueline klopfte nur mit den Fingernägeln an ihr Whiskyglas, wie am Abend zuvor. Ich brauchte lange, bis ich den Morse-Code der Femmes gelernt hatte.

Nach einer Weile begann sich die Menge in der Bar zu lichten. Yvette kam herein. Jacqueline beobachtete sie und war offensichtlich besorgt.

„Was ist denn los?“ fragte ich, aus meinem Selbstmitleid aufgestört.

Jackie musterte mich eingehend. „Sag du’s mir“, erwiderte sie schließlich.

Ich sah Yvette an. Wie Jacqueline hatte sie von Jugend an auf dem Straßenstrich gearbeitet. Al hatte dafür gesorgt, daß Jackie nicht mehr anschaffen ging. Al konnte sie beide von dem Geld ernähren, das sie bei ihrem Job in der Autoproduktion verdiente.

Yvette hatte keine Butch, die in der Fabrik arbeitete. Yvette hatte niemanden, außer den anderen Huren.

„Sie sieht aus, als hätte sie eine schwere Nacht gehabt“, versuchte ich mein Glück.

Jacqueline nickte. „Es ist gemein da draußen. Sie machen uns echt fertig.“

Ich war überrascht von der Intimität, die in dieser Information mitschwang. Dann schien Jacqueline das Thema zu wechseln. „Was meinst du, was sie jetzt braucht?“ fragte sie mich.

„Ihre Ruhe“, sagte ich und dachte dabei an mein eigenes Bedürfnis.

Jacqueline lächelte. „Ja, sie will in Ruhe gelassen werden. Sie will nicht, daß auch nur ein Mensch auf dieser Scheißwelt heute abend noch irgendwas von ihr verlangt. Aber sie könnte vermutlich ein bißchen Trost gebrauchen, weißt du?“ Vielleicht. „Kann sein, daß sie es echt gut fände, wenn eine richtige Butch wie du zu ihr rüberkäme und sie einfach zum Tanzen aufforderte. Ohne sie zu überfallen.“

Ich dachte, das könnte ich vielleicht tun. Um jeden Preis den Stachel meiner eigenen Schande herausziehen.

Jacqueline zog mich am Ärmel. „Sei vorsichtig, hörst du?“

Ich nickte und ging langsam zu Yvette hinüber. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt. Ich räusperte mich. Sie blickte mich müde an und nahm einen Schluck von ihrem Drink. „Was willst du?“ fragte sie mich.

„Ähm, ich dachte … tanzt du mit mir?“

Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht später, Baby. Okay?“

Vielleicht lag es daran, wie ich da stand. Es war unmöglich, vor den Augen von Moniques und meiner Gruppe durch den Raum zurückzugehen, ohne getanzt zu haben. Das hatte ich nicht bedacht. Und Jackie? Vielleicht trafen sich Jacquelines und Yvettes Blicke. Denn schließlich sagte Yvette: „Ja, warum nicht?“ und stand auf.

Ich wartete in der Mitte der Tanzfläche auf sie. Roy Orbisons Stimme war weich und verträumt. Ich stand still, mit ihrer Hand in meiner, bis sie sich entspannte und näher kam. Nachdem wir eine Weile getanzt hatten, sagte Yvette zu mir: „Du darfst übrigens ruhig atmen.“ Wir mußten beide lachen.

Dann fühlte ich, wie ihr Körper näher kam und wir miteinander verschmolzen. Ich entdeckte die süßen Überraschungen, die eine Femme einer Butch zu bieten hat: ihre Hand an meinem Nacken, flach auf meiner Schulter oder zusammengeballt wie eine Faust. Ihr Bauch und ihre Oberschenkel an meinem Bauch, an meinen Oberschenkeln. Ihre Lippen, die beinahe mein Ohr berührten.

Die Musik war zu Ende. Yvette löste sich von mir und wollte sich abwenden. Ich hielt sanft ihre Hand fest. „Bitte“, sagte ich. „Schätzchen“, sagte sie lachend, „du hast das Zauberwort gesprochen.“

Wir tanzten ein paar langsame Lieder hintereinander. Unsere Körper bewegten sich mühelos und harmonisch. Die leichteste Veränderung des Drucks meiner Hand auf ihrem Rücken veränderte ihre Bewegung. Ich schob ihr nicht den Oberschenkel zwischen die Beine. Ich wußte, daß sie dort verwundet worden war. Selbst ich als Baby Butch schützte mich an dieser Stelle. Ich spürte ihren Schmerz, sie kannte meinen. Ich spürte ihre Begierde, sie weckte meine.

Schließlich endete die Musik, und ich ließ sie los. Ich küßte sie auf die Wange und dankte ihr. Ich ging über die Tanzfläche an meinen Tisch zurück. Ich war von Grund auf verändert.

Jacqueline tätschelte mir das Bein und warf mir ein warmes Lächeln zu. Die übrigen Femmes – männliche wie weibliche – betrachteten mich mit neuen Augen. Während die Welt versuchte, uns fertigzumachen, versuchten sie auf jede erdenkliche Weise, uns unsere Zärtlichkeit zu erhalten. Es war meine Fähigkeit zur Zärtlichkeit, die sie gerade gesehen hatten. Die anderen Butches mußten mich jetzt unter sexuellen Gesichtspunkten sehen, als Rivalin. Selbst Al betrachtete mich mit anderen Augen.

So schmerzhaft dieses Ritual auch gewesen war, es war ein Initiationsritus, nicht mehr und nicht weniger. Ich fühlte mich keineswegs großspurig. Es hatte mich gelehrt, daß Bescheidenheit angesagt war, wenn ich bei einer Frau die Macht der Leidenschaft entfesseln wollte.

Stark gegenüber meinen Feinden, sanft zu denen, die ich liebte und respektierte – das wollte ich sein. Bald würde ich diese Eigenschaften unter Beweis stellen müssen. Aber fürs erste war ich glücklich.

Am Freitag darauf herrschte ausgelassene Stimmung in der Bar. Alle tanzten und lachten. Verstohlen hielt ich nach Yvette Ausschau. Jacqueline mußte es mitbekommen haben, denn sie erzählte mir, daß Yvettes Zuhälter ihr keine feste Beziehung zu einer Butch erlaubte. Mein Magen zog sich vor Wut zusammen. Ich hielt trotzdem nach ihr Ausschau. Schließlich kann ein Zuhälter auch nicht alles wissen, oder?

Als das rote Licht über der Theke aufleuchtete, verzog ich mich auf die Frauentoilette und versteckte mich. Die Zeit verstrich. Ich hörte dumpfe Schläge und mehrere Schreie. Dann war es ruhig.

Ich warf vorsichtig einen Blick hinaus. Alle Butches und Drag Queens standen in einer Reihe an der Wand, die Hände auf den Rücken gefesselt. Einige der Femmes, die den Bullen als Prostituierte bekannt waren, wurden geschlagen und von den anderen getrennt. Inzwischen wußte ich, daß sie den Bullen mindestens einen blasen mußten, damit sie heute nacht noch aus dem Gefängnis kamen.

Ein Bulle entdeckte mich und packte mich am Kragen. Er legte mir Handschellen an und stieß mich durch den Raum. Ich suchte Al, aber sie hatten schon angefangen, die Leute nach draußen in die Transporter zu schaffen.

Jacqueline rannte auf mich zu. „Paßt aufeinander auf“, sagte sie. „Sei vorsichtig, Schätzchen.“ Ich nickte. Meine Handgelenke waren so stramm gefesselt, daß sie weh taten. Ich hatte Angst. Ich hoffte, Al und ich würden aufeinander aufpassen.

Als sie mich erwischten, war der Transporter mit den Butches schon voll. Ich fuhr in einem Wagen mit Mona und den anderen Drag Queens. Ich war froh darüber. Mona küßte mich auf die Wange und sagte: „Hab keine Angst! Es wird schon nicht so schlimm werden.“ Wenn das stimmte, fragte ich mich allerdings, warum die Drag Queens so verängstigt aussahen, wie ich mich fühlte.

Im Hof des Polizeireviers sah ich Yvette und Monique, die schon bei einer Straßenrazzia gefaßt worden waren. Yvette lächelte mir ermutigend zu, ich zwinkerte zurück. Ein Bulle stieß mich vorwärts. Ich kam in den Knast. Sie holten Al gerade aus der Zelle, als sie mich hineinbrachten. Ich rief ihren Namen. Sie schien mich nicht zu hören.

Die Bullen schlossen mich ein. Wenigstens hatten sie mir die Handschellen abgenommen. Ich rauchte eine Zigarette. Was würde passieren? Durch ein vergittertes Fenster sah ich, wie ein paar Samstagabend-Butches eingebuchtet wurden. Sie hatten Butch Al in die entgegengesetzte Richtung gebracht.

Die Tunten waren in der großen Zelle nebenan. Mona und ich lächelten einander zu. Dann kamen drei Bullen, um sie zu holen. Sie wich zurück. Sie hatte Tränen in den Augen. Doch dann ging sie lieber freiwillig mit, als sich hinausschleifen zu lassen.

Ich wartete. Was passierte mit ihr?

Etwa eine Stunde später brachten die Bullen Mona zurück. Es brach mir das Herz, als ich sie sah. Zwei Bullen schleiften sie herbei. Ihr Haar war naß und klebte ihr im Gesicht. Ihr Make-up war verschmiert. Blut lief ihr hinten an den Strümpfen herunter. Sie warfen sie in die Nachbarzelle. Sie blieb liegen, wo sie hingefallen war. Ich konnte kaum atmen. Ich flüsterte ihr zu: „Schätzchen, willst du ’ne Zigarette? Willst du eine rauchen? Komm … komm rüber zu mir.“

Sie wirkte benommen, mochte sich nicht bewegen. Schließlich kroch sie zu mir ans Gitter. Ich zündete eine Zigarette an und gab sie ihr. Während sie rauchte, schob ich einen Arm durch die Gitterstäbe und berührte sanft ihr Haar; dann ließ ich meine Hand auf ihrer Schulter liegen. Ich sprach leise mit ihr. Lange Zeit schien sie mich nicht zu hören. Endlich lehnte sie ihre Stirn gegen die Gitterstäbe, und ich legte beide Arme um sie.

„Es verändert dich“, sagte sie. „Was sie dir hier drin antun, die Scheiße, die du dir jeden Tag auf der Straße gefallen lassen mußt – das verändert dich, weißt du?“ Ich sah sie nur an. Sie lächelte. „Ich weiß nicht mehr, ob ich so süß war wie du, als ich in deinem Alter war.“ Ihr Lächeln erlosch. „Ich will nicht sehen, wie du dich veränderst. Ich will dich nicht sehen, wenn du erst hart geworden bist.“

Irgendwie verstand ich das. Doch ich machte mir ernsthafte Sorgen um Al, und ich wußte auch nicht, was mit mir passieren würde. Das hier klang wie eine philosophische Diskussion. Ich wußte ja nicht mal, ob ich das Alter, in dem mich die Erfahrung verändern würde, überhaupt erreichte. Ich wollte nur diese Nacht überleben. Ich wollte wissen, wo Al war.

Die Bullen kamen und sagten zu Mona, sie wäre auf Kaution raus. „Ich sehe bestimmt schrecklich aus“, sagte sie.

„Du siehst schön aus“, sagte ich zu ihr, und ich meinte es auch. Ich sah ihr ein letztes Mal ins Gesicht und fragte mich, ob die Männer, denen sie sich hingab, sie so liebten wie ich.

„Du bist wirklich eine süße Butch“, sagte Mona, bevor sie ging. Das tat gut.

Unmittelbar darauf schleiften die Bullen Al herein. Sie hatten sie übel zugerichtet. Ihr Hemd war halb offen, ihr Brustbinder war weg, ihre großen Brüste waren entblößt. Ihr Reißverschluß war heruntergezogen. Ihr Haar war naß. Blut lief ihr aus Mund und Nase. Sie sah benommen aus.

Die Bullen stießen sie in die Zelle. Dann kamen sie auf mich zu. Ich wich zurück, bis ich gegen die Gitterstäbe stieß. Sie blieben stehen und grinsten. Ein Bulle griff sich an die Hose. Der andere trat auf mich zu, schob die Hände unter meine Achseln, hob mich ein paar Zentimeter hoch und knallte mich gegen das Gitter. Er drückte seine Daumen tief in meine Brüste und rammte mir sein Knie zwischen die Beine.

„Bald wirst du so groß sein – so groß, daß deine Füße bis zum Boden reichen. Dann werden wir uns um dich kümmern wie um deine Busenfreundin Allison“, drohte er mir. Dann gingen sie.

Allison.

Ich griff nach meinen Zigaretten und dem Zippo-Feuerzeug. Dann schlüpfte ich zu Al hinüber, die reglos dalag. Ich zitterte. „Al“, sagte ich und streckte ihr die Packung hin. Sie sah nicht auf. Ich legte ihr die Hand auf den Arm. Sie wehrte sie ab. Sie ließ den Kopf hängen. Ich sah auf ihren breiten Rücken, ihre gebeugten Schultern. Ich berührte sie, ohne darüber nachzudenken. Sie ließ es zu. Ich strich ihr über den Rücken. Sie fing an zu zittern. Ich legte die Arme um sie. Ihr Körper gab nach. Sie war verletzt. In diesem Moment hatten wir unsere Rollen getauscht. Ich fühlte mich stark. Meine Arme boten Trost.

„Hey, seht euch das mal an!“ brüllte ein Bulle den anderen zu. „Allison hat sich ’ne Baby Butch angelacht. Sie sehen aus wie zwei Schwuchteln.“ Die Bullen lachten.

Meine Arme umfaßten Al enger, als könnte ich damit die höhnischen Reden der Bullen abwehren und Al behüten. Ich hatte ihre Stärke immer bewundert. Jetzt spürte ich die Muskeln ihres Rückens, ihrer Schultern und Arme. Ich erlebte die Stärke dieser Stone Butch, selbst jetzt, als sie erschöpft in meinen Armen lag.

Die Bullen verkündeten, daß Jacqueline die Kaution für uns hinterlegt hätte und wir gehen könnten. Die letzten Worte, die ich von ihnen hörte, waren: „Du kommst wieder. Denk dran, was wir mit deiner Freundin gemacht haben.“

Was hatten sie mit ihr gemacht? Jacqueline blickte von Al zu mir und fragte dasselbe. Ich hatte keine Antwort. Al gab keine. Im Auto hielt Jacqueline Al so in den Armen, daß es auf den ersten Blick aussah, als würde Al sie trösten. Ich saß still auf dem Vordersitz und hätte auch Trost gebrauchen können. Den Schwulen, der uns fuhr, kannte ich nicht. „Mit dir alles okay?“ fragte er mich.

„Klar“, antwortete ich, ohne nachzudenken.

Er setzte uns bei Al und Jacqueline daheim ab. Al aß die Eier, als würde sie sie gar nicht schmecken. Sie sagte kein Wort. Jacqueline sah nervös von Al zu mir und wieder zu Al. Ich aß und machte mich dann an den Abwasch. Al ging ins Bad.

„Da wird sie jetzt erst mal bleiben“, sagte Jacqueline.

Woher wußte sie das? War das schon häufiger vorgekommen? Ich trocknete das Geschirr ab. Jacqueline wandte sich mir zu. „Ist mir dir alles okay?“ fragte sie.

„Jaja“, log ich.

Sie kam näher. „Haben sie dir weh getan, Baby?“

„Nein“, log ich. Ich errichtete eine Mauer in mir. Sie schützte mich nicht, und doch sah ich mir dabei zu, als wären es nicht meine eigenen Hände, die Stein auf Stein schichteten. Ich wandte mich von Jacqueline ab, um zu signalisieren, daß ich sie etwas Wichtiges fragen mußte. „Jacqueline, bin ich stark genug?“

Sie trat von hinten auf mich zu, faßte mich bei den Schultern und drehte mich zu sich um. Sie zog mein Gesicht an ihre Wange. „Wer ist das schon, Schätzchen?“ flüsterte sie. „Niemand ist stark genug. Du versuchst eben, so gut wie möglich durchzukommen. Butches wie Al und du haben keine Wahl. Es wird euch immer wieder passieren. Ihr müßt nur versuchen, es zu überleben.“

Eine weitere Frage brannte mir schon auf den Lippen. „Al will, daß ich stark und hart bin. Doch du und Mona und die anderen Femmes, ihr ermahnt mich ständig, ich soll sanft und zärtlich bleiben. Wie kann ich denn beides sein?“

Jacqueline berührte meine Wange. „Al hat eigentlich recht. Es ist wohl ziemlich egoistisch von uns Mädchen. Wir wollen, daß ihr stark seid, damit ihr die ganze Scheiße überlebt, der ihr ausgesetzt seid. Wir lieben eure Stärke. Aber die Herzen der Butches werden mit zertreten. Und ich glaube, wir wünschen uns einfach manchmal, es gäbe einen Weg, eure Herzen zu schützen und dennoch für uns ganz sanft zu bleiben, verstehst du?“

Ich verstand es nicht. Nicht so ganz. „Ist Al denn sanft?“

Jacquelines Gesicht verschloß sich. Die Frage drohte etwas zu enthüllen, das Butch Als Rüstung schwächen konnte. Dann sah Jacqueline, daß ich die Antwort wirklich brauchte.

„Sie ist sehr verletzt worden. Es ist schwer für Al, alles zu sagen, was sie fühlt. Aber – ja. Ich glaube, ich könnte nicht mit ihr zusammensein, wenn sie nicht sanft zu mir wäre.“

Wir hörten, wie Al die Badezimmertür aufschloß. Jacqueline warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich gab ihr ein Zeichen, daß ich sie verstand. Sie ging aus der Küche. Ich war allein. Es gab vieles, worüber ich nachdenken mußte.

Ich legte mich aufs Sofa. Nach einer Weile brachte Jacqueline mir mein Bettzeug. Sie setzte sich neben mich und streichelte mein Gesicht. Es tat mir gut. Sie sah mich lange mit gequältem Gesichtsausdruck an. Ich wußte nicht, warum, aber es machte mir angst. Ich glaube, sie sah, was mir bevorstand, und ich sah es nicht.

„Alles in Ordnung, Schätzchen?“ fragte sie.

Ich lächelte. „Ja.“

„Brauchst du irgendwas?“

Ja. Ich brauchte eine Femme, die mich so liebte, wie Jackie Al liebte. Und ich wollte, daß Al mir genau erzählte, was sie beim nächsten Mal mit mir machen würden und wie ich es überleben konnte. Und ich brauchte Jacquelines Brust. Fast im gleichen Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, legte sie meine Hand auf ihre Brust. Sie drehte den Kopf in Richtung Schlafzimmer, als ob sie nach Al horchte. „Bist du sicher, daß alles okay ist?“ fragte sie ein letztes Mal.

„Ja, alles okay“, sagte ich.

Ihr Gesicht wurde weich. Sie berührte meine Wange und nahm meine Hand von ihrer Brust. „Du bist eine echte Butch“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ich war stolz, als sie das sagte.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und verließ leise das Haus.

Butch Al und Jacqueline kamen danach nicht mehr in die Bar. Ihr Telefon war abgemeldet. Ich hörte verschiedene Gerüchte, was mit Al passiert war. Ich zog es vor, keines davon zu glauben.

Der Sommer verging. Es war Zeit für das erste Jahr auf der High-School. Als der Herbst kam, fuhr ich an den Wochenenden nicht mehr nach Niagara Falls. Kurz vor Weihnachten ging ich noch einmal zu Tifka’s, um die alte Clique zu sehen. Yvette war nicht da. Ich hörte, daß sie allein in einer Gasse gestorben war, mit aufgeschlitzter Kehle. Mona hatte eine Überdosis genommen, absichtlich. Al hatte niemand gesehen. Jackie ging wieder auf den Strich.

Ich kämpfte gegen einen bitterkalten Wind an, als ich die Bars des Rotlichtbezirks abklapperte. Ich hörte ihr Lachen, bevor ich sie sah. Da stand Jacqueline im Schatten einer Gasse und lachte ironisch mit den anderen Huren. Und sah mich.

Sie kam auf mich zu und lächelte. Ich sah den Heroinglanz in ihren Augen. Sie war dünn, sehr dünn. Sie blieb vor mir stehen. Sie öffnete meinen Mantelkragen, um mir die Krawatte zurechtzurücken. Dann stellte sie den Kragen hoch, zum Schutz gegen die Kälte. Ich stand da, die Hände tief in die Manteltaschen vergraben. Ich fühlte mich wie in der Nacht, in der ich mit Yvette getanzt hatte. Viele Fragen und Antworten gingen mit unseren Blicken hin und her. Es ging alles sehr schnell. Ich sah, wie die Tränen aus ihren Augen quollen, und sie wandte sich zum Gehen.

Als ich meine Stimme wiederfand, war Jacqueline bereits fort.

Stone Butch Blues

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