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Der Zettel segelte über meinen Tisch und glitt auf den Fußboden. Ich behielt Mrs. Rotondo im Auge, während ich mich bückte und die Botschaft aufhob. Glücklicherweise schien sie nichts zu bemerken.

ACHTUNG!! Meine Eltern wollen wissen, warum Deine Eltern dauernd bei uns anrufen und nach Dir fragen. Ich kann Dich nicht länger decken. BITTE VERZEIH MIR!! In Liebe bis in alle Ewigkeit – Deine Barbara.

Ich blickte hoch und fing Barbaras Blick auf. Sie rang die Hände und machte ein um Verzeihung heischendes Gesicht. Ich lächelte und nickte. Ich tat, als würde ich eine Zigarette rauchen. Barbara nickte und lächelte. Mir wurde warm ums Herz. Barbara – neben der ich zwei Jahre gesessen hatte. Barbara – die zu mir gesagt hatte, wenn ich ein Mann wäre, würde sie sich in mich verlieben.

Wir trafen uns auf der Mädchentoilette. Zwei Jüngere, die ebenfalls rauchten, hatten schon die Fenster aufgemacht. „Wo bist du nur in letzter Zeit gewesen?“ wollte Barbara wissen.

„Hab wie verrückt gearbeitet. Ich muß von zu Hause weg, sonst sterbe ich. Sie führen sich auf, als haßten sie mich wie die Pest.“ Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette. „Ich glaube, sie wünschten, ich wäre nie geboren worden.“

„Sag nicht so was“, erwiderte Barbara und blickte sich um, als hätte sie Angst, daß uns jemand zuhören könnte. Sie zog an ihrer Zigarette, inhalierte tief und blies den Rauch kringelförmig aus. „Ist das nicht klasse? Es heißt French Curl. Hat Kevin mir beigebracht.“

„O Scheiße!“ zischte jemand.

„Also, Mädels, stellt euch auf!“ Das war Mrs. Antoinette, der Schrecken der nikotinhungrigen Mädchen. Wir sollten uns aufstellen, damit sie unseren Atem prüfen konnte. Da sie mich nicht gesehen hatte, riskierte ich es, zur Tür hinauszuschlüpfen. Die Gänge waren verlassen. In wenigen Minuten würde eine nervtötende Glocke klingeln, und die Gänge wären vollgestopft mit Schülerinnen und Schülern, die ihre Taschen vor sich hertrugen wie Schilde in einer Schlacht.

Ich glaube, der Sommer hatte mich verändert. Sonst hätte ich nie die eisernen Fesseln der Gewohnheit abgestreift und das Gebäude während der Unterrichtszeit verlassen. Ich wollte so schnell ich konnte um den Sportplatz rennen, um das klebrige Gefühl des Eingesperrtseins rauszuschwitzen. Aber ein paar Jungs spielten mitten auf dem Feld Football, und eine Gruppe von Mädchen übte Cheerleading. Also kletterte ich die Tribüne hinauf und ging bis zum anderen Ende.

Ein Rotschwanzbussard segelte über den Bäumen, ein ungewöhnlicher Anblick in der Stadt. Ich konnte nirgends hingehen, hatte nichts zu tun. Was in meinem Leben auch passieren würde, ich wollte, daß es bald geschah. Ich hätte gern Quarterback in der Footballmannschaft gespielt. Ich stellte mir das Gewicht der Ausrüstung vor und wie das Trikot eng an der Brust anliegen würde. Ich berührte meine großen Brüste mit der Hand.

Mir fiel auf, daß fünf der acht Cheerleader blond waren. Ich hätte nicht gedacht, daß es in der gesamten Schule fünf blonde Mädchen gab. Fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler war weiß, jüdisch und aus der Mittelschicht. Die andere Hälfte war schwarz und stammte aus Arbeiterfamilien. Ich war jüdisch und kam aus einer Arbeiterfamilie. Damit fiel ich in einen einsamen sozialen Abgrund. Die wenigen Freundinnen, die ich in der Schule hatte, kamen aus Familien, die jeden Pfennig zweimal umdrehen mußten.

Ich sah zu, wie die Cheerleader vom Platz gingen. Sie schauten zurück, um zu sehen, ob die Jungs ihnen nachblickten.

Das Footballtraining war zu Ende. Einige der weißen Jungs blieben auf dem Platz. Einer von ihnen, Bobby, nickte mit dem Kopf in meine Richtung. Ich stand auf, um zu gehen.

„Wo willst’n hin, Jess?“ spottete er und kam auf mich zu. Mehrere Jungs kamen hinterher.

Ich lief los, über die Ränge hinweg.

„Wo willst’n hin, Lesbie? Äh, ich meine Jessie.“ Sie verfolgten mich, und ich legte einen Zahn zu. Bobby machte einem Jungen ein Zeichen, mir den Weg abzuschneiden. Er und die anderen kamen direkt auf mich zu. Ich sprang über die Bänke und rannte auf das Sportfeld. Bobby fiel über mich her, und ich knallte der Länge nach hin. Es ging alles sehr schnell. Ich konnte nichts dagegen tun.

„Was ’n los, Jess? Magst du uns etwa nicht?“ Bobby schob mir die Hand unter das Kleid, zwischen meine Beine. Ich boxte und trat um mich, aber er und die anderen drückten mich runter. „Ich hab gesehen, wie du uns beobachtet hast. Na los, du willst es doch, oder, Jessie?“

Ich biß in die Hand an meinem Mund. „Aua, Scheißmist!“ Der Junge schrie auf und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Ich schmeckte mein Blut. Ihre Gesichter jagten mir Angst ein. Diese Jungs waren keine Kinder mehr.

Ich schlug mit den Fäusten auf Bobbys Brust ein. Ich muß wohl seine Ausrüstung getroffen haben, denn ich schlug mir die Knöchel auf, und Bobby lachte nur. Er drückte mir den Unterarm gegen die Kehle. Einer trat mir mit seinen Stollen auf den Knöchel. Ich kämpfte und verfluchte sie allesamt. Sie lachten, als wäre das alles ein Spiel.

Bobby schnürte sich die Trikothose auf und rammte mir seinen Schwanz in die Scheide. Der Schmerz kroch in meinem Bauch hoch und versetzte mich in Todesangst. Es fühlte sich an, als sei tief in mir etwas zerrissen. Ich zählte die Angreifer. Es waren sechs.

Am wütendsten war ich auf Bill Turley. Alle wußten, daß er sich für die Mannschaft beworben hatte, weil die anderen ihn Schwuli nannten. Er wühlte mit seinen Stollen im Gras und wartete darauf, daß er drankam.

Ein Teil des Alptraums war die Unabänderlichkeit des Ganzen. Ich konnte nichts dagegen tun; ich konnte nicht entkommen, also tat ich so, als geschähe es gar nicht. Ich betrachtete den Himmel. Wie blaß und friedlich er aussah. Ich stellte mir vor, er wäre das Meer und die Wolken wären Wellen mit weißen Schaumkronen.

Ein anderer ächzte und stöhnte jetzt auf mir herum. Ich erkannte ihn – Jeffrey Darling, ein arroganter Schlägertyp. Jeffrey packte mich am Haar und riß mir so heftig den Kopf zurück, daß ich nach Luft schnappte. Er wollte nicht zulassen, daß ich mich ausklinkte. Er fickte mich heftiger. „Du dreckige jüdische Schlampe, du verfluchter Bulldagger.“ Eine Liste aller meiner Verbrechen. Ich war schuldig im Sinne der Anklage.

Sieht so der Sex zwischen Männern und Frauen aus? Ich wußte, das hatte mit Liebe machen nichts zu tun – eher mit Haß. Aber war diese mechanische Bewegung etwa der Gegenstand all der dreckigen Witze und schmutzigen Zeitschriften und geheimnisvollen Tuscheleien? Das sollte alles sein?

Ich kicherte, nicht weil es lustig war, was da vor sich ging, sondern weil mir das ganze Getue um Sex plötzlich so lächerlich vorkam. Jeffrey zog seinen Schwanz aus mir raus und ohrfeigte mich, wieder und wieder. „Das ist nicht lustig!“ schrie er. „Das ist nicht lustig, du verrücktes Miststück!“

Ich hörte eine Pfeife. „Scheiße, der Trainer!“ rief Frank Humphrey warnend. Jeffrey stemmte sich hoch und machte hastig seine Hose zu. Die Jungs schlenderten in Richtung Sporthalle davon.

Ich war allein auf dem Platz. Der Trainer stand ein Stück von mir entfernt und starrte zu mir herüber. Ich schwankte, als ich versuchte, aufzustehen. Mein Rock hatte Grasflecken, und Blut und schleimiges Zeug liefen mir die Beine runter.

„Mach, daß du hier wegkommst, du kleine Hure!“ befahl Trainer Moriarty.

Ich mußte den langen Weg nach Hause zu Fuß gehen, weil meine Buskarte so spät nicht mehr gültig war. Ich hatte nicht das Gefühl, daß das noch mein eigenes Leben war. Ich kam mir vor wie in einem Film. Ein 57er Chevy voller Jungs bremste neben mir. „Bis morgen, Lesbe“, hörte ich Bobby brüllen, als sie vorbeifuhren. War ich jetzt ihr Eigentum? Wenn ich diesmal nicht stark genug gewesen war, sie aufzuhalten, konnte ich dann überhaupt darauf hoffen, mich je verteidigen zu können?

Kaum war ich zu Hause, rannte ich ins Bad und kotzte in die Kloschüssel. Zwischen den Beinen fühlte ich mich wie Hackfleisch, und der stechende Schmerz machte mir angst. Ich ließ mir ein Schaumbad ein und blieb lange, lange darin liegen. Ich bat meine Schwester, unseren Eltern zu sagen, daß ich krank sei, und ging ins Bett. Als ich aufwachte, war es Zeit für die Schule. Aber ich konnte nicht.

„Los!“ Meine Mutter warf mich aus dem Bett. Mein ganzer Körper tat mir weh. Ich versuchte, nicht an die Schmerzen zwischen meinen Beinen zu denken. Meine Eltern schienen meine aufgeplatzte Lippe und mein Humpeln nicht zu bemerken. Ich bewegte mich wie durch Sirup. Ich konnte nicht klar denken. „Beeil dich!“ schimpfte meine Mutter. „Du kommst zu spät zur Schule.“

Ich verpaßte absichtlich den Bus, damit ich zur Schule laufen konnte. Wenn ich zu spät kam, mußte ich den anderen zumindest nicht vor dem Klingeln gegenübertreten. Auf dem Weg vergaß ich alles. Der Wind flüsterte in den Bäumen. Hunde bellten, Vögel zwitscherten. Ich ging langsam, als hätte ich kein bestimmtes Ziel.

Dann erhob sich das Schulgebäude drohend wie ein mittelalterliches Schloß vor mir, und die Erinnerungen kamen in einer widerwärtigen Welle zurückgeflutet. Ob die anderen wohl schon Bescheid wußten? Als ich nach der ersten Stunde durch den Gang ging, schloß ich aus ihrem Tuscheln hinter vorgehaltener Hand, daß sie es wußten. Ich dachte, vielleicht bilde ich es mir ein, bis eines der Mädchen rief: „He, Jess, Bobby und Jeffrey suchen dich!“ Alle lachten. Ich hatte das Gefühl, es wäre alles meine Schuld.

Mit dem Klingeln schlich ich mich in die Geschichtsstunde. Mrs. Duncan sprach die gefürchteten Sätze: „Also, Kinder, nehmt euch ein Blatt Papier und numeriert von eins bis zehn. Dies ist ein Test. Frage Nummer eins: In welchem Jahr wurde die Magna Charta unterschrieben?“

Ich versuchte, mich zu erinnern, ob sie uns jemals beigebracht hatte, was die Magna Charta überhaupt war. Zehn Fragen schwebten in einem Vakuum. Ich kaute auf meinem Bleistift herum und starrte das leere Blatt Papier vor mir an. Ich hob die Hand und bat darum, auf die Toilette gehen zu dürfen. „Du kannst gehen, wenn du mit dem Test fertig bist.“

„Ähm, bitte, Mrs. Duncan. Es ist ein Notfall.“

„Ja“, sagte Kevin Manley. „Sie muß Bobby suchen gehen.“

Als ich in heller Panik aus dem Klassenzimmer stürzte, hörte ich das Gelächter hinter mir. Ich rannte durch die Gänge und suchte jemanden, der mir helfen konnte. Ich mußte mit jemandem reden. Ich rannte zur Cafeteria hoch und wartete auf meine Freundin Karla aus dem Sportkurs. Als es klingelte, entdeckte ich Karla in der Menge, die durch die Doppeltüren strömte.

„Karla!“ schrie ich. „Ich muß mit dir reden.“

„Was ist los?“

„Ich muß mit dir reden.“ Wir kämpften uns zur Schlange an der Essensausgabe durch.

„Was gibt’s denn heute?“ fragte Karla. „Kannst du was sehen?“

„Scheiße mit Reiße.“

„Lecker! Genau wie gestern.“

„Und vorgestern.“ Es war so erlösend, zusammen zu lachen.

Wir nahmen uns Tabletts und zuckten zusammen, als die Schulköchin uns eine Portion von etwas Undefinierbarem auf die Teller klatschte. Wir nahmen uns Milch und bezahlten unser Essen.

„Können wir reden?“ fragte ich sie.

„Klar“, sagte sie. „Gleich nach dem Essen?“

„Warum nicht sofort?“

Karla sah mich verblüfft an.

„Kann ich neben dir sitzen?“ drängte ich.

Sie starrte mich nur weiter an. „Mädchen, bist du von allen baumwollpflückenden Geistern verlassen? Hier gibt’s eine Sitzordnung. Ist dir das etwa noch nicht aufgefallen?“

Als sie es sagte, wurde mir plötzlich klar, daß sie recht hatte. Ich sah mich im Eßsaal um, als hätte ich ihn noch nie wirklich wahrgenommen. Die Rassentrennung verlief genau in der Mitte der Cafeteria.

„Na, kapiert, Schätzchen? Wo hattest du eigentlich deine Augen?“

„Kann ich trotzdem neben dir sitzen?“

Karla warf den Kopf zurück und sah mich scharf an. „Dies ist ein freies Land“, sagte sie, drehte sich auf dem Absatz um und ging.

„Hey, weißes Mädchen! Bist du neu in der Stadt?“ neckte mich Darnell, als er zur Seite rückte, damit ich mich neben Karla setzen konnte.

Ich lachte. Stille verbreitete sich im Saal. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mein Magen zog sich zusammen, und das Essen auf meinem Teller sah noch ekelhafter aus als sonst.

„Karla …“ Ich setzte mich neben sie. „Ich muß wirklich ganz dringend mit dir reden.“

„O-oh“, flüsterte jemand an unserem Tisch.

Mrs. Benson schoß auf mich zu. „Junges Fräulein, was machst du da?“

Ich holte tief Luft. „Ich esse mein Mittagessen, Mrs. Benson.“

Alle am Tisch versuchten ihr Kichern zu unterdrücken, aber als Darnell die Milch aus der Nase prustete, konnten wir uns nicht mehr halten.

„Komm mal mit, mein Fräulein!“ sagte Mrs. Benson.

„Warum?“ fragte ich. „Ich hab doch nichts getan.“

Sie stürmte davon.

„Das war ja leicht“, sagte Darnell.

„Zu leicht“, antwortete Karla.

„Karla, ich muß wirklich mit dir reden“, sagte ich zu ihr.

„O-oh“, sagte Darryl wieder. „Hier kommt Jim die Krähe.“ Trainer Moriarty steuerte geradewegs auf mich zu.

Ich wartete darauf, daß er etwas zu mir sagte, aber das tat er nicht. Er packte mich an den Armen und grub seine Finger in mein Fleisch. Er schleifte mich zur Tür. „Du kleines Flittchen“, flüsterte er.

„Ich kümmere mich schon darum, Trainer“, mischte sich Miss Moore, die stellvertretende Direktorin ein. Sie legte den Arm um mich und brachte mich hinaus in den Gang. „Kind“, sagte sie, „du steckst ganz schön in der Tinte. Was hast du dir denn bloß dabei gedacht?“

„Nichts, Miss Moore. Ich habe nichts getan. Ich wollte doch nur mit Karla reden.“

Sie lächelte mich an. „Manchmal muß man gar nichts Falsches tun, um Ärger zu kriegen.“

Angst und Panik trieben mir die Tränen in die Augen. Ich wollte mich Miss Moore dringend anvertrauen.

„Schätzchen, so schlimm ist es nun auch wieder nicht“, beruhigte sie mich. Ich konnte nichts sagen. „Ist alles in Ordnung mit dir, Jess? Hast du Probleme?“ Sie betrachtete meine geschwollene Lippe. „Möchtest du mit mir reden, Jess?“

Das wollte ich ja. Aber ich bekam keinen Ton heraus.

„Hier kommt der zweite Unruhestifter“, sagte Moriarty. Er hatte Karla am Schlafittchen.

Miss Moore zog Karla zu sich. „Ich kümmere mich schon darum, Trainer. Gehen Sie mal zurück zu Ihrer Mittagsaufsicht.“

Er sah sie mit unverhülltem Haß an. Ich merkte, was für ein Rassist er war.

„Kommt, Mädchen.“ Miss Moore legte uns die Arme um die Schultern. „Ich erkläre dem Direktor, daß ihr es nicht böse gemeint habt.“

Karla und ich sahen uns an. „Tut mir leid“, sagte ich. „Ich wollte dir keinen Ärger machen.“

Miss Moore blieb stehen. „Ihr Mädchen habt nichts Unrechtes getan. Ihr habt gegen eine ungeschriebene Regel verstoßen, die geändert werden muß. Ich will nur, daß ihr das auch unbeschadet übersteht.“

Als mich der Direktor, Mr. Donatto, schließlich in sein Büro rief, fragte Miss Moore, ob sie mit reinkommen könnte. Er runzelte seine buschigen Brauen. „Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten, Suzanne.“

Mr. Donatto schloß die Tür und bedeutete mir, mich zu setzen. Ich fühlte mich allein in einer feindlichen Welt. Er ließ sich in seinen Stuhl sinken und preßte die Fingerspitzen aneinander. Ich betrachtete das Gemälde von George Washington an der Wand und fragte mich, ob er einen weißen Schaffellmantel trug oder ob das Bild nicht vollendet worden war. Mr. Donatto räusperte sich.

„Wie ich hörte, hast du heute im Eßsaal Unruhe gestiftet, junges Fräulein. Würdest du mir das bitte erklären?“

Ich zuckte die Achseln. „Ich habe nichts gemacht.“

Donatto lehnte sich zurück. „Die Welt ist ein sehr komplizierter Ort. Komplizierter, als ihr Kinder erkennt.“ O Gott, dachte ich, jetzt hält er mir einen Vortrag. „Es gibt Schulen, in denen die farbigen und die weißen Schüler einander bekämpfen. Wußtest du das?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich bin stolz darauf, daß die Beziehungen zwischen den Rassen an unserer Schule so gut sind. Das ist nicht selbstverständlich, seitdem sich der Einzugsbereich geändert hat. Wir wollen, daß es friedlich bleibt, verstehst du das?“

„Ich verstehe nicht, warum ich nicht mit meiner Freundin Mittag essen kann. Wir sind doch ganz friedlich.“

Donattos Kinn verhärtete sich. „Die Cafeteria ist, wie sie ist, weil es den Schülern so gefällt.“

„Also mir gefällt es nicht.“ Ich fragte mich, woher ich diese Antworten nahm. Donatto schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

Miss Moore öffnete die Tür. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“

„Raus! Und machen Sie die Tür zu!“ brüllte er sie an. Er wandte sich wieder mir zu und holte tief Luft. „Du mußt verstehen, daß uns daran gelegen ist, die guten Beziehungen zwischen den Schülern zu erhalten.“

„Warum kann ich dann nicht mit meiner Freundin zusammen Mittag essen?“

Donatto stand auf und kam zu mir herüber. Er war mir so nahe, daß ich seinen Atem spüren konnte. „Junges Fräulein, jetzt hör mir mal gut zu! Ich versuche, diese Schule zusammenzuhalten, und es wäre doch gelacht, wenn ich einem kleinen Störenfried wie dir erlauben würde, meine ganze Arbeit zunichte zu machen. Hast du das kapiert?“ Ich blinzelte, als seine Spucke mich im Gesicht traf. „Du bist für eine Woche suspendiert!“

Suspendiert? Wofür? „Ich wollte sowieso abgehen“, sagte ich zu ihm.

Er grinste süffisant. „Unter sechzehn kannst du gar nicht von der Schule abgehen.“

„Ich kann nicht abgehen, aber Sie können mich suspendieren?“

„So ist es, junges Fräulein. Miss Moore!“ schrie Donatto. „Diese Schülerin ist suspendiert. Sehen Sie zu, daß sie das Gebäude sofort verläßt.“

Miss Moore stand draußen vor der Tür. Sie lächelte und legte mir die Hand auf die Schulter. „Alles in Ordnung?“ fragte sie.

„Klar“, sagte ich.

„Der Sturm wird sich schon wieder legen“, versicherte sie mir.

Ich sah sie bittend an. „Darf ich mich kurz von Mrs. Noble und Miss Candi verabschieden? Dann verschwinde ich.“ Miss Moore nickte.

Ich wollte so dringend mit ihr reden, aber ich kam mir vor, als säße ich in einem Boot, das davon trieb. Ich sagte Miss Moore auf Wiedersehen und ging.

Mrs. Noble korrigierte gerade Klassenarbeiten. Sie sah auf, als ich ins Klassenzimmer kam. „Hab schon gehört“, sagte sie und arbeitete weiter.

Ich hockte mich auf ein Pult ihr gegenüber. „Ich wollte mich von Ihnen verabschieden.“

Mrs. Noble blickte auf und nahm ihre Brille ab. „Du gehst deswegen von der Schule ab?“

Ich zuckte die Achseln. „Ich bin suspendiert, aber ich werde nicht wiederkommen.“

„Sie haben dich suspendiert? Wegen der Geschichte im Eßsaal?“ Mrs. Noble rieb sich die Augen und setzte die Brille wieder auf.

„Meinen Sie, ich habe etwas Falsches getan?“

Sie lehnte sich zurück. „Wenn du etwas aus Überzeugung tust, meine Liebe, dann deshalb, weil du glaubst, daß es das Richtige ist. Wenn du bei allen Anerkennung suchst, wirst du nie handeln können.“

Ich fühlte mich kritisiert. „Ich habe nicht alle gefragt. Nur Sie“, schmollte ich.

Mrs. Noble schüttelte den Kopf. „Denk noch mal darüber nach. Du mußt doch aufs College gehen.“

Ich zuckte die Achseln. „Ich werde die High-School nicht abschließen. Ich gehe in die Fabrik.“

„Auch als Arbeiterin brauchst du gewisse Kenntnisse und Fähigkeiten.“

Ich zuckte wieder die Achseln. „College kann ich mir nicht leisten, das ist das eine. Meine Eltern werden keinen Pfennig dafür rausrücken, geschweige denn für einen Kredit bürgen.“

Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Ich bemerkte zum ersten Mal, wie grau es war. „Was willst du denn mit deinem Leben anfangen?“ fragte sie mich.

„Ich will einen guten Job, gewerkschaftlich organisiert und so. Am liebsten würde ich ins Stahlwerk gehen oder zu Chevy.“

„Na ja, es war wohl nicht fair von mir, zu wünschen, daß du mehr willst.“

„Zum Beispiel?“ sagte ich, verärgert, daß ich jetzt auch sie enttäuscht hatte.

„Ich habe dich schon als große amerikanische Dichterin gesehen oder als kämpferische Arbeiterführerin oder als Entdeckerin eines krebsheilenden Mittels.“ Sie nahm ihre Brille ab und putzte die Gläser mit einem Taschentuch. „Ich wollte, daß du dazu beiträgst, die Welt zu verändern.“

Ich lachte. Sie hatte ja keine Ahnung, wie machtlos ich in Wirklichkeit war. „Ich kann überhaupt nichts verändern“, sagte ich. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr zu erzählen, was auf dem Sportplatz passiert war, aber ich wußte einfach nicht, wie ich anfangen sollte.

„Weißt du, was du brauchst, um die Welt zu verändern, Jess?“ Ich schüttelte den Kopf. „Du mußt herausfinden, woran du wirklich glaubst, und dann andere Leute finden, die dasselbe denken. Das einzige, was du allein tun mußt, ist, zu entscheiden, was dir wichtig ist.“

Ich nickte und rutschte vom Pult herunter. „Ich muß jetzt gehen, Mrs. Noble, bevor sie einen Suchtrupp schicken, um mich vom Schulgelände zu jagen.“

Sie stand auf und nahm mein Gesicht in ihre Hände. Sie küßte mich auf die Stirn. Aus irgendeinem Grund erinnerte es mich daran, wie es mit Al und Mona im Gefängnis gewesen war – das waren Momente, in denen du von Menschen, die dir wichtig sind, fortgerissen wirst und dich ihnen ganz nahe fühlst.

„Komm und besuch mich mal“, sagte Mrs. Noble.

„Klar“, log ich.

Ich ging zur Sporthalle, um mich von Miss Candi zu verabschieden. Miss Johnson hielt mich auf dem Gang an. „Hast du einen Freischein, mein Fräulein?“

„Brauche ich nicht. Ich bin suspendiert“, sagte ich fröhlich.

Nur wenige Stunden zuvor hatte ich mich in diesem Gebäude eingesperrt gefühlt. Nun, da ich sie verließ, kam mir die Schule kleiner vor. Ich wanderte durch die Gänge wie eine Ehemalige. Ich konnte die schrägen Töne John Philip Sousas aus der Aula hören. Ich hatte vergessen, daß in der letzten Stunde eine Vollversammlung stattfand. Da brauchte ich ja wohl nicht mehr hin.

Der Umkleideraum der Mädchen war leer. Ich nahm meine Turnschuhe und die Shorts aus meinem Spind und zog sie an. Ich ging zu den Seilen, kletterte an einem hoch, hangelte mich quer rüber und ließ mich an dem letzten Seil runter. Ich war so geladen, daß ich Angst hatte, ich könnte platzen. Ich lief los und rannte um die Halle, bis ich nicht mehr konnte.

Als ich stehenblieb, sah ich, daß Miss Candi ins Hallenbüro zurückgekommen war und mich beobachtete. „Wie lange stehen Sie schon da?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich habe gehört, sie haben dich suspendiert.“

„Finden Sie, daß ich falsch gehandelt habe, Miss Candi?“ Im selben Moment fiel mir ein, was Mrs. Noble über das Bedürfnis nach Anerkennung gesagt hatte.

„Ich halte nichts davon, schlafende Hunde zu wecken, das ist alles“, sagte sie und sah weg.

„Ach“, seufzte ich enttäuscht. „Also, Miss Candi, ich wollte nur auf Wiedersehn sagen.“

Ich ging an der Werkstatt vorbei – dort hatte ich reinwollen. Statt dessen hatten sie mich gezwungen, die Zubereitung von Hefegebäck mit Zitronenglasur zu lernen. Wie kam Mrs. Noble darauf, daß ich die Welt mit Hefegebäck verändern könnte?

Über dem Haupteingang der Schule waren die Worte Optima futura in den Stein gemeißelt. Das Beste liegt vor uns. Ich hoffte, daß das stimmte.

„Hey!“ brüllte Darnell aus dem Arrestzimmer im ersten Stock. „Du hast es ihnen aber gezeigt!“ Ich winkte ihm zu. „Wir sehen uns später!“ schrie er. Eine Lehrerin zog ihn vom Fenster weg und machte es zu.

„Jess!“ hörte ich Karla rufen. „Jess, warte mal!“ Sie kam angelaufen.

„Sie haben mich suspendiert“, sagte ich.

„Mich auch, für zwei Wochen.“

„Zwei Wochen? Mich nur für eine! Na ja, ich gehe sowieso ab.“

Karla pfiff durch die Zähne. „Scheiße, bist du sicher?“

Ich nickte. „Ich halte es einfach nicht mehr aus.“

„Jess“, sagte Karla, „bei all dem Mist habe ich ganz vergessen, dich zu fragen, was los ist. Du hast doch gesagt, du wolltest mit mir reden.“

Dieser Augenblick war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich fühlte mich wie ein Damm kurz vorm Bersten, aber ich hörte mich sagen: „Ach, war nicht so wichtig.“

Karla machte ein besorgtes Gesicht. „Wirklich nicht?“

Ich nickte und spürte, wie ich damit den letzten Stein auf die Mauer setzte, die ich vielleicht nie würde niederreißen können.

„Wir fahren nach Jefferson“, sagte Karla. „Kommst du mit?“ Ich schüttelte den Kopf und umarmte sie zum Abschied.

Ich wollte meinen Eltern nicht begegnen. Wenn ich mich beeilte, würden sie noch nicht von der Arbeit zurück sein.

Zu Hause nahm ich zwei Kissenbezüge und stopfte alle meine Hosen und Hemden hinein. Ich griff tief in meinen Schrank und holte den Rucksack mit der Krawatte und dem Jackett heraus, die Al und Jacqueline mir gekauft hatten. Der Ring! Ich nahm ihn aus dem Schmuckkasten meiner Mutter und steckte ihn an meine linke Hand.

Ich hatte Angst, daß meine Eltern nach Hause kommen und mich erwischen würden. Ich suchte ein Stück Papier und einen Bleistift. Ich schwitzte, und meine Hand zitterte.

Liebe Mutti, lieber Papa, schrieb ich.

„Was machst ’n da?“ fragte Rachel.

„Pssst!“ Ich schrieb weiter. Ich bin von der Schule geflogen. Falls es Euch interessiert: Es war nicht meine Schuld. Ich bin fast sechzehn. Ich wollte sowieso abgehen. Ich habe einen Job und Geld. Ich gehe weg. Bitte sucht mich nicht. Ich will nicht mehr hier leben.

Ich wußte nicht, was ich sonst noch schreiben sollte. Sie konnten mich bei der Arbeit aufspüren, wenn sie wollten, aber vielleicht waren sie genauso froh, mich los zu sein, wie ich umgekehrt erleichtert war, hier weg zu sein.

„Was machst ’n da?“ fragte Rachel noch einmal. Ihr Kinn zitterte.

„Schsch, nicht weinen“, sagte ich zu ihr. Ich umarmte sie. „Ich hau ab von zu Hause.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht“, sagte sie.

Ich nickte. „Ich muß es versuchen. Hier werde ich verrückt.“

„Das sage ich!“ drohte Rachel.

Ich rannte hinaus. Ich hatte panische Angst, im letzten Moment noch von meinen Eltern erwischt zu werden. Sie konnten mich gewaltsam zurückholen, mir die Polizei auf den Hals hetzen oder mich in eine Anstalt einweisen lassen. Oder mich gehen lassen. Es lag ganz bei ihnen – diese Lektion hatte ich gelernt. Ich rannte und rannte, bis mir die Lunge weh tat. Schließlich lehnte ich mich gegen einen Laternenpfahl und wartete, bis sich mein Atem beruhigte. Ich war frei. Frei zu erkunden, was Freiheit bedeutete. Ich sah auf die Uhr. Es war Zeit, zur Arbeit zu gehen. Ich war fast sechzehn Jahre alt. Ich hatte siebenunddreißig Dollar in der Tasche.

„Du kommst zu spät“, sagte der Vorarbeiter, als ich stempelte.

„Tut mir leid“, erwiderte ich und schaltete die Maschine ein.

„Das verdammte Gör“, sagte er zu Gloria.

Sie hielt den Kopf gesenkt, bis er gegangen war. Dann sah sie auf und lächelte. „Harten Tag gehabt, Jess?“

Ich lachte. „Ich bin von der Schule geflogen und von daheim ausgerissen.“

Sie stieß einen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. „Ich würde dich ja mit nach Hause nehmen, aber mein Mann versucht schon immer, die Kinder loszuwerden, die wir bereits haben.“

Ich fragte Eddie, ob ich eine Doppelschicht machen könnte. „Ich sag dir später Bescheid“, antwortete er. Um elf Uhr abends gab es nichts mehr zu tun, und er schickte mich weg. Ich versuchte, im Sitzen auf einer Bank im Busbahnhof zu schlafen, aber die Bullen kamen andauernd und fragten mich nach meiner Fahrkarte. Ich kaufte eine Karte nach Niagara Falls, aber sie weckten mich jedesmal, wenn ein Bus in die Richtung fuhr und wollten wissen, warum ich nicht drin saß. Ich wanderte umher, frühstückte, trank Kaffee und lief weiter herum. Mittags ging ich ins Kino. Als ich aufwachte, war ich zu spät dran für die Arbeit.

Eddie warnte mich davor, noch ein einziges Mal zu spät zu kommen.

„Du siehst fürchterlich aus“, flüsterte Gloria.

„Vielen Dank.“ Ich überlegte. „Hey, Gloria, weißt du noch, wie du mir von der Bar erzählt hast, in die dein Bruder immer gegangen ist? In Niagara Falls?“

Gloria zuckte zusammen. „Ja, und?“

„Kennt er solche Bars hier in der Stadt?“ Sie zuckte die Achseln. „Es ist wichtig, Gloria. Ehrlich, ich muß es wissen.“

Gloria sah ganz nervös aus. Sie wischte sich die farbverschmierten Hände an ihrer Schürze ab, als wollte sie ihre Hände in Unschuld waschen. In der Pause drückte sie mir ein Stück Papier in die Hand.

„Was ist das?“ Auf dem Papier stand das Wort Abba’s.

„Ich habe meinen Bruder angerufen und gefragt, wo er immer hingeht.“

Ich lächelte breit. „Weißt du, wo das ist?“

„Soll ich dich vielleicht auch noch hinfahren?“

„Schon gut.“ Ich hob ergeben die Hände.

„Ich dachte ja nur.“ Ich rief die Auskunft an und bekam die Adresse. Nach der Schicht wusch ich mich und zog mich um. Ich betrachtete den Ring an meinem Finger. Er paßte genau. Ich schwor, ihn niemals abzulegen. Vielleicht war die Zeit gekommen, wo der Ring mir das Geheimnis verriet, wie ich überleben konnte. Ich machte mich eilig auf den Weg zum Abba’s, doch dann lungerte ich unschlüssig draußen herum und rauchte. Ich hatte genausoviel Angst, hineinzugehen, wie damals bei Tifka’s. Nur schleppte ich diesmal alles, was ich besaß, in zwei Kissenbezügen mit mir herum. Wo sollte ich hingehen, wenn ich hier abgewiesen wurde?

Ich holte tief Luft und ging hinein. Es war proppenvoll. Die Anonymität trug zu meiner Selbstsicherheit bei. Ich schob mich zur Bar vor. „Ein Genny“, rief ich der Barfrau zu.

Sie sah mich scharf an. „Zeig mal deinen Ausweis.“

„Bei Tifka’s haben sie mich nie danach gefragt“, protestierte ich.

Sie zuckte die Achseln. „Dann trink doch dein Bier dort“, sagte sie und wandte sich ab. Ich schlug mit der Faust auf den Tresen.

„Harter Tag, Kid?“ fragte mich eine der Butches an der Bar.

„Harter Tag, fragst du?“ Mein Lachen klang schrill. „Ich bin aus der Schule geflogen, von zu Hause abgehauen, hab keine Wohnung und werde auch noch meinen Scheiß-Job verlieren, wenn ich kein Dach über’m Kopf finde und mich nachts rumtreiben muß, statt zu schlafen.“

Sie schürzte die Lippen, nickte und trank einen Schluck von ihrem Bier. „Du kannst eine Weile bei uns wohnen, wenn du willst“, sagte sie beiläufig.

„Willst du mich verarschen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Du brauchst ’n Schlafplatz, oder? Meine Freundin und ich haben noch eine kleine Wohnung über der Garage. Da kannst du bleiben, wenn du willst, mußte selbst wissen.“ Sie winkte der Barfrau. „Meg, gib dem Kind ein Bier, ja, auf meine Rechnung.“

Wir stellten uns vor.

„Jess, und weiter?“ fragte sie.

„Jess. Nur Jess.“

Toni schnaubte. „Und das reicht dir, was?“

Meg knallte ein Bier vor mich auf die Theke.

„Danke für das Bier, Toni.“ Ich prostete ihr mit der Flasche zu. „Kann ich heute abend noch einziehen?“

Toni lachte. „Ja, ich denk schon. Wenn ich nicht zu besoffen bin, den Schlüssel ins Schloß zu kriegen. Hey, Betty!“

Tonis Freundin kam von der Damentoilette und stellte sich neben sie. „Hey, Betty, darf ich dir Jess vorstellen? ’n armes Waisenkind. Eltern beim Autounfall verbrannt.“ Toni lachte und nahm noch einen Schluck.

Betty zog sich von Toni zurück. „Sehr witzig.“

Ich mischte mich ein. „Toni hat gesagt, ich könnte bei euch wohnen. Ich brauche wirklich einen Schlafplatz, ich meine, wirklich dringend.“ Betty sah Toni an, zuckte die Achseln und wandte sich ab.

„Sie hat nichts dagegen“, sagte Toni. „Ich geh jetzt rüber und setz mich zu ihr. Ich hol dich, wenn wir gehen.“

Ich trank mein Bier aus und ließ den Kopf auf die Theke sinken. Der Raum fing an sich zu drehen. Ich mußte dringend schlafen. Meg klopfte neben meinem Kopf auf die Theke. „Bist du betrunken, oder was?“

„Nein, ich arbeite rund um die Uhr“, antwortete ich. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie mich mochte. Dann brachte sie mir noch ein Bier.

„Hab ich nicht bestellt.“

„Geht auf mich“, meinte sie. Wer hätte das gedacht.

Als sich die Menge zu lichten begann, fand ich einen freien Stuhl in der Nähe des lauten Hinterzimmers, lehnte den Kopf gegen die Wand und schlief ein. Ich wachte erst wieder auf, als Betty mich am Ärmel zupfte und sagte, es wäre Zeit, nach Hause zu gehen. Toni sang „Roll me over in the clover”, während Betty versuchte, sie ins Auto zu verfrachten. Ich legte mich auf den Rücksitz und schlief sofort wieder ein.

„Los, wach auf!“ drängelte Betty. Wir standen in ihrer Einfahrt. Betty mühte sich ab, Toni gegen das Auto zu lehnen. „Nicht daß ich dich auch noch am Hals hab“, sagte sie schroff. Ich stieg aus und half ihr, Toni nach oben zu bringen.

„Du kannst heute nacht auf dem Sofa schlafen“, sagte Betty.

„Wer is ’n das Kind?“ wollte Toni wissen. „Etwa deine neue Butch?“

„Du hast sie selbst eingeladen, in die Wohnung über der Garage zu ziehen, falls du dich erinnerst!“ schnauzte Betty sie an.

Ich rollte mich auf dem Sofa zusammen und versuchte so zu tun, als wäre ich gar nicht da. Nach einer Weile kam Betty heraus und warf mir eine Decke über.

„Wenn ich heute nacht ein bißchen Schlaf kriege, verschwinde ich morgen wieder“, sagte ich zu ihr.

„Schon gut“, sagte sie müde. „Mach dir keine Gedanken, wird sich schon alles finden.“ Ich klammerte mich an dieses kleine bißchen Ermutigung.

Als ich im Dunkeln dalag, dämmerte mir plötzlich, daß ich auf mich allein gestellt war: keine Schule mehr, keine Eltern mehr – wenn sie mich nicht zurückholten. Ich würgte an meiner Scham, als ich daran dachte, was mir auf dem Sportplatz passiert war. Ich hatte Angst, daß ich kotzen müßte; ich hatte nicht gefragt, wo das Bad war. Wenn das doch Als und Jackies Sofa wäre. Ich würde lieber bei ihnen aufwachen. Dann könnte ich Jacqueline erzählen, was mir passiert war. Hätte ich es ihr erzählt? Mir wurde klar, daß ich Jackie oder Al vermutlich nicht erzählt hätte, was die Jungen mit mir gemacht hatten. Ich schämte mich zu sehr.

Bevor ich einschlief, legte ich einen Schwur ab. Ich gelobte mir, unter keinen Umständen je wieder ein Kleid zu tragen und mich nie wieder vergewaltigen zu lassen.

Wie sich herausstellen sollte, konnte ich nur einen der beiden Schwüre halten.

Stone Butch Blues

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