Читать книгу Anna Karenina, 1. Band - Лев Толстой, Лев Николаевич Толстой, Leo Tolstoy - Страница 30

Erster Teil
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„Nun ist alles vorbei, Gott sei gedankt!“ das war der erste Gedanke, der Anna Arkadjewna kam, nachdem sie sich zum letztenmal von ihrem Bruder verabschiedet hatte, der bis zum dritten Läuten mit seiner Person den Zutritt zum Waggon versperrt hatte.

Sie saß auf ihrem Sammetpolster und schaute in dem Zwielicht des Schlafwaggons um sich.

„Gott sei gedankt; morgen sehe ich meinen kleinen Sergey und Aleksey Aleksandrowitsch wieder; dann kommt wieder mein altes, liebes gewohntes Dasein.“

Noch immer in dem nämlichen Zustande der Aufgeregtheit befindlich, welcher sie den ganzen Tag hindurch verfolgt hatte, trat Anna mit einem gewissen Gefühl der Freude und Genugthuung die Rückreise an.

Mit ihren kleinen, gewandten Fingern öffnete sie einen roten Reisesack, langte ein Kissen daraus hervor, legte dasselbe über ihre Kniee und setzte sich dann, nachdem sie ihre Füße sorgfältig eingehüllt hatte, zurecht. Eine kranke Dame hatte sich bereits schlafen gelegt, zwei andere Damen unterhielten sich mit Anna und eine dicke Alte umhüllte ihre Beine und ließ Bemerkungen über die Heizung fallen.

Anna antwortete den Damen einige Worte, wandte sich aber dann, in der Voraussicht, daß die Unterhaltung wenig Interesse bieten werde, an ihre Zofe Annuschka mit der Bitte, ihr eine Laterne zu reichen. Sie befestigte dieselbe an der Armlehne des Sitzpolsters und nahm dann aus ihrem Koffer ein Aufschneidemesserchen und einen englischen Roman heraus.

Anfangs las sie nicht: das Gehen und Fahren störte sie; dann aber, nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, war es nicht mehr möglich, auf dies Geräusch zu hören, dann kam der Schnee, der zur linken Seite des Wagens an das Fenster schlug und auf dem Glas haften blieb, die Erscheinung des dichtverpackten, draußen vorbeisteigenden Schaffners, der auf einer Seite von Schnee überweht war, und die Gespräche, welch ein entsetzliches Schneegestöber draußen tobe, und dies alles zerstreute ihre Aufmerksamkeit. Im weiteren Fortgang der Fahrt blieb alles ein und dasselbe; das monotone Stoßen und Rütteln, der monotone Schnee am Fenster, der nämliche schnelle Übergang von der Dampfhitze zur Kälte und dann wieder zur Hitze, dasselbe Erscheinen von Männern im Halbdunkel und die nämlichen Stimmen.

Anna begann daher zu lesen und dem Gelesenen mit Aufmerksamkeit zu folgen. Annuschka war schon eingeschlummert; sie hielt den roten Reisesack auf ihren Knieen mit den großen Händen in den Handschuhen fest, von denen der eine zerrissen war.

Anna Karenina las, aber das Lesen machte ihr kein Vergnügen, da sie in ihm ja nur der Wiedergabe des Lebens anderer Menschen folgen konnte.

Sie wollte vor allem ja selbst leben.

Las sie, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wollte sie mit unhörbaren Schritten durch das Krankenzimmer eilen; las sie davon, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so wollte auch sie diese Rede halten; las sie, wie Lady Mary zu Pferde ein Hühnervolk verfolgte, ihre Schwägerin neckte und alle mit ihrer Verwegenheit in Erstaunen setzte, so war ihr als müsse sie selbst das Nämliche thun.

Aber freilich vermochte sie nichts von alledem, und so bewegte sie denn nur mit ihren kleinen Händchen fleißig das Aufschneidemesser, sich eifrig ihrer Lektüre widmend.

Der Held des Romans hatte bereits begonnen, sein Glück nach englischen Begriffen gemacht zu haben, das heißt Baronet und Gutsherr zu werden, und Anna wünschte soeben, ihm auf sein Gut folgen zu können, als sie plötzlich fühlte, daß dies für ihn kompromittierend, und für sie schimpflich gewesen wäre.

„Was wäre für ihn kompromittierend? Was ist für mich schimpflich?“ frug sie sich selbst, verwundert und gekränkt.

Sie ließ ihr Buch liegen und warf sich in die Rücklehne ihres Armsessels zurück, das Messerchen zwischen ihren Fingern fest zusammenpressend. Aber etwas Schmachvolles war doch nicht vorhanden.

Sie ließ alle ihre Moskauer Erinnerungen nochmals an sich vorüberziehen; aber sie alle waren nur freundlich und angenehm.

Sie erinnerte sich des Balls, Wronskiys und seines liebevollen und ergebenen Gesichts, sie vergegenwärtigte sich nochmals alle ihre Beziehungen zu ihm; es war nichts Entehrendes für sie darin.

Und nichtsdestoweniger wurde das Gefühl der Schmach gerade während sie diese Erinnerungen anstellte, stärker und stärker in ihr, gleichsam als ob eine innere Stimme, indem sie an Wronskiy dachte, zu ihr sprach: „Es ist warm, sehr warm, ja heiß!“

„Aber was soll das?“ frug sie sich selbst, ihren Sitz im Armsessel verändernd, „was soll das bedeuten; fürchte ich mich etwa, der Situation offen ins Angesicht zu blicken? Was soll das heißen. Können etwa zwischen mir und jenem jungen Offizier andere Beziehungen existieren, und existieren etwa solche, als die, welche unter allen Bekannten bestehen?

Sie lächelte verächtlich und widmete sich von neuem ihrem Buche, konnte aber gleichwohl nicht mehr vollkommen erfassen, was sie las.

Sie fuhr mit dem Papiermesserchen über das Fensterglas und legte dann dessen glatte kalte Oberfläche an ihre Wange, lachte vor Lust fast laut auf, bezwang sich aber plötzlich noch.

Sie empfand, daß ihre Nerven gleichsam wie Saiten, sich straffer und straffer zu spannen schienen, die von Wirbeln angezogen würden. Sie empfand, wie ihre Augen sich weiter und weiter öffneten, wie Finger und Zehen in eine nervöse Bewegung verfielen, ihr Atem erstickt wurde und wie alle Gegenstände und Töne in diesem schütternden und stoßenden Halbdunkel ihr mit ungewöhnlicher Schärfe ins Auge traten.

Ein Zweifel überkam sie minutenlang, ob der Waggon vorwärts oder rückwärts fuhr oder gar stehe. War Annuschka noch neben ihr oder eine Fremde? War sie es denn selbst noch, oder war sie auch eine andere? Was war das da auf ihrem Arm? Ein Pelz oder ein Tier? Eine Angst überkam sie, sich dieser Verlorenheit hingeben zu müssen, aber es zog sie etwas hinein, doch empfand sie die freie Möglichkeit, sich diesem Zustand hinzugeben oder zu entreißen. Sie erhob sich, um zur klaren Besinnung zu kommen, warf ihr Plaid ab und die Pelerine des warmen Kleides.

Für eine Minute kam sie zur Besinnung und erkannte daß ein soeben eingetretener Mann in einem langen Nankingpaletot, auf welchem Knöpfe fehlten, der Heizer war; derselbe schaute nach dem Thermometer, Sturm und Schnee drangen in das Coupé zur Thür hinter ihm herein, dann verwirrte sich wieder alles um sie herum.

Der Mann mit dem langen Rocke beschäftigte sich jetzt damit, an der Wand zu hantieren, die dicke Alte streckte ihre Beine über die ganze Länge des Waggons und erfüllte denselben mit einer Wolke schwarzen Staubes; dann kreischte es ohrenzerreißend und stieß und pochte, als würde etwas zerrissen; ein rotes Licht blendete die Augen, dann wurde alles von einer Wand verdeckt. Anna fühlte, wie sie zurückfiel; doch war ihr das alles nicht furchterweckend, sondern unterhaltend.

Die Stimme des dickverpackten und schneeüberdeckten Schaffners schrie etwas über ihrem Ohr, sie erhob sich und kam zur Besinnung, und jetzt erkannte sie, daß man in eine Station eingefahren war und daß der Mann der Schaffner war.

Sie bat Annuschka ihr die abgelegte Pelerine und das Tuch zu geben, hüllte sich wieder in beides und wandte sich dann nach der Thür.

„Wollt Ihr aussteigen?“ frug Annuschka.

„Allerdings, ich muß frische Luft haben; es ist hier sehr heiß!“

Sie öffnete die Thür. Schneegestöber und Sturm tosten ihr entgegen, als sie hinaustrat und schienen sich mit ihr um die Thür zu streiten. Aber das machte ihr offenbar Freude; sie öffnete und stieg aus. Der Sturm schien gleichsam auf sie gewartet zu haben; er heulte lustig auf und wollte sie packen und entführen, aber sie hielt sich mit der Hand an der kalten Eisenstange und stieg, ihr Kleid zusammennehmend, auf den Perron heraus, um sich hinter den Waggon zu begeben. Auf der Perrontreppe ging der Wind stark, auf der Plattform aber hinter dem Wagen war es still.

Mit Wollust atmete sie die kalte Schneeluft in die üppige Brust, und blickte, neben dem Waggon stehend, auf die Plattform und die erleuchtete Station.

Anna Karenina, 1. Band

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