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7. Kapitel: Nörrestrand
ОглавлениеNörrestrand wirkt etwas verloren vor seinem Stehpult. Als hätte er sich verlaufen und sei versehentlich in eine Vorlesung geplatzt. 'Hups, was wollen denn all die Leute hier?'
Hörsaal 5P, FU. 16:30 Uhr, Philosophische Fakultät.
Sichtlich nervös fummelt er in einem Haufen Blättern herum, die wohl sein Vorlesungsskript sein sollen. Der ist so was von retro! Der Raum ist nur zu einem Drittel voll. Kein Wunder bei der Uhrzeit und dem Thema.
Kutub ist nicht zu sehen.
Es will keine Ruhe einkehren, und trotz mehrfachem Anpusten kommt aus Nörrestrants Ansteckmikrofon am Revers seines lappigen Anzugs kein Laut heraus. Verzweifelt blickt er die Sitzreihen nach oben, um Hilfe aus der Technik zu erspähen, die unsichtbar hinter einer Glaswand sitzt. Vereinzelt kichern einige Studenten. Nörrestrand ist als Unikum bekannt. Man kann gar nicht glauben, dass er der fähigste Kopf auf seinem Gebiet der Bewusstseinsforschung sein soll.
Während Nörrestrand verzweifelt mit den Armen in Richtung Technik fuchtelt, blicke ich kurz von meinem Game im iPad auf und schaue mich im Hörsaal um. Überwiegend männliche Studenten. Die meisten sind mit ihrem Touchphone beschäftigt oder amüsieren sich über Nörrestrand. Wieso gehen fast nur männliche Studenten zu einer Vorlesung über die »Neurophysiologie des Bewusstseins«?
Wie ich im Vorlesungsverzeichnis sehen konnte, soll das die dritte Vorlesung im Rahmen eines Curriculums über einen fächerübergeifenden Themenkomplex sein, Bewusstsein. Philosophen, Psychologen und Mediziner. Nörrestrand ist wohl Norweger. Er gehört zu denen, die den Patienten Drähte ins Hirn bohren, um anschließend gewichtige Vorträge zu halten. Neuerdings können sie wohl auch mit einem Hirntomographen freiwilligen Versuchspersonen beim Denken zusehen. Das soll ganz gut bezahlt werden, als Versuchsperson, meint Kutub. Na ja, ich hab ja meinen Assistentenjob. Und nach dem Master geh ich direkt in die Industrie, da verdient man einen Haufen Kies. Ribor, ein Kumpel von mir, verdient über zwei Mille pro Monat nebenbei, weil er dieselbe Arbeit in einem Pharmaunternehmen macht wie ich hier am Institut. Aber der hat immer so ein Glück!
Ich blicke mich weiter in den hinteren Reihen um und entdecke Franziska! Ein kurzer Schock, eine böse Erinnerung, dann habe ich mich wieder im Griff. Franziska ist kurzgeschoren, wo immer sich eine Möglichkeit bietet gepierct, tätowiert und mega aggressiv. Franziska war früher Sannyasin, also Bhagwananhängerin, und hat in Poona Hausverbot, erzählt Beatrice, weil sie alle nach Strich und Faden vermöbelt haben soll, was sogar dort ein Problem war.
Weiß gar nicht, was Beatrice mit Franziska zu tun hatte? Beatrice, die ewig nach sich selbst Suchende, und Franziska, die Prüglerin. Franziska ist lesbisch, läuft meist in Armeekleidung rum, die kurzgeschorenen Haare schlohweiß gefärbt, Figur wie ein Betonklotz vom Holocaustmahnmal in Mitte. Als Beatrice und ich noch zusammen waren, liebte Franziska es, mich zu provozieren, wo sie nur konnte. Stellte sich mir demonstrativ in den Weg, wenn ich irgendwo durch wollte, drängelte sich in der Mensa in der Warteschlange vor mich, rempelte mich an, wenn ich vom Fahrrad stieg, oder so. Ich konnte ihr schier nicht entgehen. Auf mein »Was soll das?« schaute sie mich nur kaugummikauend an. »Was willste denn jetzt machen, äi?« Jeder Protest meinerseits, mühsam kultiviert vorgetragen natürlich, während ich in Wirklichkeit vor Wut zitterte, wurde nur mit »Heul doch!«, »Lauf zu Mutti, du Würstchen!« oder ähnlich flegelhaften Äußerungen beantwortet. Schließlich machte ich die Fliege, wenn ich sie nur von Weitem erblickte. Seit es aus ist zwischen Bea und mir, habe ich komischerweise auch Ruhe vor ihr. Aber Bea ist nicht lesbisch, das wüsste ich.
Franziska sitzt in der hintersten Reihe, begleitet von ihren »Groupies«, ein Schwarm Mädels, die eifrig bemüht sind, ihr in allem nachzutun. Wie Clone von Franziska. Was wollen die hier in der Vorlesung? Glaub nicht, dass die genügend Grips haben, um auch nur einen Satz zu verstehen. Aber sie studieren wohl, Sozialwissenschaften oder Psychologie, hab ich läuten hören.
Ein Rückkopplungsquietschen schrillt durch den Saal. Offenbar hat nun jemand dem Professor aus der Bredouille geholfen. Er hüstelt erleichtert in sein Mikrofon.
»Herrschaften, darf ich um Ruhe bitten?«
»Äh, es sind auch Frauen anwesend!«, kreischt es aus den hinteren Reihen. Ich bemühe mich gar nicht erst, mich umzuschauen, denn ich weiß auch so bereits, dass diese Feldwebelstimme nur Franziska gehören kann. Eigentlich bin ich sehr dafür, dass auch Frauen zum Militär gehen, der Gleichberechtigung wegen. Besonders bei Franziska frage ich mich, weshalb sie eigentlich nicht Berufssoldat geworden ist. Im Nahen Osten werden doch immer Leute gesucht, die Minen wegräumen müssen. Da würde sie gut hinpassen, meine ich.
Nörrestrand blickt verwirrt auf, fasst sich an die Brille. »Ähem, ja natürlich, meine Damen.«
»Macho!«, schrillt es von hinten.
Nörrestrand scheint nicht recht zu wissen, was er damit anfangen soll.
»Neurophysiologie des Bewusstseins, Herrschaften … äh, und Damen.« Er blättert durch sein Skript. »Eigentlich weiß nur der Laie genau, wovon er spricht, wenn von Bewusstsein die Rede ist«, stottert er so leise, dass man trotz der Mikrofonverstärkung genau hinhören muss. Dann blickt er in die verblüfften Gesichter der Zuhörer im Saal.
Was soll der Scheiß?, fragt sich jeder und genau das erwartet Nörrestrand wohl auch von uns.
»Als Neurochirurg«, fährt er sichtlich zufrieden fort, »braucht man sich für derartig philosophische Fragen wie 'Was ist Bewusstsein?' zum Glück nicht zu interessieren.«
Nicht? Warum liest er dann darüber?
»Als Neurochirurg interessiert lediglich die Frage, ob jemand wach ist oder nicht. Und wenn er nicht wach ist, wie wenig wach ist er? Wenn er hingegen wach ist, ist er dann aufmerksam?« Ein süffisantes Lächeln schleicht sich in sein Gesicht. Der Mann spricht in Rätseln. Immerhin hat er es geschafft, dass die Touchphones einen Moment an Priorität verloren haben, bis auf diejenigen, die zwecks Doku direkt auf ihn gerichtet sind, was eigentlich untersagt ist.
»Wir beschäftigen uns mit der Frage, was im Gehirn geschieht, sobald wir einen Zustand zu erkennen glauben, von dem wir sagen, er sei mit Bewusstsein verknüpft. So wie beim Wachzustand. Und was geschieht, wenn wir einen Zustand erkennen, von dem wir annehmen, er sei nicht mit Bewusstsein verknüpft, etwa im Tiefschlaf oder im Koma. Wir reduzieren also ganz 'bewusst' die Definition des Begriffes 'Bewusstsein' auf ein laienhaftes Verständnis, weil wir sonst aus dem Grübeln gar nicht mehr herauskämen.«
Merkwürdiger Typ. Er bastelt am Gehirn rum und fragt sich erst hinterher, was er eigentlich erforscht. Es wird unruhig im Saal.
»Was wir sicher wissen«, fährt Nörrestrand fort, »ist, dass bestimmte Gehirnstrukturen einen erhöhten Stoffwechsel aufweisen, wenn wir einen Zustand feststellen können, in dem das Vorhandensein von Bewusstsein angenommen wird, etwa vor einer langen Vorlesung.« Einzelne Lacher von Leuten, die den Witz verstanden haben. Die anderen filmen entweder oder sind bereits wieder über ihre Screens gebeugt. Der Typ beginnt mir zu gefallen.
»Die Herrschaften, die jetzt aufmerksam ihre Whatsapp-Nachrichten studieren, sind sicherlich teilweise bei Bewusstsein ...«, blitzt er in den Saal, wobei seine Stimme fester wird, »doch wir können von ihnen annehmen, dass ihr Bewusstsein nicht aufmerksam auf ein Vortragsthema fokussiert ist ...« Weiter kommt er nicht, denn in diesem Moment brüllt es von hinten: »Gibt es in deinem Hirn nur Männer?«
Au, Mann!
»Könnten Sie bitte mit den Zwischenrufen aufhören?«, versucht es Nörrestrand nun leicht verärgert.
Es wird unruhig im Saal. Nachdem alle anderen Zuhörer ihre Köpfe nach hinten gedreht haben, gebe ich widerwillig nach und schau auch hin. Da haben die »Damen« in der letzten Reihe ein Transparent entrollt, Betttuch mit roter Krakelschrift: »Nieder mit der Machoherrschaft!« und intonieren den Spruch wie einen Schlachtruf, die Fäuste in die Luft schleudernd. Woran erinnert mich das? Ho-Ho-Ho Chi Ming oder so. Ich find es prollig.
Nörrestrand kratzt sich am Kopf. Die anderen Studenten brechen in unwilliges Gemurmel aus.
»Wenn Sie nur hierhergekommen sind, um die Vorlesung zu stören, dann haben Sie erreicht, was Sie wollten! Sie können jetzt damit aufhören!« Erstaunt schaue ich Nörrestrand an. Wow! Der kann sogar laut sprechen! Das hätte ich nicht von ihm gedacht. Auch die Störerinnen sind verunsichert und schauen kurz zu Franziska hin. Doch die fängt nun an, eine neue Parole zu intonieren.
Ich höre nicht mehr hin. Vertane Zeit hier. Ich gehe lieber.
Als ich den Hörsaal verlassen habe, schluckt die Tür den Tumult, der sich inzwischen dort drinnen entwickelt hat. Die kahlen Betonwände der Uni und der graue Bodenbelag legen sich wie ein schützender Film über meine Sinne. Kann eine Maschine ein Bewusstsein haben? Könnte EVA wissen, dass sie existiert? Woher weiß ich eigentlich, dass ich existiere? »Nörrestrand soll mal gesagt haben, das Bewusstsein sei wie eine Taschenlampe«, sagte Kutub neulich. »Wenn sie angeknipst ist, gibt es Licht, und was sie beleuchtet, kann wahrgenommen werden.« Wobei das Wörtchen »kann« von Bedeutung ist. Es muss nicht wahrgenommen werden. Kutub meinte, das wäre eine Frage der Verarbeitungskapazität des Gehirns. Da es nicht in der Lage sei, alle Informationen in angemessen kurzer Zeit zu verarbeiten, filtere es nur die wichtigsten aus. Das ist wie bei der DPA, der Deutschen Presse Agentur. Die bietet auch vieles an, von dem nur weniges in der Tageszeitung oder den Nachrichten auftaucht. »Das Bewusstsein leuchtet nur einen kleinen Teil der Welt aus?«, fragte ich Kutub. Kutub verehrt Nörrestrand, soviel ich weiß. Wenn EVAs Augen sehen können, wenn sie mich erkennen kann, ist das dann Bewusstsein oder ist das nur Aufmerksamkeit? Ist ein aktiver Videosensor aufmerksam oder nur eingeschaltet? Wenn ich so betrunken bin, dass ich nur sehen kann, aber nichts mehr checke, bin ich dann bei Bewusstsein oder nur eingeschaltet? Weiß ich nicht. Aber ist das wirklich wichtig? Reicht es nicht aus, wenn ich das Gefühl habe, dass EVA versteht, was ich sage, solange sie mich beim Reden anschaut und ich Gefühlsregungen auf ihrem Gesicht erkennen kann, auch wenn die nur einprogrammiert sind? Ist das denn bei uns Menschen anders? Laufen da nicht auch nur Programme ab? Der Verhaltensforscher Eibel-Eibesfeldt hat mal festgestellt, dass bestimmte mimische Ausdrücke in allen Völkern gleich sind, zum Beispiel Lachen und Weinen. Lachen würde man sogar bei Affen richtig deuten, zumindest wenn sie lachen. Weinen Affen eigentlich? Aber traurig aussehen tun sie schon. Was ist das anderes als ein Programm, das abgerufen wird? Der Unterschied ist, sagt Kutub, Nörrestrand meine, unser Bewusstsein bemerke Lachen erst, wenn wir es bereits tun.
»Wie jetzt?«, hab ich gefragt.
»Na, du merkst erst, dass du lachen willst, wenn dein Gehirn bereits die Lachmuskeln aktiviert hat. Mit Verspätung, verstehst du?«
»Nö?«
»Wir sind immer eine Viertelsekunde zu spät mit unserem Bewusstsein, sagt Nörrestrand. Wir werden uns unserer Reaktion erst bewusst, nachdem sie bereits im Gehirn gebahnt ist. Wir glauben, dass wir aus freien Stücken lachen, aber der Körper oder das Gehirn tut es bereits, bevor wir uns dazu entscheiden. Wir stellen es nur fest und glauben, wir täten es aus freien Stücken!«
»Wer sagt denn so einen Scheiß?«, entfuhr es mir. Kutub nannte mir ein Dutzend Titel über das Thema. Die hätte er alle zu Hause, sei aber selbst noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen. Deshalb verehrt er Nörrestrand, glaub ich, weil der das alles vorträgt, ohne dass man sich durch englischsprachige, wissenschaftliche Texte durcharbeiten muss.
Armer Nörrestrand, wie der wohl mit dem Emanzenclub fertig wird jetzt? Ich drehe mich unwillkürlich um und schaue in den Gang zurück. Doch dort ist die Tür noch nicht aus den Angeln gefegt worden. So schlimm wird es wohl nicht sein. Ich zucke mit den Achseln. Wenn bloß EVA bald wieder richtig funktioniert.