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1.

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„Schwester Christine!“ klang eine scharfe, harte Frauenstimme von der Tür.

„O weh!“ Die kleine Lehrschwester Gertrud verschwand blitzschnell im Verbandzimmer, das neben der Station gelegen war.

Schwester Christine hatte sich hastig von dem Kinderbett erhoben, das in der letzten Reihe an der hellgrünen Wand stand.

„Frau Oberin?“

„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Sie haben sich jetzt nicht hier aufzuhalten, die Kinder sollen chlafen.“

„Frikchen hat so geweint, Frau Oberin, er scheint sich schwer einzugewöhnen.“

„Je mehr man ein Kind verzieht, um so schwerer gewöhnt es sich ein! Wenn wir hier einem jeden Kinde eine Extrawurst braten wollten, wo kämen wir da hin!“

Schwester Christine erhob sich mit blutrotem Gesicht, aber die kleine Kinderhand, die ihre fest umklammert hielt, gab sie nicht frei.

„Hierbleiben, hierbleiben!“ schrie es in jammernder Bitte.

Aus den Betten nebenan erhoben sich schlaftrunkene Kindergesichter, die Kleinsten fingen an, mitzuweinen.

„Was ist denn das für ein Geschrei?“ fragte die Oberin streng. „Werdet ihr wohl still sein!“ Sie ging rasch zu Schwester Christine an das Kinderbett:

„Sofort bist du vernünftig, legst dich auf die Seite und schläfst. Du hast keinen Grund, zu schreien. Also, was willst du?“

Streng sah die Oberin Hartung aus ihren Brillengläsern auf das bleiche magere Kerlchen, das da in dem weissen Anstaltsbett lag. Aber es war, als hätte der Blick der Oberin das Kind nur noch mehr erregt, es schrie gellender und klammerte sich mit aller Kraft seiner durchsichtigen Händchen an Schwester Christine.

„Er hat Angst, Frau Oberin. Es ist noch die Erinnerung an all das, was er daheim durchgemacht hat.“

„Unsinn! Er muss lernen, sich zusammenzunehmen. Das ist doch alles längst vorbei. Hier tut ihm kein Mensch etwas. Er macht mir die anderen Kinder, die vernünftig sind, noch rebellisch.“

„Was gibt es denn hier, Frau Oberin?“

Eine ruhige, energische Männerstimme klang von der Tür. Doktor Malte Rasmussen kam schnell durch den grossen Raum.

„Der kleine Fritz, Herr Doktor.“ Schwester Christine sah bittend zu dem jungen Arzt.

„Ich bin gefragt, Schwester Christine. Seien Sie nicht immer so vordringlich!“

Ärger und eine gewisse Feindseligkeit sprachen aus den tadelnden Worten der Oberin.

„Nichts gibt es. Ungezogen ist der Junge, schreit ohne Grund und lässt mir die anderen Kinder nicht zur Nachmittagsruhe kommen.“

Doktor Rasmussen sah mit einem Blick die Angst die hinter der Ungebärdigkeit des kleinen Kranken steckte.

„Auch Unart hat ihre tieferen Gründe, Frau Oberin. Wenn wir die klarlegen, ist es gewöhnlich auch mit der Unart vorbei.“

„Also Sie sind der Meinung, dass man jedem Eigensinn eines Kindes nachgeben muss, Herr Doktor? Da käme ich weit in meinem Krankenhause.“

„Nicht dem Eigensinn im allgemeinen, aber in einem besonderen Falle, und der scheint mir hier vorzuliegen.“

„Haben Sie sonst noch etwas für mich, Herr Doktor?“ fragte die Oberin knapp.

Sie wartete die Antwort des jungen Arztes nicht ab, sondern ging mit ihren kurzen, harten Schritten hinaus.

Christine Storm sah ihr angstvoll nach. Diese Auseinandersetzung, deren unschuldige Ursache sie war, würde sie wieder büssen müssen. Der kleine Kranke aber hatte sich in dem Augenblick, in dem die Oberin sich entfernte, schon beruhigt. Ein letztes Aufschluchzen endete das wütende Schreien. Er legte sich auf die Seite, Schwester Christines Hand dabei nicht loslassend.

Doktor Rasmussen setzte sich auf das Bett:

„Sag mal, mein Kerlchen“, meinte er und strich über das dünne blonde Haar, das wirr in die bläulichweisse Stirn hing, „willst du die arme Schwester Christine nicht loslassen? Sieh einmal, die hat noch anderes zu tun, als nur bei dir zu stehen. Und du wirst ja jetzt sicher ruhiger sein. Schön schlafen!“

„Nicht weggehen, nicht weggehen!“ flüsterte der kleine Fritz, und die Tränen kamen schon wieder in seine hübschen braunen Augen.

„Vollkommen überreizt“, meinte Doktor Rasmussen zu Schwester Christine. „Wissen Sie Näheres, Schwester Christine?“

„Ja, Herr Doktor.“ Aber sie zögerte, warf einen Blick auf das Kind. Sie wollte offenbar vor diesem nervösen kleinen Kerlchen hier nicht sprechen.

„Lassen Sie nur, wir reden später darüber.“

„Darf ich noch ein Weilchen bei Fritz bleiben? Er schläft mir sonst nicht ein.“

Rasmussen nickte:

„Schön, für ein paar Tage wollen wir ihn noch ein bisschen verwöhnen. Ich denke, es wird dann schon gelingen, ihn allmählich in die Ordnung hier hineinzubekommen.“

„Sicherlich, Herr Doktor. Wenn er nur ein bisschen Mut gefasst hat und glaubt, dass man ihm hier nichts tut.“

Rasmussen nickte freundlich, ging hinaus, hier und dort an einem Kinderbett stehen bleibend. Die kleinen Gesichter leuchteten, schmerzverzerrte Münder lächelten dem jungen Arzt entgegen. Der kleine Fritz lag ganz still, und seine Hände hielten immer noch die der Schwester Christine. Aber seine Augen folgten aufmerksam dem jungen Doktor Rasmussen.

„Der soll auch hierbleiben“, sagte er plötzlich, „den mag ich. Magst du ihn auch?“

Seine helle Kinderstimme trompetete durch den Raum. Rasmussen drehte sich in der Tür um und sah belustigt hinüber:

„Eine Gewissensfrage, nicht wahr, Schwester Christine?“

Schwester Christine beugte sich tiefer über das Kinderbett:

„Du sollst jetzt nicht immerfort schwatzen, Fritz. Schwester Christine bleibt nur bei dir, wenn du dich ganz brav auf die Seite legst und schläfst. Das könnte dir so passen, kleiner Frechdachs, alle Leute um dich herum zu haben!“

„Nein, bloss du und der dort“, sagte Fritz noch einmal entschieden. Dann drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen.

Die helle Morgensonne lag in den Korridoren des Krankenhauses. Sie blitzte auf den schneeweiss gestrichenen Wänden, legte sich zärtlich auf die blühenden rosa und weissen Hyazinthen, die zwischen den Blattpflanzen auf den breiten Fensterbrettern standen. Schwester Christine hielt einen Augenblick still, beugte sich über das duftende Rosa und Weiss der kleinen Blumenglöckchen, atmete tief den süssen Duft ein. So zart er war, er drang doch durch diese Krankenhausatmosphäre mit ihrem Geruch nach Äther und Seife.

Doktor Rasmussen kam im weissen Kittel eilig von der Station. Er sah die zarte Biegung des hellen Nackens, der aus dem Schwesternkleide herausstieg.

„Morgen, Schwester Christine.“

Sie fuhr herum.

„Na nu, so schreckhaft? Ist doch nicht verboten, schnell eine Portion Frühling mitzunehmen.“

„Ich dachte, die Frau Oberin“, stammelte Christine.

„Na und wenn?“ sagte Doktor Rasmussen seelenruhig. „Selbst die Frau Oberin kann keinem Menschen verbieten, sich über die schönen Blumen hier zu freuen. Sie mögen wohl Blumen gern?“

„O ja.“ Schwester Christines Blick streichelte förmlich die zarten Hyazinthen. Wie aus Wachs gebildet waren ihre eben aufgebrochenen Glockenkelche.

„Wir hatten viel schöne Blumen daheim, als wir noch das Haus hatten. Ich habe viele selber gezogen und gepflegt.“

„Gute Vorbereitung auf Ihren Beruf, Schwester Christine. Wer Kinder pflegen will, muss eigentlich verstehen, mit Blumen umzugehen. Klingt sehr sentimental, hängt aber wirklich miteinander zusammen. Für Kinder und Blumen sind die zartesten Hände gerade gut genug.“

Christine sah den jungen Arzt an. Er war erst acht Tage auf der Station. Aber sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihn schon seit Jahren kennen. Es war etwas von Wärme und Klarheit in ihm, was ihr vertraut war. Wie er am Krankenbett war, bestimmt und doch zart, das war die gleiche Art, in der der Vater Kranke behandelt hatte. In jedem Kranken nicht den Kranken, sondern den kranken Menschen zu sehen, das war der Lebensgrundsatz des Vaters gewesen. Ein Grundsatz, den manche Ärzte nicht zu teilen schienen und auch manche der Schwestern nicht. In ihrer kurzen Lehrzeit jetzt hatte sie das schon erfahren. Besonders die Oberin kannte nichts als Pflichterfüllung. Aber diese Pflichterfüllung war hart und kalt. Darum befand sie sich selbst auch ewig in Widerspruch zu ihr. Die Oberin schien das zu fühlen. Vom ersten Tage an war sie ihr mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit entgegengekommen. Der gestrige Zusammenstoss, bei dem Doktor Rasmussen ihre Partei genommen, würde die Sache nicht besser gemacht haben. Aber Doktor Rasmussen wusste, wie man zu Kindern sein musste.

Er wusste wohl überhaupt sehr viel. Sie sah das an der sicheren Art, mit der er seine Anordnungen traf. Auch an der Art, wie der Chef, Professor Möller, sich ihm gegenüber stellte. Es war ungewöhnlich, dass ein so junger Arzt schon Privatassistent des Chefs wurde.

Die erste Frühlingssonne legte einen schmalen Lichtkreis um sie und den jungen Arzt.

„Na, woran denken Sie denn, Schwester Christine?“ fragte Doktor Rasmussen lächelnd. Er hatte ihre innerliche Abwesenheit wohl gespürt.

Christine erwachte, wurde sehr rot.

„Verzeihung, Herr Doktor, ich muss nun aber wirklich weiter. Ich bin ja auf 3b mit dem Aufräumen nicht fertig.“

Sie sah erschrocken auf ihre Armbanduhr:

„Mein Gott, um neun Uhr ist ja Visite!“

„Na“, lachte Doktor Rasmussen, „ich beisse ja schliesslich nicht. Lassen Sie schon mal einen Stuhl einen Zentimeter weiter links stehen, als es Anstaltsvorschrift ist.“

„Um Gottes willen, was würde dann Frau Oberin —“

„Die soll uns gern haben, Schwester Christine. Herrgott, das ist ja hier eine Angst, nicht zu sagen. Übrigens, halt, laufen Sie mir doch nicht weg. Sie wollten mir doch noch von dem kleinen Fritz erzählen. Also, was ist mit ihm los?“

„Misshandlung zu Hause, Herr Doktor, schwerster Art“, sagte Schwester Christine und sah unruhig den Korridor hinunter, ob die Oberin nicht irgendwoher auftauchen würde. „Das Fürsorgeamt hat ihn uns hier eingeliefert. Nun ist er vollkommen verstört. Wittert überall Gefahr. Darum denke ich, man müsste erst einmal die Seele in Ordnung bekommen, sonst wird es auch körperlich nichts. Und darum habe ich —“ Sie brach ab — nein, sie konnte doch als kleine Lehrschwester nichts von ihrem Konflikt mit der Oberin sagen. Taktlos wäre das gewesen und hätte ausgesehen, als wollte sie sich einen Bundesgenossen in Doktor Rasmussen suchen.

„Ich muss nun wirklich gehen, Herr Doktor. Verzeihen Sie.“

„Na, gehen Sie schon, Schwester Christine, und falls es Sie beruhigt, ich werde heute auf Station 3a aller Voraussicht nach länger zu tun haben.“

„Wieso?“ fragte Schwester Christine ganz verwundert. „Da sind doch keine neuen Fälle eingeliefert.“

„Nein, das gerade nicht. Aber ich möchte verhindern, dass eine gewisse Schwester Christine mit ihrer Station noch nicht fertig ist.“

Er nickte ihr lächelnd zu, sah ihr nach, wie sie schnell in ihrem gestreiften Schwesternkleide den Gang hinablief. Ihre schwarzen Schuhe klapperten, dann klappte die Tür zu Station 3b.

Doktor Rasmussen ging rasch, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht, in sein Zimmer. Da waren noch ein paar Berichte fertig zu machen, bis der Chef erschien. Aber, es war merkwürdig. So konzentriert er sonst arbeitete, heute drängte sich immer die Erinnerung an das Gespräch mit Schwester Christine dazwischen. Immer wieder sah er den blonden zarten Nacken, die sehnsüchtige weiche Gebärde, mit der sie sich über die Blüten gebeugt. Zum ersten Male musste Doktor Rasmussen denken, wie ungemäss das Leben einer Krankenschwester für ein blühendes junges Mädchenwesen doch war. Dass ihm das noch niemals in den Sinn gekommen war! Da war man jahrelang durch Krankenhäuser gegangen. Jahrelang hatte man mit Schwestern zusammengearbeitet. Mit alten und jungen, mürrischen und freundlichen. Aber nie war einem der Widerspruch zwischen Jungsein und Krankenhausarbeit so ins Bewusstsein gedrungen. Zu allen Schwestern hatte er bisher sachlich gestanden. Sie gehörten zum Krankenhaus wie er selbst und die anderen Ärzte. Er hasste es, die Liebeleien anderer Kollegen mit Schwestern und Laborantinnen mitzumachen. Privates war bisher für ihn vom Beruflichen streng getrennt gewesen. Aber heute, diese junge zarte Mädchengestalt, das helle Licht der Sonne auf ihrem Gesicht, das zarte Rosa und Weiss der Blüten. Alles war ein Bild gewesen, zu dem eigentlich nur Sommer und Freude gehörte. Nicht dies hier. Er schüttelte den Kopf. Da hatte er weiss Gott eine falsche Bescheinigung für Krankenbogen 25c, Rosina Schmidt, geborene Werner, geschrieben.

Ärgerlich machte er einen dicken Strich durch die Notiz links oben. Als striche er damit auch seine Gedanken hinweg.

Als er nach einer Weile mit den Akten herauskam, war der Vormittagsbetrieb des grossen Krankenhauses schon in vollem Gange. Esswagen rollten in die Küche zurück. Tassen und Teller klapperten leise. Aufräumefrauen mit Eimern, in denen es nach Lysoform und Seife roch, schlürften an ihm vorüber. Ein paar Krankenwagen wurden zum Fahrstuhl geschoben, um in den Operationssaal hinaufbefördert zu werden. Bleiche, angstvolle Gesichter sahen ihm entgegen. Die erste Operation oben bei Professor Dönnis schien schon vorbei zu sein. Auf einem Wagen kam eine Frau heruntergefahren. Ihr Gesicht war grünlich-bleich in der Erstarrung der Narkose. Ein betäubender Duft von Äther ging von ihr aus. Die weissen Kittel der Ärzte wehten durch die Gänge. Schwestern gingen grüssend vorüber, trugen Gefässe mit Thermometern, Instrumenten, Verbandzeug.

Ein paar junge Ärzte kamen im Gespräch aus dem Seitenkorridor.

„Schade, dass Sie nicht oben waren, Rasmussen“, meinte ein blonder Untersetzter, „Dönnis hat eine Rippenresektion gemacht, fabelhaft, sag ich Ihnen.“

Während er sich Rasmussen anschloss, erzählte er lebhaft vom Verlauf des Eingriffs.

Schiffbruch der Liebe

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