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2.

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Schwester Christine hatte Pech. Als sie eilig in die Station hineinkam, prallte sie schon in der Tür auf die Oberin. An der Art, wie die ihren Gruss übersah, merkte sie, die Oberin hatte den Zusammenstoss an dem Krankenbett des kleinen Fritz Dumke nicht vergessen.

„Vielleicht kommen Sie das nächste Mal erst nach der Visite, Schwester Christine“, sagte sie spitz. „Warum waren Sie so lange von der Station weg?“

„Verzeihung, Frau Oberin, Herr Doktor Rasmussen hatte mich etwas zu fragen.“

Die Oberin lächelte eigentümlich:

„Aha. Und das war so wichtig, dass Sie hier Ihre Arbeit versäumen. Sie haben mit den Ärzten nur dienstlich zu sprechen, Schwester Christine. Das könnten Sie eigentlich bereits wissen.“

Christine war das Blut ins Gesicht gestiegen. Sie wollte etwas sagen, aber die Oberin schnitt ihr das Wort ab:

„Ich wünsche keine Widerrede. Sie haben sich nach den Dienstvorschriften zu richten. Sie haben bis zur Visite Ihre Station fertig zu machen und nicht irgendwo herumzuflirten.“

„Sie müssen sich nichts daraus machen, Schwester Christine“, tröstete Schwester Elisabeth leise, nachdem die Oberin das Zimmer verlassen. „Sie ist nun einmal so. Versucht uns zu ducken, damit wir nicht übermütig werden. Man gewöhnt sich auch daran.“

Christines Gesicht war sehr bleich. Sie warf den Kopf zurück. Eine kleine steile Falte stand zwischen ihren hellen Brauen:

„Nie gewöhne ich mich daran, niemals“, sagte sie leidenschaftlich. „Sie kann streng sein, sie kann von uns Arbeit verlangen, soviel sie will. Aber sie muss gerecht sein.“

Schwester Elisabeth zuckte die Adseln und rieb heftiger an dem Nickel des Hahns über dem Waschtisch: „Du lieber Gott, Gerechtigkeit? Das gibt’s doch gar nicht.“

Christine sah die junge Schwester Elisabeth an:

„Wenn’s das nicht gäbe, möchte ich nicht leben.“

Eine ältere Schwester mit blassem, übermüdetem Gesicht, die einen Schwung frischer Bettwäsche über dem Arm trug, kam herein und hörte Christines leidenschaftliche Worte:

„Es gibt viele Dinge“, sagte sie so halb zu Chrisstine, halb zu sich, „ohne die man nicht leben möchte, und man lebt doch ohne sie. Das legt sich alles, Schwester Christine. Seien Sie erst mal zehn Jahre hier, dann wundert man sich über nichts mehr.“

Christine sah das verblühte graue Gesicht, die Müdigkeit in den schmalen Schultern, in der ganzen Haltung des Körpers.

„Zehn Jahre“, dachte sie, „hier?“ Das Herz schlug ihr plötzlich schwer und angstvoll.

Ein Tag ging wie der andere. Eine Woche wie die andere. Man wachte auf in dem nüchternen Schwesternzimmer. Drei Betten standen nebeneinander. Dazu drei Schränke, drei Kommoden und ein kleiner Tisch. Mehr brauchte man auch nicht. Denn vom Augenblick des Anziehens an, wenn die steife Schwesternhaube feindlich knitternd den Kopf umschloss, war die eigene Persönlichkeit ausgelöscht. Frühstück unten in dem grossen Schwesternsaal. Es ging alles nach der Uhr. Dann fing der Dienst den Menschen ein, nahm ihm die eigene Persönlichkeit, die eigenen Gedanken. Man war nicht mehr Christine Storm, ein Mensch für sich mit eigenem Hoffen, eigenen Träumen, eigenen Wünschen. Man war die Schwester Christine, die auf Station 3b früh um fünf Uhr die Fieberthermometer einzulegen hatte, dann die Kinder zu waschen, die Unsauberen frisch zu betten, das Frühstück hereinzufahren, zu füttern, zu ermahnen, zu beschwichtigen. Man hatte die Station aufzuräumen; alles in fliegender Eile, um ja nur fertig zu sein; und doch peinlichst genau. Man hatte in Reihe und Glied zu stehen, wenn der Chef, das Gefolge der Assistenzärzte und Praktikanten hinter sich, Visite machte. Man hatte die tausend Anordnungen im Kopf zu behalten, die oft nur so im Vorübergehen gegeben wurden, und diese Anordnungen dann auszuführen. Bett 24 bekam einen Alkoholumschlag, 26 einen Öleinlauf, 34 und 35 lagen unter der Höhensonne. Man durfte das Klingeln der Alarmglocke nicht überhören, obgleich das Kind im Bett 32 gerade einen Asthmaanfall bekam und die feindlichen Brüder in 42 und 43 sich trok ihrer Krankheit wilde Kissenschlachten lieferten, bei der Wassergläser und Arzneiflaschen klirrend ihr Leben lassen mussten. Man war nichts mehr als gehetztes Denken, zusammengeraffter Wille. Aber alles wäre nicht schlimm gewesen. Alles hätte man geschafft. Denn man war ja gewöhnt, sich zusammenzuraffen und zu arbeiten. Wäre nur das Verhältnis zu der Oberin anders gewesen. Gefürchtet von allen Schwestern, liess sie an niemand ihre Launenhaftigkeit so aus wie an Schwester Christine. Obwohl Schwester Christine sich bemühte, durch sorgfältigste Arbeit keinen Anlass zum Tadel zu geben, fand sich doch immer irgend ein Grund zu einer spitzen oder feindseligen Bemerkung der Oberin. Es ging wirklich nicht nach Gerechtigkeit bei dieser Oberin. Das hatte Christine längst eingesehen. Es ging nur nach Laune. Es war wie ein Kampf, den die Oberin gegen die Lehrschwester Christine Storm führte. Ein Kampf, der von vornherein entschieden war. Denn was konnte eine kleine Lehrschwester der Oberin entgegensetzen? Nichts als das innerliche und unerschütterliche Bewusstsein, dass sie auf dem rechten Wege war, wenn sie versuchte, jeden der Kranken als einen Menschen für sich, als ein Wesen mit eigenen Wünschen und eigenem Kummer zu betrachtert. Vermutlich war es diese innere Einstellung, die die Oberin unbewusst spürte und gegen die sie den Kampf führte. Christine konnte es sich nicht anders erklären. Sie wusste nichts von dem Zwang herrischer alternder Menschen, junge mutige Seelen so lange zu unterdrücken, bis sie unterlegen waren. Es war der ewige Kampf zwischen Alter und Jugend. Zwischen Skepsis und Glauben. Dazu kam noch die Erbitterung der Oberin darüber, dass Schwester Christine offensichtlich von dem neuen Stationsarzt bevorzugt wurde. Der alte Stationsarzt, der vor Rasmussen die Station gehabt, war der Oberin ähnlich gewesen. Pflichtgetreu bis zum letzten, hatte er doch die Kranken als eine Sache betrachtet. Als eine Sache, die man nach allen Regeln der ärztlichen Kunst in Ordnung zu bringen hatte, weil das Pflicht war, aber nicht als Menschen, für die das menschliche Interesse wach sein musste. Die Oberin liebte es nicht, wenn allzuviel Wärme und persönliches Mitempfinden auf ihrer Station sich einbürgerte. Das gab nur Schwierigkeiten und machte das sichere Gefüge der Ordnung unruhig. Man war dazu da, um Kranke gesund zu machen, Aber nicht, um die Seele einzelner zu betreuen. Das war Sache der Anstaltsgeistlichen und der Fürsorgerinnen, die in regelmässigen Abständen die Kranken aufsüchten. Sehr zum geheimen Ärger der Oberin. Sie hasste überhaupt alles, was nicht in die harte Sachlichkeit der Krankenarbeit hineinpasste. Diese Fürsorgerinnen, die für die Kranken persönliche Angelegenheiten erledigten, waren eine neumodische Einrichtung. Es war früher auch ohne sie gegangen. Man verwöhnte jetzt den einzelnen Menschen viel zu sehr. Wer hatte je etwas mit ihr hergemacht? Ihre eigene Jugend als Älteste in einem grossen Geschwisterkreise war ja auch hart und karg verlaufen. Man konnte mit einem Mindestmass an Empfindungen auskommen. Man tat seine Pflicht. Weiter war nichts nötig. Und dieses „Mehr“ der leidenschaftlichen Menschenliebe, das war es, was die Oberin unbewusst in Schwester Christine Storm empfand und bekämpfte. Sie war sich über die tiefsten Gründe ihrer Abneigung gegen Schwester Christine vielleicht gar nicht klar. Aber gerade dies Unklare verstärkte ihren Hass. Diesen Hass bekam Christine bei allen möglichen Gelegenheiten zu spüren. Er lähmte alle ihre Freudigkeit. Er dersetzte sie in einen Zustand dauernder Angst. Doch man musste aushalten, bis die Lehrzeit vorüber war. Denn don dem Urteil der Oberin hing es entscheidend mit ab, was aus einem wurde.

Oft, wenn Christine abends schlaflos vor Übermüdung nach dem gehetzten Arbeitstage in ihr Bett fiel, dachte sie: „Einmal sich aussprechen können mit der Oberin, ihr einmal sagen, wie weh es tat, wenn man für alle Mühe nur immer diese verletzende Kälte oder diese tadelnde Ironie fand.“ Es war ja ohnehin soviel Schweres gewesen in dem letzten Jahr. Der plötzliche Tod des Vaters. Er hatte eine gute Praxis gehabt dort oben an der Küste. Aber er hatte nie gelernt, dass eine Praxis ausser Arbeit noch etwas anderes bringen musste, nämlich Geld. Wenn ihn ein Patient zahlte, war es gut gewesen. Wenn er nicht zahlte, war es ihm peinlich, zu mahnen. Und von den Armen hatte er niemals etwas nehmen mögen. Das war so lange gegangen, als ein grosses Privatvermögen einen Rückhalt gegeben. Aber dieses Vermögen ging wie die meisten in den wirtschaftlichen Katastrophenzeiten verloren. Als der Vater starb, war kaum so viel da, dass die Mutter das Haus halten und mit Hilfe von Pensionären ihr Leben fristen konnte. Christine war in die Schwesternlehranstalt gegangen, um sich auszubilden. Sie war bereit, zu arbeiten und sich durchzukämpfen. Sie hatte auch Kraft. Aber gegenüber Böswilligkeit erlahmte diese Kraft. Immer schmaler und blasser wurde Schwester Christine. Das Strahlende, Leuchtende, das von ihr ausgegangen, welkte förmlich. Die warmen braunen Augen bekamen einen angst vollen Ausdruck.

Doktor Rasmussen hatte schon ein paarmal etwas sagen wollen. Es stand ja alles deutlich in diesen braunen angstvollen Augen geschrieben. Aber Schwester Christine war eigentümlich scheu geworden. Wenn er sie in den Korridoren traf, so lief sie wie gehetzt an ihm vorbei. Auf der Station traf er sie nur noch, wenn dieser Wachtmeister, wie er bei sich selbst die Oberin respektlos nannte, dabei war.

Malte Rasmussen brauchte nicht lange Zeit, um einen Betrieb ganz zu durchschauen. Er hatte es sehr bald heraus, dass hier alle Schwestern und sogar die jungen Ärzte vor der Oberin zitterten. Die Oberin war die rechte Hand des Chefs und hatte das Krankenhaus im Zuge wie kaum jemand anders. Aber Malte Rasmussen fand, dass das nicht genug wäre. Er hatte sich gar nicht gescheut, der Oberin ein paarmal sehr energisch die Meinung zu sagen, weil der „Kasernenton“, wie er ihn im geheimen nannte, ihm im Krankenhaus nicht angezeigt erschien.

„Ich glaube, dass ich etwas länger im Krankenhausbetrieb bin, Herr Doktor“, hatte die Oberin scharf erklärt, „um mehr Erfahrung zu besitzen.“

„Vermutlich sind Sie eben schon zu lange drin, Frau Oberin“, war Malte Rasmussens Entgegnung gewesen, „es gibt Leute, bei denen die Länge der Zeit nur schädigend wirkt.“

„Ob meine Methode für das Krankenhaus schädigend ist oder nicht, Herr Doktor, diese Entscheidung wollen Sie bitte Herrn Geheimrat überlassen“, hatte die Oberin darauf erklärt.

Aber auch vor dieser Beschwörung duckte sich Malte Rasmussen nicht, wie er sich nie im Leben vor etwas duckte, wenn er es für nötig hält, eine Sache durchzukämpfen.

„Falls Sie die Entscheidung des Geheimrats wünschen, Frau Oberin, steht dem nichts im Wege. Es geht mich auch nichts an, wie Sie andere Stationen leiten. Das untersteht meinen Kollegen. Für die Station, für die ich verantwortlich bin, erkläre ich Ihnen, dass ich einen humaneren Ton meinen Kranken gegenüber verlange. Falls Sie sonst etwas wünschen, bitte, der Beschwerdeweg steht Ihnen offent.“

Trotz seiner Wut musste er innerlich lachen. Die Geschichte von der zur Salzsäule erstarrten Frau Lot kam ihm unwillkürlich in den Sinn, wie er die erstarrte Gestalt, das versteinerte Gesicht der Oberin sah. Die Schwestern ringsum standen wie verschüchterte Hühner, wenn der Habicht unter sie fährt. Einen Augenblick machte sich Malte Vorwürfe, dass er diese Auseinandersetzung mit der Oberin in Gegenwart der Schwestern geführt hatte. Aber schliesslich war ja sie es gewesen, die versucht hatte, ihn auch vor den Schwestern zu ducken. Das war eine Frau, die man nicht mit Glacéhandschuhen anfassen konnte. Und Malte Rasmussen lag es viel mehr, mit den Fäusten anzupacken als mit Glacéhandschuhen. Das heisst nur, wenn es sich um gesunde Menschen handelte. Seinen Kranken gegenüber war er trotz aller ärztlichen Bestimmtheit von zartester Behutsamkeit. Aber mit dem „Wachtmeister“ hier musste der Gang einmal gewagt werden.

Als Rasmussen abends ins Ärztezimmer kam, hatte der Krach mit der Oberin das ganze Krankenhaus durchlaufen und in der Phantasie der andern ungeheure Dimensionen angenommen.

Der kleine Doktor Benfag, ein unglückseliges verschüchtertes Kerlchen; das ewig für seine Existenz um Entschuldigung zu bitten schien, meinte, den langen Doktor Rasmussen halb erschrocken, halb bewundernd von unten her anschauend:

„Na, wissen Sie, Rasmussen, Mut haben Sie, sich der Oberin entgegenzustellen. Ich würde es nicht wagen.“

„Würde Ihnen auch schlecht stehen“, spottete Doktor Weber vom oberen Ende des Tisches her.

„Na, und Sie? Würden Sie es vielleicht riskieren?“ Doktor Benfang war gekränkt. Er liebte es nicht, an seine körperliche Unzulänglichkeit erinnert zu werden.

Weber säbelte ein grosses Stück Leberwurst von seinem Deputat ab:

„Riskieren vielleicht“, meinte er, aber tun nicht. Man sollte niemals mit der hohen Regierung kämpfen.“

Rasmussen, der zwischen Weber und einem andern Kollegen sass, musste lachen:

„Ich versteh euch nicht, Herrschaften. Da redet ihr immer alle grossen Töne gegen die Überschätzung der Weiblichkeit und fühlt euch, bloss weil ihr Männer seid, als kleine Herrgötter. Und auf einmal kriecht ihr vor der Hartung alle ins Mauseloch. Zum Donnerwetter, ist sie der chef?“

„Sie sind noch sehr jung, Rasmussen.“ Weber besah sich kritisch die Leberwurst. „Natürlich wieder Sorte zwei“, sagte er missbilligend, „der Ausschank hier wird auch immer schlechter; wenn es nicht freie Station wäre, würde ich meinen Abendbrottisch hier schon längst gekündigt haben. — Aber was die Hartung anlangt, so verstehen Sie nichts von der Politik. In der Politik ist die Nebenregierung doch oft genug einflussreicher als die wirkliche. Gerade so ist es bei der guten Hartung. Ohne die ist der Chef doch ein verlorener Mann. Sie ist die einzige, die ihm den Laden schmeisst. Na, und darum also.“

„Und darum kümmere ich mich den Dreck“, erklärte Doktor Rasmussen entschieden. „Wenn ich eine Kaserne wollte, hätt’ ich ja können Soldat werden. Da ich aber Arzt geworden bin und eine Krankenhausstation leite, verlange ich Menschlichkeit.“

Doktor Weber lächelte spöttisch: „Vorläufig sind Sie noch der Schillersche Jüngling, der mit tausend Segeln der Hoffnung hinausgeht. Sie werden auch noch mal still und resigniert in den Hafen zurückkehren.“

„Nie, niemals resigniert, was meine Auffassung vom Arztsein anlangt. Arztsein verpflichtet, Kollege Weber.“

Weber kaute mit vollen Backen: „Na schön, mag’s verpflichten. Ich bin mehr dafür, dass es zu guten Einnahmen verpflichtet. Aber ich will mich mit Ihnen nicht streiten. Sie sind mir zu forsch. Toben Sie sich ruhig gegenüber der guten Hartung aus. Sie werden ja sehen, wer den Kürzeren zieht, wenn die erst den Chef gegen Sie scharfmacht.“

„Wenn der Chef einen Menschen, den er für tüchtig hält, fallen lässt, nur weil dieser Mensch eine berechtigte Auseinandersetzung mit einem andern hatte, dann pfeife ich auf die Stellung hier.“

Rasmussens bis jetzt gleichmütiges Gesicht war finster geworden. Er stand auf, schob den Stuhl zurück: „Mahlzeit!“

„Nanu, schon fertig?“ fragte Doktor Weber kauend. „Sie haben ja noch kaum die Hände zum lecker bereiteten Mahl erhoben.“

„Nee, danke. Der Appetit ist mir vergangen.“

„Komisch“, meinte Doktor Weber, „wie einem der Appetit vergehen kann. Ist doch schliesslich noch das einzige, was im Leben Spass macht. Na, geben Sie mir noch einmal den Käse her, Herr Benfag.“

Schiffbruch der Liebe

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