Читать книгу Schiffbruch der Liebe - Liane Sanden - Страница 7
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ОглавлениеDas Leben ging weiter wie gewöhnlich. Täglich neue Kranke, neue Verantwortung. Das ewige Gleichmass der Arbeit. Aber etwas war verändert für Christine. Sie hatte hier einen Menschen, sie hatte Malte Rasmussen. Nichts im Dienst deutete darauf hin, dass die beiden irgend etwas Persönliches verband. Er war als Arzt und Vorgesetzter genau lo sachlich wie zuvor. Aber dennoch, mitten in der gehetzten Arbeit von Krankenbett zu Krankenbett war es ein Blick von ihm zu ihr herüber, der ihr frische Kraft gab, Mut und Freude. Plötzlich war alles leicht zu ertragen. Man war ja so wenig verwöhnt worden in dem letzten Jahr. Schwester Christine entwickelte in diesen Wochen doppelte Kräfte. Treppauf, treppab lief ihre schnelle, helle Gestalt. Sie schien ihre Augen und ihre Hände überall zu haben. Ihre sanfte dunkle Stimme, die ein so merkwürdiger Gegensatz zu der Lichtheit ihres Gesichts war, wurde noch wärmer. Ein Strom von Beruhigung und Menschlichkeit ging von ihr zu den weissen Betten, in denen Schmerz und Angst war. Kam Malte Rasmussen frühmorgens aus seinem Zimmer, um den Dienst aufzunehmen, war sein erster Blick immer den Korridor entlang, ob irgendwo Christines helles, klares Gesicht auftauchte. Der Tag begann gut, wenn er mit ihr begann. Er rechnete schon von einem Ausgang zum andern auf das gemeinsame Beisammensein. Ab und zu dachte er wohl: Wohin würde dies führen? Denn er war sich klar darüber, dass seine Gedanken sich mehr und mehr in Christine verankerten. Sie würde ihm fehlen, wenn er hier fort sein würde. Er ertappte sich dabei, dass er mehr und mehr erwog, hier sesshaft zu werden.
Professor Möller, einigermasser genesen, hatte es ihm neulich schon nahegelegt. Man war mit der Art, wie er den Chef vertrat, zufrieden gewesen. Und sogar ein Versuch der Oberin, nach Geheimrat Möllers Rückkehr ins Krankenhaus die Stellung Rasmussens zu unterminieren, war an dem unerwarteten Widerstand Möllers gescheitert. Malte hatte hier Aussichten. Der erste Oberarzt, der Kollege Brandmann, stand ziemlich sicher vor der Berufung nach Bonn. Nach Geheimrat Möllers Worten war es ziemlich sicher, dass man Rasmussens Bewerbung um diese Stelle befürworten würde Aber Malte hatte sich ja seine eigenen Lebenspläne zurechtgelegt Auf die Dauer passte er nicht in den schematischen Betrieb eines Krankenhauses. Er musste selbständig sein und, unbeschwert durch bürokratische Vorschriften, seine Tätigkeit persönlicher gestalten. In den letzten Wochen waren ihm ein paar Praxisangebote gemacht worden, darunter eins auf einer grossen Insel an der Ostsee. Ein schönes Arzthaus war vorhanden. Im Sommer gut zu tun durch den Zustrom der Kurgäste. Im Winter konnte man sich vielleicht einen Vertreter halten, um die eigene wissenschaftliche Fortbildung in der Grossstadt zu vollenden. Rasmussen hatte bereits an den Gemeindevorstand, sowie an den Kollegen, der aus Gesundheitsgründen seinen Wohnsitz dort aufgeben wollte, geschrieben. Nun war die Antwort gekommen. Es hing nur noch an seiner eigenen Entscheidung. Als er am nächsten Tage wieder einen heftigen Zusammenstoss mit der Oberin hatte, war diese Entscheidung gefallen. All diese Störungen der Arbeit fielen weg, wenn er selbständig war. Bereits am Mittag meldete er sich bei Geheimrat Möller an und teilte ihm seinen Entschluss mit. Zugleich bat er um einen kurzen Urlaub, um selbst an Ort und Stelle mit dem Kollegen und den zuständigen Instanzen zu verhandeln.
Die Nachricht, dass Doktor Rasmussen das Krankenhaus hier verlassen würde, war sehr schnell überall durchgedrungen. Auch zu Christine. Beim Mittagessen erzählte es Schwester Helene beiläufig. Christine senkte ihr Gesicht tief auf den Teller, als wäre die Betrachtung des Stücks Suppenfleisch inmitten der wässerigen Brühe von ungeheurer Wichtigkeit. „Nichts merken lassen“, dachte sie, „nichts zeigen.“ Niemand brauchte etwas zu wissen. Es war genug, dass sie es wusste, jetzt in diesem Augenblick, jäh wie ein Schlag gegen ihr aufzuckendes Herz: Malte Rasmussen ging also fort von hier. Damit ging alles, was Freude hiess und Kraft. Damit ging alles, was die Einsamkeit von einem genommen hatte. Aber man musste sich fügen. Das Leben forderte immer von einem, dass man sich fügte.
„Also hat die Oberin doch gesiegt“, sagte Schwester Helene. „War auch schön dumm von dem Rasmussen, sich mit ihr zu verkrachen.“
Der Hass gegen Rasmussen, aus Angst und Feigheit mit von der Oberin her übernommen, sprach aus ihren Worten. Nichts Gutes liess Schwester Helene an Doktor Rasmussen. Christine sass dabei. Schliesslich konnte sie nicht an sich halten. Mochten sie von ihr denken, was sie wollten. Sie liess hier nicht so von Malte Rasmussen reden.
„Hässlich ist das von Ihnen“, tönte ihre Stimme plötzlich sehr laut und entschieden, ihr Gesicht flammte. „Sie wissen ganz genau, dass Doktor Rasmussen sehr tüchtig ist und ein guter Arzt. Und ein guter Mensch. Ich finde es unanständig, jetzt, wo er fortgeht, so von ihm zu reden.“
Schwester Helene war empört:
„Na, hören Sie, was fällt Ihnen eigentlich ein? Sie vergessen wohl ganz, dass Sie noch Lehrschwester sind. Ja? Und Ihre leidenschaftliche Begeisterung für Doktor Rasmussen, damit stehen Sie nun ja ziemlich allein. Lassen Sie das nur nicht die Oberin hören. Das dürfte Ihnen schlecht bekommen.“
„Und wenn es mir schlecht bekommt, man greift einen Menschen, der sich nicht verteidigen kann, nicht so an.“
„Na, er hat ja in Ihnen Verteidigung genug. Vielleicht werden Sie auch wissen warum.“
„Was meinen Sie damit?“ sagte Christine und sah der Schwester Helene in die Augen. Die lächelte feige:
„Ach, gar nichts Bestimmtes. Im übrigen ist Herr Doktor Rasmussen für mich viel zu uninteressant.“
Es war am Tage vor der Abreise Doktor Rasmussens nach Swanhöh. Dieser Abend fiel mit einem dienstfreien Tage Christines zusammen. Sie hatten ihn in schweigender Verabredung zusammen verbracht. Es war ein Abend gewesen voll unbeschreiblicher Süsse und Wehmut. Man hatte nicht viel gesprochen. Man war nur beieinander gewesen in einem kleinen Restaurant der Stadt. Draussen ging ein kalter Landregen nieder. Dort drin aber war es warm gewesen und gedämpft. Wenige Menschen nur an den kleinen Tischen mit den gelblichen Seidenschirmlampen. Wie Christine jetzt dem Mutterhause zuging, war es, als wäre die ganze Zeit mit Rasmussen nur ein Traum, zusammengedrängt in die schwermütige Süsse dieses letzten Abends. Rasmussen hatte von seinen Zukunftsplänen erzählt. Sie hatte zugehört, dankbar, dass sie nicht zu sprechen brauchte. Denn jedes Wort hätte ein Verräter sein können. Es war eine Gnade, nicht sprechen zu müssen, ihn nur ansehen zu dürfen, wie er dasass und ihr das Bild seines zukünftigen Lebens zeichnete. Sein geliebtes Gesicht, Zug um Zug hatte sie es sich einprägen können, von dem eigensinnigen Ansatz des Haares über der Stirn mit den Denkbuckeln über der ausgearbeiteten Stirn, Zug um Zug abwärts von den sehr durchscheinenden, sehr wachen Augen zu der kräftigen Nase und dem Munde, der jetzt etwas Zusammengepresstes, Strenges hatte. „So ist ein Mann“, musste sie denken. Noch in der Gegenwart, war er in Gedanken schon ganz bei der kommenden Arbeit. Sie war für ihn nur eine Art Resonanz dessen, was er selbst wollte und plante. Für ihn war die Gegenwart hier schon Vergangenheit. Für sie selbst aber würde dies alles ewig Gegenwart sein. Zukunft war nur noch Einsamkeit. Dankbar war sie gewesen, dass sie hatte schweigen dürfen und nur ab und zu ein Wort dazwischenwerfen musste. Sie wusste ja nicht, was in Rasmussen vorging. Seine Gesprächigkeit war zum Teil gewollt. Er wollte nicht schweigen. Denn im Schweigen würde leicht etwas zutage treten, was unausgesprochen bleiben musste. Christine war ihm etwas geworden. Wieviel jedoch, wagte er jetzt nicht zu entscheiden. Es war ja erst eine kurze Spanne her, seit er geglaubt, in einer anderen Frau Lebenserfüllung zu finden. Man musste vorsichtig sein, misstrauisch gegen Gefühle und vor allem gegen sich selbst. Dies Mädchen hier war keine von vielen. Sie war etwas Besonderes. Man war es nicht nur sich schuldig, sondern auch ihr, sich zu prüfert, ehe man sie beunruhigte. Die grösste Gefahr im Leben war, aus einer sentimentalen Stimmung heraus zu handeln. So hatte er sich, wie üblich, freundschaftlich und herzlich an der bekannten Haltestelle don Christine getrennt. Christines Hand hatte eigentümlich kalt in der seinen gelegen:
„Frieren Sie, Schwester Christine?“ hatte er gefragt. Es war gut, dass der Weg dunkel war und er Christines Lächeln nicht sehen konnte:
„Ein wenig“, war ihre Antwort gewesen, „es ist ja auch wie Herbst heute.“
Dann hatte sie ihm schnell zugenickt und war schon in dem stiebenden Regen verschwunden. Er sah ihr noch einen Augenblick nach; er hatte das Gefühl, er müsste ihr nach. War da nicht in dem Klang ihrer Stimme irgend etwas gewesen? Ein Schwanken? Trauer? Irgend etwas Verändertes? Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er wandte sich um und ging seinem Zimmer im Seitenflügel des Krankenhauses zu.
Christine stand mit dem Schlüssel in der Hand vor dem schmiedeeisernen Gitter, das den Garten des Mutterhauses abschloss. Sie hörte den letzten Hall von Rasmussens Schritten, dann den dumpfen Ton, mit dem die schwere Krankenhaustür geöffnet wurde. Sie stand still. Der Schlüssel war kalt in ihrer Hand. Sie fühlte diese Kälte bis in ihre Seele hineindringen. Vom Turm der Kirche nebenan schlug es zehn. Sie war gerade zur rechten Zeit nach Hause gekommen. Aber nun tat sie etwas Merkwürdiges. Sie drehte sich um und ging wieder hinein in die Nacht. Es war unmöglich, jetzt heimzugehen. Hätte man ein Zimmer für sich allein gehabt, nur vier Wände, in denen einen niemand sehen und hören konnte, dann hätte man sich auf sein Bett werfen können und weinen. Hätte die ganze Qual des Abschieds herausschreien können, einmal nicht beherrscht zu sein brauchen. Aber in dem Zimmer zusammen mit Schwester Helene und Schwester Grete? Man würde heut abend jede Miene von ihr belauern. Jede Bewegung beachten und aus jedem Wort seine Schlüsse ziehen. Das war das Furchtbarste, dass man niemals allein war. Eine Tortur war das! Heute konnte sie es nicht ertragen. Die Nacht hier war still. Und man war in ihr allein.
Schwester Christine vergass alles. Sie vergass die Hausordnung des Mutterhauses. Sie hatte die zehn Schläge von der Kirche her einfach nicht gehört. Sie wusste nur das eine: Die Nacht war in ihrer Einsamkeit barmherzig. So ging sie weiter hinaus in die Dunkelheit. Schon war das Anstaltsgebäude im Dunkel zurückgeblieben. Da war die Strasse; Laternen flackerten im Winde. Ihre Scheiben waren vom Regen beschlagen. Eine Elektrische sauste an ihr vorüber. Nun ein Auto. Hinter erhellten Scheiben sah sie Menschen sitzen. Ziellos ging sie weiter. Als sie endlich durchnässt und wie in einer Lähmung der Willenlosigkeit wieder vor der Anstalt ankam, war es elf Uhr. Sie öffnete die Gartenpforte. Aber als sie an die Haustür kam, ging das Schloss nicht auf. Der Riegel war vorgeschoben. Jetzt erst erwachte Christine zum Bewusstsein der Gegenwart. Schred ergriff sie. Nun musste sie klingeln. Denn sie wusste, um halb elf wurde die Haustür abgesperrt. Wer dann kam, musste den Pförtner wecken. Und der hatte die Weisung, jeden Zuspätkommenden der Oberin zu melden.
Zaghaft zog sie an der Klingel. Man würde wohl eine Weile warten müssen, Grauert pflegte ziemlich tief zu schlafen. Aber ganz gegen ihr Erwarten wurde sehr bald im Treppenhause Licht gemacht. Die Haustür wurde von innen aufgeschlossen. In dem hellen Lichtviereck stand die Oberin. Schwester Christine fühlte, wie ihr Herz einen unvorschriftsmässigen Sprung tat wie ein erschrecktes Tier, um dann in einem wilden Galopp loszujagen. Sie wollte sprechen, erklären. Aber die Stimme gehorchte ihr nicht. Und ehe sie das erste Wort herausgebracht hatte, sagte die Oberin schneidend:
„Jetzt kommen Sie, Schwester Christine? Zum zweiten Male verspäten Sie sich. Sie kennen die Hausordnung. Bis uni zehn Uhr haben die Lehrschwestern im Hause zu sein. Lehrschwestern, die sich des Nachts herumtreiben, kann ich in der Anstalt nicht dulden. Gehen Sie nur dorthin, wo Sie hergekommen sind.“
Die Tür knallte zu. Es gab einen dumpfen Hall, der noch eine Weile nachzitterte.
Christine stand vor der verschlossenen Tür. Das war doch unmöglich. Dies war nicht Wirklichkeit. Sie hatte nur geträumt. Irgendwie schwer und furchtbar geträumt. Vielleicht war sie auch krank. Erst jetzt merkte sie die eisige Kälte durch die nassen Kleider hindurch, die ihren Körper erstarren liess. Sicher war es eine Halluzination, die sie gehabt. Sie hatte ja überhaupt noch nicht geklingelt. Gleich würde sie es tun. Dann würde die Tür aufgehen. Sie würde oben sein in ihrem Zimmer, sich ins Bett legen, nichts mehr denken, nichts mehr wissen. Das kahle kleine Zimmer war ihr plötzlich wie glückliches Geborgensein. Nur die Glieder ausstrecken dürfen! Sonst nichts mehr. Sie streckte die Hand zum zweiten Male nach dem Klingelknopf aus. Und jetzt, da sie die Kühle des Metalls in ihrer zitternden Hand spürte, wusste sie es auf einmal, sie hatte nicht geträumt. Sie stand hier draussen vor der verschlossenen Tür. Drinner war ja noch Licht. Sie stand ausgestossen. Man hatte sie fortgejagt. Ganz allein war sie. Nur ein paar Mark hatte sie in der Tasche, nicht einmal genug, um die Fahrkarte nach Hause zu bezahlen. Überdies, der erste Zug ging erst morgen früh. Wo sollte sie heute bleiben? Und selbst, wenn die heutige Nacht vergangen war was dann? Die Mutter setzte alle Hoffnung auf sie. Was sollte sie ihr sagen? Wie ihr erklären? Was konnte aus ihr werden, wenn man sie mitten in der Lehrzeit hier mit Schimpf und Schande fortgeschict hatte? Verzweiflung erfasste sie masslos. Nun erst war das Unglück vollkommen. Sie wandte sich. Es war ja gleich, wohin sie ging. Irgendwohin musste sie ja. Hier im Regen konnte sie nicht stehen bleiben. Wie eigentümlich schwer ihre Füsse waren! War der Boden des Vorgartens immer so uneben gewesen? Alle Augenblicke stolperte sie. Es war, als ob die Muskeln und Sehnen ihr nicht mehr gehorchten. Was für ein grelles Licht war auf einmal um die Laternen herum? Feuerräder drehten sich schneller und schneller. War das ein Feuerwerk, wie sie es in der Kindheit so oft daheim bewundert? Aber nun schossen diese Feuerräder auf sie zu, umkreisten sie näher und näher. Schon fühlte sie sengende Hitze sich entgegenwehen. Sie schrie auf, streckte abwehrend die Hände von sich, lief taumelnd.