Читать книгу Der Zauber von Regen - Liliana Dahlberg - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеNadine wollte vergessen, was sie gesehen hatte, war auf ihr Pferd gestiegen und einfach fortgeritten. Sie senkte und hob sich in dessen Rhythmus im Sattel und jagte über den Sylter Strand. Ihr schlug dabei ein starker und rauer Wind entgegen.
Sie ließ alles in einem schnellen Galopp hinter sich und wünschte, dass es Fliehkräfte und die Gravitation nicht gäbe, um wie in einem Traum davonfliegen zu können. Sie fühlte sich, als durchlebe sie einen Albtraum, doch sie wusste, dass es aus diesem kein Erwachen gab. Denn sie hatte nicht in tiefem Schlaf gelegen, als sie die schlimmste Szenerie ihres Lebens hatte verfolgen müssen und man ihr Herz in tausend Stücke gerissen hatte. Nadine glitt mit ihrem Pferd dahin, und die Landschaft zog an ihr in einem unglaublichen Tempo vorbei. Sie glaubte, jegliches Zeitgefühl verloren zu haben. Was hielt sie jetzt noch? Nur ihr schwarzer Hengst gab ihr momentan Halt. Tränen flossen über ihr hübsches Gesicht, und ihr war, als sei die ganze Insel von einem grauen Schleier umhüllt. Sie empfand ein Taubheitsgefühl, und gleichzeitig erfuhr sie all die Emotionen einer Frau, die man unglaublich verletzt hatte. Die Wellen brandeten an das Ufer, und die Möwen kreischten. Sie zügelte schließlich ihr Pferd vor einer Dünenkette und hielt es an. Nadine stieg vom Sattel, ließ sich in den kühlen Sand gleiten und umklammerte die Zügel von Blacky. Dabei rannen abermals Tränen über ihre Wangen. Wieder spürte sie den Wind, der durch ihren Körper und ihre Haare fuhr. Sie sank in sich zusammen und hielt mit einer Hand immer noch die Zügel fest. Nadine wollte die Bilder aus ihrem Kopf verbannen, die sich vor ihrem inneren Auge erneut abspielten. Nur ein Mensch, der so stark geliebt hatte wie sie, konnte diesen außergewöhnlichen Schmerz spüren. Es würde lange dauern, bis diese Wunden heilten, so tief waren sie.
Nadines Körper krümmte sich. Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ein Strom aus Tränen floss weiter über ihre Wangen, der genauso unaufhaltsam schien wie der des Meeres. Nadine dachte fassungslos an ihr Leben, das bisher doch so glücklich gewesen war. Nicht wenige waren sogar der festen Überzeugung, sie hätte das Glück gepachtet, und hatten sie beneidet. Tatsächlich hatte Nadine als erfolgreiche Architektin ein mehr als gutes Auskommen und wohnte in einem schönen und komfortablen Apartment im Herzen Westerlands. Allzu große Sorgen hatte es in ihrem Leben nicht gegeben.
In einer Villa in Kampen, die ein für das Dorf typisches Reetdach schmückte, verbrachte sie eine unbeschwerte Kindheit. Ihr Vater war ein renommierter Herzchirurg, und ihre Mutter arbeitete als Dolmetscherin für die Vereinten Nationen. Doch ihr Vater ging in seiner Freizeit seiner eigentlichen Berufung nach. Er war Besitzer eines großen Gestüts unweit von Kampen und ein passionierter Pferdezüchter. Sein Bruder Wilfried leitete es überaus erfolgreich. Beide waren ein eingespieltes Duo. Sie betrachteten das Gestüt nicht einfach als irgendeinen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern als eine Art Weltanschauung, in der Pferde die Hauptakteure waren. Nadines Gedanken wanderten weiter. Sie erinnerte sich daran, wie sie bereits mit sechs Jahren ihr erstes Pferd geschenkt bekam und innerhalb kürzester Zeit die Kunst des Reitens erlernt hatte.
Sie beherrschte wirklich alle Gangarten des Tieres im Handumdrehen gekonnt und führte sie tadellos aus. Zudem saß sie wie keine Zweite fest im Sattel, und eine gewisse Anmut sprach aus ihrer Haltung. Sie erkundete zu Pferd schon früh die ganze Insel und gewann wie so viele andere Reiter den Eindruck, dass sich das Glück der Erde tatsächlich auf dem Rücken der Pferde befand. Sie verlebte viele wunderschöne Sommer mit ihrer Stute Bianca, die ein echter Lipizzaner war und die Blicke vieler Interessenten und Pferdenarren auf sich zog. Nadines Vater wurden damals viele verlockende und großzügige Angebote zum Verkauf des Pferdes unterbreitet, die er stets ausschlug.
Doch dann geschah das Unvorhersehbare: Nadines Bianca erkrankte über Nacht an einer sehr ernsten Form der Kolik und starb. Nadine litt unglaublich unter dem Verlust ihrer Stute, aber sie gewann ihr Lachen langsam zurück. Denn sie erhielt von ihrem Vater, der stark mit ihr mitfühlte, an ihrem nächsten Geburtstag ein großes Geschenk: ein anderes Pferd. Es war ein prachtvoller schwarzer und zutraulicher Hengst. Ein reinrassiger Araber. Nadine taufte ihn liebevoll auf den Namen »Blacky«. Er wurde schon bald zu ihrem treuen Wegbegleiter, und Nadine durfte wieder die Freude und das Glück erleben, das sie glaubte, nach dem Tod von Bianca verloren zu haben.
Nadines Mutter verbrachte die meiste Zeit in New York und kam nur selten auf die Insel. Dass sie beruflich bereits früh im Ausland gearbeitet und sogar an Wochenenden häufig am Frühstückstisch gefehlt hatte, störte Nadine nur anfangs. Schnell gewöhnte sie sich an diesen Umstand, der eine Art stillschweigendes Arrangement der Familie Hansen war. Die nötige Nestwärme bekam sie von ihrem Vater, und so reifte sie zu einer starken Frau heran, die sich Herausforderungen stellte und mit einer großen Neugierde durchs Leben ging. Sie wurde zu einer attraktiven Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog und sehr umschwärmt war. Ihr Vater sagte immer, dass sie von Kindesbeinen an von Tag zu Tag schöner geworden sei. Das stimmte auch. Sie war groß und schlank, ihre Augen waren von einem wunderbaren Blau, und ihr Haar, das ihr in blonden Locken fast bis zur Taille reichte, ließ sie engelhaft erscheinen. Außerdem hatte sie ein charmantes Lächeln, das bezaubernd wirkte. Man konnte ihr nur schwer einen Wunsch abschlagen. Sie besaß noch dazu einen netten und aufrichtigen Charakter, den viele an ihr schätzten.
Das änderte aber nichts daran, dass sie zu ihrer Mutter Rita nie eine enge Bindung aufbauen konnte. Nadine glaubte, dass sie zeitlebens eine gewisse Distanz zu ihr wahrte. Noch ein weiterer Unterschied zeigte sich am Mutter-Tochter-Verhältnis, im Gegensatz zu ihrer engen Beziehung zum Vater: Nadines Mutter teilte nicht die Begeisterung für Pferde von Vater und Tochter, und ihr war es auch nicht begreiflich, warum ihr Gatte das Gestüt in den Achtzigerjahren erworben hatte. Sie gewann sogar den Eindruck, dass er lieber der Pferdezucht nachging, als Zeit in ihre Ehe zu investieren. Sie war froh, als sie nach ihrer Laufbahn als Dolmetscherin in Brüssel die Chance erhielt, in New York zu arbeiten, und sie sich von Pferdegeruch und einem Ehemann befreien konnte, der des Öfteren, wie sie immer mit schnippischem Unterton sagte, vor Problemen »davonritt«. Dies war ganz bildlich gemeint, denn ihr Mann Bernd fuhr bei einem sich anbahnenden Ehestreit lieber zu einem seiner Pferde und verbrachte oft Stunden auf dessen Rücken in der Hoffnung, die Unstimmigkeiten lösten sich in Wohlgefallen auf, sobald er wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte. Auch nach Streitgesprächen hielt ihn wenig in seinen eigenen vier Wänden, und er saß schon bald wieder im Sattel.
Nadine ging es ebenso, wenn sie ein Problem zu wälzen hatte und im wahrsten Sinne des Wortes einen Perspektivwechsel brauchte.
Dass sie aber an diesem Abend ihren Blacky aufsuchte und mit ihm die Flucht ergriff, hatte einen anderen Grund. Ihre Welt war aus den Angeln gehoben und Seiten aus ihrem Bilderbuchleben gerissen worden. Sie war verzweifelt.
Mühevoll richtete sie sich auf und drückte ihr Gesicht gegen Blackys Kopf. Konnte er das Tränenmeer aufhalten und sie trösten? Es beruhigte Nadine ein wenig, dass sie seinen warmen Atem spürte, als sie ihm mit ihrer Hand über die Nüstern strich. Sie richtete schließlich ihren Blick gen Horizont. Viele Fragen tauchten in ihrem Kopf auf. Was war mit ihrer Liebe zu Tom, ihrem Verlobten, geschehen, von der sie glaubte, sie würde bis ans Ende ihrer Tage anhalten? Da waren wieder diese vielen Tränen, die sich den Weg aus ihren Augen über ihre Wangen bahnten und nicht enden wollten. Sie betrachtete den Goldring an ihrem Finger, mit dem Tom einst um ihre Hand angehalten und ihr ewige Liebe geschworen hatte. War der Tod dieser Liebe schleichend gekommen, ohne dass sie es zu spüren vermochte? Mit dem heutigen Abend war für sie mit einem Mal das enge Band zerschnitten worden, das sie verbunden hatte. Ein Band von Zuneigung und Hingabe.
Sie blickte auf den sandigen Boden und sah eine große Muschel, die in der Mitte entzweit war. Nadine bückte sich und hob sie auf. Sie zitterte am ganzen Körper.
Die beiden Teile schienen auch einmal zusammengehört zu haben, genau wie sie und ihr Verlobter. Doch das Meer hatte wohl andere Pläne mit ihnen und die beiden Stücke unnachgiebig auf dem Weg durch den Ozean getrennt und dann an Land gespült. Vielleicht würde sie eines Tages all das verstehen, was heute geschehen war. Denn wenn etwas zu Ende ging, begann dann nicht auch immer etwas aufregend Neues? Wer weiß, möglicherweise hatte jemand da draußen auch Pläne mit ihr, die mit Tom an ihrer Seite nicht realisierbar gewesen wären. Für sie war die Muschel von tiefer Symbolik. Sie umschloss sie fest und schaute dem Meer beim Spiel der Wellen von Kommen und Gehen am Ufer zu. Nadine fasste wieder etwas Mut und kam zu einem Entschluss. Sie zog schnell den Ring von ihrem Finger und warf diese Reliquie ihrer Liebe in die Wogen des Meeres.
Sie schenkte ihnen etwas, was jetzt nicht mehr ihr gehörte.
Nadine glaubte, dass sie ihre Emotionen widerspiegelten, so wie sie momentan hochschlugen und bei Ebbe doch wieder zu einem ruhigeren Fluss zurückfanden. Bald würde sie sicherlich wieder durch ruhigere Gewässer fahren und Kurs auf ein neues Ziel nehmen, das sie nur noch nicht kannte.
Der starke Schmerz wich aber noch nicht vollends von ihr, und ihre Glieder waren von einer sonderbaren Schwere. Nadine stieg wieder in ihren Sattel und lenkte Blacky zurück auf das Gestüt ihres Vaters. Dort angekommen, führte sie ihn in seine Box. Nadine versorgte Blacky nach ihrem Ausritt gewissenhaft. Sie gab ihm einen Kuss auf seine weiche Schnauze, als sie ihn verließ, und war zufrieden, wieder etwas neue Kraft geschöpft zu haben, und glücklich, dass ihr treuester Weggefährte ihr in schweren Lebenslagen immer zur Seite stand.
Sie war jedoch gehemmt, den Heimweg wieder anzutreten, denn ihre Wohnung in Westerland war Schauplatz des Geschehens gewesen, das ihre Welt einstürzen ließ. Tom hatte es gewagt, diese Frau auf ihrem Sofa zu lieben! Ihre Trauer ließ nun auch Platz für Groll, Ärger und richtige Wut, als sie sich ihrem Auto näherte, das auf dem Vorplatz des Gestüts geparkt war. Ihr Ehemann in spe wähnte sie noch auf der Arbeit und vergnügte sich ausgelassen mit dieser gewissen Veronika. Das Gefühl von tausend Nadelstichen, in das sie dieser Umstand versetzte, war kaum zu beschreiben. Erst glaubte sie, dass sie nicht mehr weiteratmen könnte und die Welt sich in diesem Moment aufhörte zu drehen. War sie in einem schlechten Film? Veronika war die Frau, mit der sie in einem Architekturbüro bisher erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Sie beide gehörten zu einem vierköpfigen Team, nach dessen Zeichnungen und Entwürfen schon so manches Haus auf der Insel entstanden war. Geleitet wurde es von Lennart Petri, einem herausragenden Architekten mit großem Renommee. Er zeichnete für viele Bauten auf dem Festland und sogar in Berlin verantwortlich. Lennart Petri kannte Stärken und Schwächen seiner Mitarbeiter genau und wusste, wer sich von ihnen mit wem beim Arbeiten am besten ergänzte. Er war besonders von den Entwürfen zu Traumhäusern angetan, die Veronika und Nadine erstellten, und ließ beide eng zusammenarbeiten. Nadine glaubte, zu Veronika einen guten Kontakt aufgebaut zu haben, den sie für ihr Schaffen als unabdingbar hielt. Nachdem die beiden aus dem Büro spaziert waren, saßen sie noch oft in einem Restaurant beisammen und redeten über den Tag. Dass es folgenschwer war, ihr zu vertrauen, und sie den Fehler machte, Veronika mit unzähligen Gesprächen zu viel Einblick in ihr Privates zu gewähren, hatte sich am heutigen Abend erwiesen.
Nadine hatte Veronika von ihrer Liebe zu einem Bankkaufmann, ihrem Verlobten, vorgeschwärmt, einem Mann, dessen Lächeln sie verzauberte und dessen Tiefe in der Stimme sie genauso liebte wie jene seiner Augen, die ihn so unergründlich erscheinen ließen. Es war für jedermann ganz offensichtlich, dass Nadine in den aufstrebenden Bankmanager hoffnungslos verliebt war.
Veronika war dies auch aufgefallen, und doch konnte sie nicht anders, als sich Tom hinzugeben, denn die Liebe, die er ihr schenkte, besaß in ihren Augen eine ungeheure Sprengkraft und war von einem wunderbaren Zauber. Es schmeichelte ihr, dass dieser attraktive Mann, der so mondän und erfahren wirkte, sein Herz an sie verloren zu haben schien. So war sie es, die Nadines Liebe aufs Spiel setzte und diese wie ein Kartenhaus zusammenfallen ließ. Außerdem dachte sich Veronika wohl, dass sie ja auch nur eine Frau mit Sehnsüchten und Bedürfnissen sei, als sie eines Sommerabends mit Nadine im Restaurant »Seeblick« saß und deren Verlobter Tom zur Tür hereinkam. Es war einfach um sie geschehen. Sie war sicher, dass er der Mann ihrer nicht gelebten Träume war. Für sie war er die Inkarnation des edlen Ritters, nach dem sie sich schon als junges Mädchen gesehnt hatte. Er war der, der sie auf sein weißes Ross holen, dem Alltag entreißen und in spannende Welten entführen würde. Sie machte sich zwar Vorwürfe, dass sie schließlich völlig seinem Charme erlag, den er bei Tisch ausspielte, jedoch war das Gefühl der Liebe auf den ersten Blick stärker. Die Stimmen der anderen Gäste im »Seeblick« schienen plötzlich so weit entfernt. Sie hatte nur noch Augen und Ohren für ihn. Was wäre gewesen, wenn Nadine gewusst hätte, dass sie Tom bereits an diesem Abend an Veronika verloren hatte, schon Wochen vor dem Abend, der für sie mit einem Paukenschlag endete?
Tom hatte sich damals bewusst auf das Spiel mit dem Feuer eingelassen, als Veronika, dieses eigentlich unscheinbare Mädchen, begann, eine ungeheure Anziehungskraft auf ihn auszuüben.
Obwohl sie nicht eine so starke Präsenz ausstrahlte wie Nadine, war es gerade ihr etwas scheuer Blick mit diesen grünen, leicht eng stehenden Augen, der ihn an eine schöne Katze erinnerte, und diese braunen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, die ihn seine Versprechen von Treue an Nadine vergessen ließen. Er wollte sich kopfüber in ein Liebesabenteuer stürzen, das einen besonderen Reiz für ihn hatte. Die Glut der Leidenschaft entflammte schließlich endgültig zwischen Tom und Veronika, als sie sich heimlich in ihrer Wohnung trafen, die etwas weiter südlich von Westerland lag. Er legte bei ihr sofort den Verlobungsring ab und gab sich ganz der Lust hin. Veronika befreite sich von anfänglichen Zweifeln in ihrem Handeln. Ihren Ritter, der nach ihr zu lechzen schien, konnte sie nicht wegstoßen. Nadine war letztendlich noch nicht mit Tom verheiratet, somit war es kein Ehebruch. Selbst wenn sie später einmal Rechenschaft ablegen musste, war es ihr das wert, dieser Versuchung nachzugeben. Denn das Gefühl, von einem wunderschönen Mann erobert und begehrt zu werden, war unbeschreiblich. Seine breiten Schultern luden zum Anlehnen ein, sein markantes Kinn und seine glasklaren, blauen Augen ließen sie träumen und alles um sich herum vergessen. Konnte wahre Liebe Sünde sein? So küsste sie schon bald seine vollen Lippen und seinen athletischen Körper. Sie glaubte, dass die angenehme Hitze, die sie verspürte, wenn sie ihn mit ihren Armen umschlang, sie einen ganzen Winter lang wärmen könnte. Sie war mit Männern noch sehr unerfahren und hatte nur wenige Verflossene auf ihrer Liste. Veronika war sich sicher, dass sie mit Tom ein Stück reifen und wachsen würde. Doch die Versteckspiele hinterließen bei ihr bald Spuren. Während Tom den Spagat zwischen Seitensprung und treu sorgendem Verlobten mühelos meisterte, fand Veronika oft nur schwer Ruhe, denn der Sog, den der Strudel des Verbotenen aus Gewissensbissen mit sich brachte, riss sie mit. Sie hatte Probleme, an manchen Tagen in den Spiegel und Nadine auf der Arbeit ins Gesicht zu sehen.
Es gab so viele Momente, in denen Veronika kurz davor war, ihr die Wahrheit zu sagen, doch sie ließ sie immer wieder verstreichen, weil sie sich in Erinnerung rief, dass Tom unter keinen Umständen wollte, dass es seine Verlobte durch sie erfuhr. Er meinte, dass es seine Aufgabe und Bürde sei, Nadine reinen Wein einzuschenken. Er wolle den richtigen Augenblick abwarten. Daraufhin gerieten die beiden aneinander.
»Du willst den richtigen Augenblick abwarten?«, fragte Veronika mit einem vorwurfsvollen, gar aufgebrachten Ton in der Stimme. »Mensch, Tom! Dafür gibt es nicht den richtigen Augenblick. Ich halte diese Lügerei nicht mehr aus. Mir wächst schon eine lange Nase!«
Tom erwiderte leicht entnervt: »Dann geh doch zum Schönheitschirurgen. Ich bin mir sicher, der bekommt das wieder hin!«
Damit war das Thema vom Tisch. Veronika traute sich nicht weiter, darauf zu pochen, dass Tom ein klärendes Gespräch mit Nadine führte. Außerdem hatte sie seine zynische Äußerung eingeschüchtert. Tom wollte auf den Adrenalinkick nicht verzichten, der ihm seine Affäre verschaffte. Sein Ego wuchs von Tag zu Tag, denn von zwei Frauen gleichzeitig geliebt zu werden, war ein Luxus der besonderen Art. Es sollte zum großen Knall kommen, als er Veronika an einem Nachmittag anrief.
»Schatz, ich vermisse dich so schrecklich! Nadine hat mir heute in der Früh gesagt, dass sie einen Termin mit der Bauaufsichtsbehörde hat und gegen Abend den Bau einer Villa in Kampen überwacht. Es wird also später. Du hast doch heute deinen ersten Urlaubstag. Den würde ich dir gerne versüßen. Komm zu mir, so gegen sechs.« Damit meinte er Nadines Wohnung.
Veronika zögerte: »Ich weiß nicht, Liebling. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Es ist ihr Apartment …«
Er zerstreute ihre Bedenken: »Sobald du über die Schwelle trittst, wird es für gut eine Stunde nur uns gehören.«
Veronika gab schließlich nach und stand Punkt sechs vor der Tür eines schönen Wohnhauses. Sie hatte noch zuvor ein Parfum von Davidoff in einem Geschäft in der Friedrichstraße für ihren Liebsten erstanden, um nicht mit leeren Händen zu kommen. Als Tom die Tür öffnete, stand er in einem blütenweißen Hemd und einer engen Jeans vor ihr. Er lächelte sie charmant an.
Tom zog seine rechte Augenbraue leicht hoch in der Hoffnung, noch unwiderstehlicher zu wirken. Sein Ziel war es, Veronika auf verbotenes Territorium zu locken, obschon er die leichte Beklemmung in ihren Augen sah. Ferner schaute er sie bedeutsam und auch ein wenig verspielt an. Dann fixierte er Veronika mit verwegenem Blick. Er bediente sich wirklich aller Tricks der Verführung. Seine Mimik setzte er genauso gekonnt ein wie ein begabter Schauspieler. Er ergriff schließlich die Hand seiner Beute und führte sie ins Treppenhaus. Sie stiegen es hinauf, wobei Tom Veronika eilig über die Stufen zu Nadines Wohnungstür hinter sich her zog. Sie traten über die Schwelle. Tom schloss die Tür behutsam und so geräuschlos wie möglich. Im Apartment sah sich Veronika nervös um. Ihr Herz schlug in der Stärke eines Tamburins. Sie legte das Parfum, von dem Tom nicht weiter Notiz genommen hatte, auf einen kleinen Flurtisch.
Das eigentlich stilvoll eingerichtete Reich von Nadine wirkte auf Gäste immer einladend, doch bei Veronika hielt sich das Gefühl, dass es vermint war und man jederzeit mit einer Detonation rechnen musste. Erst als sie mit Tom vorsichtig immer mehr Zärtlichkeiten auszutauschen begann, verlor sie all ihre Scheu. Beide waren vom Flur in das Wohnzimmer getreten. Sie küssten sich innig vor der Couch, die Nadine erst kürzlich bei einer Auktion in Paris erworben hatte. Diese kostbare Antiquität war sehr ausladend und Zeugnis einer längst vergangenen Zeit. Nadine hatte nämlich auch einen ausgeprägten Sinn für Inneneinrichtung sowie eine Schwäche für Möbelstücke, die Geschichte atmeten.
Veronika und Tom waren jetzt in heißem Verlangen eng umschlungen. Ihre Zungen suchten gierig Befriedigung im Mund des anderen. Sie ließen sich schließlich auf das Sofa fallen, und ein Kleidungsstück nach dem anderen fand seinen Weg auf den Boden. Schon bald spürte Veronika, wie sie eins mit Tom wurde, und vergaß völlig ihre Umgebung. Sie lebte nun ganz für den Augenblick.
Nadine hatte derweil schon einen großen Teil eines anstrengenden Arbeitstages hinter sich gebracht, der früher endete als erwartet. Denn nachdem sie den Termin bei der Bauaufsichtsbehörde wahrgenommen und sich darüber hinaus im Bauausschuss von Westerland für die Konstruktion von Reihenhäusern auf einem freien Grundstück der Stadt eingesetzt hatte, meinte Lennart Petri, dass sie nicht auch noch gegen Abend den Bau einer Villa in Kampen beaufsichtigen müsse. Er würde das übernehmen. So freute sich Nadine riesig über den verfrühten Feierabend. Doch sie schlug, als dieser gekommen war, nicht sofort den Weg zu ihrem Apartment ein, sondern steuerte einen der Crêpestände an, die die Friedrichstraße säumten. Sie wusste, dass Tom um diese Uhrzeit gewöhnlich von der Arbeit zu Hause war und sicherlich bereits in ihrer Wohnung auf sie warten würde. Sie wollte ihn mit seinem Lieblingscrêpe überraschen und ihm ein Stück Frankreich mitbringen. Dieses Land war nämlich auch ihr bevorzugtes Urlaubsziel. In Paris, der Stadt der Liebe, hatte er ihr damals die Frage aller Fragen gestellt und ihr auf dem Eiffelturm den Verlobungsring über den Finger gestreift. Sie war vor Freude und Glück in Tränen ausgebrochen, ihm um den Hals gefallen und hatte »Ja!« geschrien. Sie schwelgte gerne in diesen Erinnerungen. Diese stiegen in ihr auf, als sie sich in die Schlange vor dem Stand stellte. Er hatte ihr damals versprochen, dass der Goldring mit einem Diamanten besetzt würde, sobald sie vor den Traualtar schritten.
Der Termin für die Hochzeit wurde jedoch immer wieder verschoben. Sie konnten sich auf keinen einigen, geschweige denn auf den Ort der Trauung. Während Tom eine Hochzeit in einem Skigebiet in Tirol vorschwebte, wollte Nadine auf Sylt im Spätsommer am Strand heiraten. Tom sagte, dass er sie zu seiner Schneekönigin machen und sie in einem Berghotel über die Schwelle tragen wolle. Er meinte zu Nadine, dass doch heutzutage alle Welt am Strand heiraten würde und es nichts Besonderes mehr sei.
»Statt eines Brautkleides trägst du dann einfach einen schicken Schneeanzug. Konventionell heiraten ist doch langweilig, mein Schatz, oder sollte ich sagen, mein Schneehase?«
Es blieb bei den Plänen. Nadine fing an, immer noch in der Schlange stehend, ein wenig zu träumen. Bei dem Gedanken, Tom dann doch eines Tages zu ehelichen, bekam sie fast schon weiche Knie wie bei ihrem ersten Kuss. Sie erinnerte sich noch genau, als sei es gestern gewesen. Sie hatten einen langen Spaziergang auf der Insel unternommen und wegen starken Regens Unterschlupf in dem Leuchtturm bei Hörnum gesucht, dessen Ausguck ein wunderschönes Panorama bot. Dort fanden ihre Lippen zueinander. Nadine wollte in diesem Moment die Zeit anhalten.
Eine Stimme holte sie aus den Träumen. »Madame, wollen Sie nun einen Crêpe, oder was? Sie müssen schon was sagen, denn Gedanken lesen kann ich nicht.«
Sie war an der Reihe. Ein vollbärtiger Mann, der so aussah, als sei er ein richtiger Seebär und hätte bereits alle sieben Weltmeere bereist, schaute sie erwartungsvoll an. Er trug trotz des lauen Sommerabends eine Mütze und einen roten Schal, und seine Haut schien so rau, als sei ihm schon oft der Seewind um die Nase geweht. Er bot einen lustigen Anblick. Nadine spielte ein wenig mit ihrer Fantasie. Er dachte sich wohl, dass er seine Finanzen ein wenig aufbessern könnte, indem er in seinem Rentnerdasein Crêpes verkaufte. So sah es zumindest aus. Das war aber auch nicht weiter wichtig. Mit einem strahlenden Lächeln gab sie einen Nugatcrêpe in Auftrag. Mit dieser kleinen Aufmerksamkeit wollte sie ihrem Tom eine Freude machen. Sie fand es nämlich wichtig, mit kleinen Gesten zu zeigen, dass man sich liebte und an den anderen dachte. Als sich der Crêpe nun, in Alufolie verpackt, in ihrer Hand befand, ging sie zu dem Haus, in dem sie eine siebzig Quadratmeter große Wohnung ihr Eigen nannte. Schon wenige Augenblicke später stand sie vor dem Gebäude mit seinem hellen und freundlichen Anstrich. Sie kramte mit der noch freien Hand den Schlüsselbund aus ihrer paillettenbesetzten Handtasche und öffnete die Tür. Nadine betrat den Wohnkomplex, und nur noch das Treppenhaus trennte sie von ihrem Apartment. Sie konnte es kaum erwarten, Tom in ihre Arme zu schließen. Sie erklomm im Schnellschritt die Stufen, drückte die Türklinke herunter, und das Unheil nahm seinen Lauf.
Sie betrat ihr Apartment und vernahm deutlich ein Stöhnen, das von ihrem Wohnzimmer her an ihre Ohren getragen wurde. Sie fragte sich, ob der Fernseher angeschaltet war und Tom eine Liebeszene verfolgte. Nadine konnte noch nicht ahnen, dass dieser selbst in einer solchen involviert war und eine tragende Rolle darin spielte.
Schließlich trat sie von dem kurzen Flur in ihr Wohnzimmer. Der Fernseher war ausgeschaltet, und dennoch sah sie Bilder, die sie nicht so schnell vergessen sollte. Ihr Blick war auf die Couch gerichtet, die gut zwei Meter vor dem Fernseher und zentral im Zimmer stand. Sie traute ihren Augen und Ohren nicht. Nadine wurde kreidebleich, als sie Tom mit Veronika beim Liebesakt sah. Sie durchlebte die schlimmsten Momente ihres Lebens. Ihr entfuhr ein heller Schrei. Schlüsselbund und Crêpe entglitten ihr und fielen geräuschvoll auf das Parkett. Dann herrschte für ein paar Sekunden Stille. Wäre jetzt eine Stecknadel auf den Boden gefallen, hätte man sie gehört. Denn Tom, der Nadine sah, als er seinen Kopf von Veronikas Hals hochhob, den er soeben noch leidenschaftlich und innig geküsst hatte, erstarrte. Seine Hand war um Veronikas Hüfte gelegt. Deren Augen waren geschlossen gewesen, weil sie das prickelnde Gefühl, das sie erlebte, noch intensiver genießen wollte, doch mit Nadines Schrei waren diese aufgesprungen. Auch bei ihr saß der Schock tief, und blankes Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie nun ihre Freundin und Kollegin erblickte. Veronikas schlimmste Befürchtungen waren eingetreten. Tom erholte sich zuerst von dem Schock, der alle im Raum gelähmt zu haben schien, und fand die Sprache wieder. Er löste sich von Veronika und versuchte, ruhig auf seine Verlobte einzureden. Sein Spiel war aufgeflogen, und sein Liebesabenteuer hatte ein jähes Ende gefunden.
»Nadine, mein Schatz. Schön, dich zu sehen!«, log er. »Bleib jetzt bitte ganz ruhig und versuche, die Situation nicht falsch zu verstehen. Was du hier siehst, ist schließlich sehr menschlich und …«
Nadine schnürte es die Kehle zu, und sie glaubte, dass man ihr soeben ein Messer mitten in die Brust gerammt hätte. Sie rang um Fassung. Sie fing an zu schluchzen und legte ihre Hand auf den Mund. Nadine glaubte, dass es sie innerlich zerriss. Sie musste hier raus, bevor sie erstickte oder verblutete. Sie hob ihren Schlüsselbund auf und flüchtete zur Tür.
Tom sprang von der Couch und rannte ihr hinterher. »Nadine, so warte doch, ich kann …«
Diese drehte sich zu ihm um und schrie ihn an, wobei ihre Worte immer wieder von einem starken Schluchzen unterbrochen wurden: »Ich soll warten? Etwa darauf, dass Veronika ihren Höhepunkt mit dir hat, du Schuft? Du hast auch nicht damit gewartet, unsere Liebe zu zerstören!« Ihre verweinte Stimme klang um ein paar Oktaven höher als sonst und sehr schrill. Aus ihr sprachen pure Verzweiflung und Fassungslosigkeit. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt. Sie fasste sich an den Kopf und fuhr mit ihren Händen durch ihr langes blondes Haar.
Konnte das alles wahr sein? Sie wandte sich wieder der Tür zu, rannte hinaus und warf sie vor Toms Nase ins Schloss. Im Treppenhaus nahm sie zwei Stufen auf einmal, um so schnell es ging diesen schrecklichen Ort zu verlassen. Es gab jetzt nur noch einen, den sie sehen wollte und der ihr in dieser schwierigen Situation beistehen konnte: ihr Blacky. So fuhr eine in Tränen aufgelöste Nadine auf das Gestüt ihres Vaters.
Es waren nun gut zwei Stunden vergangen, seitdem Nadine Zeugin vom Liebesspiel ihres Verlobten und Veronika geworden war.
Nadine stieg gerade in ihr Auto und startete den Motor, um einen schweren Weg anzutreten. Sie wusste, dass das Geschehene sie in ihrer Wohnung wieder einholen würde. Sie zögerte. Durch das Licht der angeschalteten Scheinwerfer sah sie eine ihr bekannte Gestalt aus den Stallungen laufen. Diese war groß und hatte einen leichten Bauchansatz. Ihre eigentlich dunkel gelockten Haare waren schon von einem leichten Grauton durchdrungen, und im Gesicht, das stets offen und sehr herzlich wirkte, trug sie einen Schnauzer. Es konnte sich somit nur um ihren Vater handeln, der noch mal bei seinen Pferden gewesen war. Sie überlegte, ob sie aussteigen und sich ihm anvertrauen sollte. Schließlich verband beide ein gutes Verhältnis. Sie entschied sich dafür, ihr Leid mit ihm zu teilen, in der Hoffnung, dass es an Stärke verlieren würde. Sie stieg aus und lief auf ihren Vater zu. Er freute sich, sie zu sehen. Doch er war sehr besorgt, als er die roten, verweinten Augen seiner Tochter und ihren leidenden Gesichtsausdruck bemerkte. Er hatte sie selten so zerbrechlich gesehen und schloss sie sofort in seine Arme. Die beiden befanden sich auf der Höhe des eingezäunten Longierplatzes, der in der Mitte des Gestüts auf Ross und Reiter wartete. Er war von dem Verwaltungsgebäude auf der Stirnseite sowie rechts und links von den Ställen umgeben, die um ihn wie ein Hufeisen ausgerichtet waren.
»Was ist passiert, mein Schatz? Geht es Blacky nicht gut?«, fragte ihr Vater sanft.
Nadine schnaufte tief und holte Luft. Sie war noch kurz gehemmt. Dann brach es aus ihr heraus. Sie berichtete ihrem Vater alles und sparte nichts aus. Keine Träne trat mehr aus ihren Augen, doch die Schluchzer kehrten wieder.
»Paps, ich habe Angst, nie wieder glücklich zu werden!«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe heute Abend nicht nur eine große Liebe verloren, sondern auch eine Freundin. Beiden habe ich vertraut. Sie haben mir so wehgetan …« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Ihr Vater strich Nadine mit seiner rechten Hand über den Rücken. Er versuchte, seiner Tochter ein Lächeln zu entlocken, und meinte schmunzelnd: »Ich als dein Vater sollte diesem Tom sämtliche Knochen brechen.«
»Ach, Paps«, unterbrach Nadine.
»Du brauchst nichts zu sagen, Engelchen«, meinte er, »ich weiß, es wäre schade um all die Bandagen und den Gips.« Der Plan ihres Vaters ging auf, und Nadine musste sogar etwas lachen.
»Ich habe übrigens auch ein schwerwiegendes Problem, Nadine. Stell dir vor, deine Mutter hat sich für das kommende Wochenende angekündigt. Nach monatelanger Abwesenheit bequemt sich Madame mal wieder auf das in ihren Augen piefige und provinzielle Sylt.«
»Und das ist ein großes Problem für dich?«, fragte Nadine überrascht.
»Ja, weißt du, dein alter Herr hat sich an das Leben als Strohwitwer sehr gewöhnt. Außerdem verstehe ich mich mit Anja, der Pferdewirtin, sehr gut. Sie hat einen Teil ihrer Ausbildung hier auf dem Gestüt gemacht und wirklich großen Verstand …«
»Du meinst Pferdeverstand«, sagte Nadine mit einem Augenzwinkern. »Klar, dass dir so etwas imponiert.« Typisch ihr Vater. Wenn eine Frau Zügel in der Hand halten konnte und mehrere Pferdelexika studiert hatte, war er unweigerlich sehr von ihr angetan.
»Hast du sie mal sehr geliebt?«, fragte Nadine ihren Vater unvermittelt.
»Wen? Anja?«, fragte ihr Vater daraufhin schelmisch.
»Meine Mutter, Paps«, sagte Nadine mit fester Stimme.
»Tja, früher hatte ich das Gefühl, dass deine Mutter einen ganzen Raum nur mit ihrem Erscheinen für sich einnehmen konnte. Sie hatte diese besondere Ausstrahlung. Und da waren diese Blicke.« Ihr Vater stockte.
»Blicke«, hakte Nadine nach.
»Nun, sie waren anfangs sehr aufreizend, verführerisch und vielsagend. Ich wollte ihre Bedeutung ergründen. Sie hatte mir damit im positiven Sinn Rätsel aufgegeben. Das hat sich geändert. Heute gibt es keine Rätsel mehr zu lösen.«
»Warum?«, fragte Nadine, die seiner Erzählung neugierig lauschte.
»Heute hat sie nur noch einen Blick in ihrem Repertoire, zumindest, wenn sie mich sieht. Den ›Ich bin schlecht drauf und mürrisch‹-Blick. Du solltest sie mal sehen. Man glaubt dann immer, dass jeder einzelne ihrer Gesichtsmuskeln angespannt ist. Ihre Miene wirkt versteinert, und ihre Blicke sind geringschätzig. Vielleicht sollte man ihr sagen, dass sie bei ihrer Gesichtsgymnastik das Lächeln nicht vergessen sollte. Verbraucht sowieso viel weniger Energie.« Ihr Vater fügte etwas nachdenklich hinzu: »Ich will dir deine Frage anders beantworten: Ich bin deiner Mutter sehr dankbar, dass sie dich auf die Welt gebracht hat.« Er drückte Nadine noch mehr an sich.
Er erzählte seiner Tochter auch noch, was ihn erwartete, wenn ihre Mutter mit der Maschine auf dem Flughafen Westerlands gelandet war.
»Es wird wieder eine ihrer gefürchteten Dinnerpartys geben. Deine Mutter bringt nämlich ein paar Kolleginnen und Freundinnen aus dem ›Big Apple‹ mit. Mir läuft schon bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Das letzte Mal, als sie da waren, hat mich deine Mutter dazu genötigt, Pommes soufflées zu zaubern, weil sie keinen Kochlöffel in der Hand halten kann und sich vielleicht auch einfach zu fein dazu ist, in einem Kochbuch zu lesen, das nicht in den Sprachen der UNO verlegt wurde. Am Tisch werde ich dann wahrscheinlich wieder wie Luft behandelt. Plötzlich reden die in einem unglaublichen Tempo auf Englisch und Französisch oder Italienisch miteinander und wissen, dass ich da nicht mithalten kann. Wenn sie sich dann aber an ihren Leistungen, die sie für die UNO erbringen, ergötzen, machen sie das wieder bewusst auf Deutsch. Ich gebe dir mal eine kleine Kostprobe.« Er fing an, die Freundin ihrer Mutter, Miranda, zu imitieren, und schraubte seine Stimme in die Höhe: »Wir sind dafür verantwortlich, dass sich die wichtigsten Menschen der Welt verstehen. Was lastet da doch für eine besondere Aufgabe auf unseren Schultern.« Ihr Vater sprach dann wieder in normaler Stimmlage. »Als würde ich damit angeben, wie viele Herzklappen ich schon operiert habe. Mir stehen dann wirklich immer die Haare zu Berge. Ich kann nur hoffen, dass es dieses Mal erträglicher wird.«
»Du tust mir leid«, sagte Nadine mitfühlend, »aber wie wäre es, wenn du versuchst, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen?«
Ihr Vater fragte verblüfft: »Und wie soll das aussehen?«
»Dir fällt schon was ein«, meinte Nadine sicher. Ihr war nun schon wieder viel leichter ums Herz. »Wann ist denn die Party?«
»Samstag, am Abend ihrer Ankunft«, erwiderte er trocken, »ich könnte dann wirklich deinen seelischen Beistand gebrauchen.«
Nadine fand, dass sie ihn trösten und unterstützen müsste, und sagte ihr Kommen zu. Er bot ihr an, dass sie wieder ein paar Tage zu ihm in ihr altes Kinderzimmer ziehen könnte. Nadine wusste aber, dass das Spannungsfeld, das entstand, sobald sich ihr Vater und ihre Mutter begegneten, nicht unbedingt zu ihrer Erholung beitragen würde. Sie sehnte sich wirklich nicht danach, mit zwei Streithähnen unter einem Dach zu leben. Der Samstag stand schließlich schon bald vor der Tür.
Sie verabschiedete sich und drückte ihrem Vater noch einen Kuss auf die Wange. Sie wusste, dass sie sich der Realität stellen und wieder den Ort betreten musste, an dem ihre Welt aus den Fugen geraten war.
Nadine stand wenig später wieder in den Räumen ihres Apartments, und sie hatte das Gefühl, als laste ein Gewicht auf ihrer Brust. Auch ihr Atem ging schwer. Alles schien auf einmal so kühl und fremd. Die Geschehnisse hatten die Art und Weise verändert, wie sie ihre Wohnung wahrnahm. Noch vor Kurzem war hier ihr Ort des Rückzugs und der Entspannung gewesen, ihr Refugium. Doch jetzt spürte sie Anspannung und eine gewisse Beengtheit, als sie durch das Wohnzimmer ging. Sie empfand eine nie da gewesene Leere, die sie zu verschlucken drohte. Mit jedem Schritt tauchte wieder für Sekunden eines der Bilder auf, die sie zu verdrängen versuchte und die ungeheuer schmerzten. Sie waren jedoch einfach in ihrem Kopf und nicht auszulöschen. Genauso wenig war die Zeit zurückzudrehen. Sie schaute auf die Wanduhr, die neun Uhr schlug. Vor ein paar Stunden war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie verfolgte den Sekundenzeiger und dachte sich, wie erbarmungslos er sich drehte. Mal verlebt man schöne Stunden und Minuten und will, dass die Zeit stillsteht. Ein anderes Mal wünscht man sich, dass sie schnell verstreicht und der Zeiger sich auf seinem Zifferblatt überschlägt, besonders, wenn man die schwersten Stunden seines Lebens erlebt. Dass dieser Wunsch immer unerfüllt bleiben würde, wusste sie. Es blieb jedoch die berechtigte Hoffnung, dass Schmerz genauso vergänglich war wie die Zeit, auch wenn man zuerst glaubte, er würde ewig in den Gliedern stecken und einen nicht mehr loslassen. Nadine fragte sich, ob die Zeit auch ihre Wunden heilen würde und den unsichtbaren Scherbenhaufen verschwinden ließ, der sich in ihrer Wohnung auftürmte. Sie würde sich wahrscheinlich noch öfter an seinen Scherben schneiden und sich daran erinnern, wie ihr Herz zerbrach. Wie lang er noch in ihrem Apartment liegen würde, war nicht abzusehen, doch die Kanten der Scherben würden stumpfer werden, da war sie sich sicher. Irgendwann würde er verblassen und nur noch seine Konturen wahrnehmbar sein.
Tom war gegangen und hatte seine Schlüssel von ihrem Apartment auf den gläsernen Couchtisch gelegt. Ohne ein geschriebenes Wort. Er würde nicht mehr zurückkommen und hatte vielleicht, als er über die Türschwelle schritt, seinen Lebensabschnitt mit Nadine und ihre Liebe einfach wie ein altes Kleidungsstück weggeworfen, das er nie mehr tragen wollte. Sie war sich sicher, dass er nicht mehr den Mut dazu aufbringen würde, das Gespräch mit ihr zu suchen. Er hatte in seinem Spiel mit Veronika und ihr hoch gepokert, sicher, immer das höhere Blatt zu ziehen. Dass es nun anders gekommen war, stellte eine persönliche Niederlage für ihn dar. Nadine schluckte.
Zwei Fragen geisterten ihr durch den Kopf. Wie lange hatte er sie schon hintergangen und ihr den liebenden Verlobten vorgegaukelt? Und die noch wichtigere war: Warum? Was hatte sie falsch gemacht? War sie sich seiner Liebe zu ihr die ganze Zeit zu sicher gewesen? Es stimmte. Sie hatte sie für so unerschütterlich wie einen alten Baum gehalten, der fest mit der Erde verwurzelt ist. Sie glaubte auch, dass sie gemeinsam den Problemen, die in einer Beziehung auftreten können, trotzen würden wie Seefahrer einem Sturm auf hoher See. Sie dachte, sie seien das perfekte Paar. Dass sie sich bitter getäuscht hatte, war ihr heute vor Augen geführt worden.
Sie kam sich so unglaublich dumm vor. Nadine hatte sich auf ihre Couch gesetzt, die keine unerhebliche Rolle in ihrem Waterloo der Liebe gespielt hatte. Da saß sie allein und trauerte ihrer Liebe nach, die nun der Vergangenheit angehörte. Stunden vergingen, und sie befand sich immer noch zusammengekauert auf ihrem Möbelstück, das sie wohl verkaufen würde. Sie wollte wenigstens einen Dorn aus ihrer Haut ziehen. Sich wieder in der Wohnung zu befinden, hatte dazu geführt, dass quälende Emotionen erneut wie am Strand die Flut in ihr aufstiegen, die sie noch nicht verarbeitet hatte.
Nadine ging ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.