Читать книгу Der Zauber von Regen - Liliana Dahlberg - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеEin kleines Begrüßungskomitee fand sich gegen achtzehn Uhr am Flughafen von Westerland ein. Es bestand zwar nur aus Nadine und ihrem Vater, sollte aber seine Wirkung nicht verfehlen und die etwas kapriziöse Dame empfangen, die Sylt nur selten beehrte und sonst lieber in ihrem Penthouse in Manhattan am Hudson weilte und salziger Seeluft und der Insel im Allgemeinen nur wenig abgewinnen konnte. Sie hatte sich dazu durchgerungen, ihre Tochter und ihren Mann zu besuchen und den Schein einer funktionierenden Ehe vor den Insulanern in der Kampener Nachbarschaft einmal mehr aufrechtzuerhalten.
Bei aller Abneigung Sylt gegenüber vermisste sie vielleicht doch ein wenig das Schaulaufen der Reichen auf dem »Strönwai«, der »Whiskymeile«. Denen fühlte sie sich stark zugehörig, und das Motto »Sehen und gesehen werden« gefiel ihr. Die kleinen Cafés dort luden dazu ein, ein wenig Blasiertheit und Passanten in Form von Schmuck und Designerkleidern zu zeigen, und das, was man im Überfluss hatte. Ein Stelldichein mit der Schickeria eben.
Die Tatsache, dass Nadines Mutter nicht allein anreiste, bereitete Bernd neben einem flauen Magengefühl auch noch Kopfschmerzen. Sie würde in Begleitung einer Horde »wilder Hühner« eintreffen, wie er die Kolleginnen seiner Frau nicht ganz schmeichelhaft bezeichnete, für die Schweigen ein Fremdwort war und die ihn wahrscheinlich einiges an Nerven kosten würden.
In der Hand hielt Bernd ein kleines buntes Blumenbouquet. Nadine hatte ihn mühevoll dazu überredet, es zu kaufen, und ihn davon abgehalten, einfach ein paar Disteln aus ihrem Garten zu einem Strauß zusammenzubinden. Nadine verspürte ebenfalls ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Sie befand sich in einem Zwiespalt. Sollte sie sich nicht freuen, ihre Mutter nach Monaten mal wieder in die Arme zu schließen? Andererseits wusste sie, dass sie beide mehr als nur der Atlantik trennte. Sie hatten wenige bis keine Gemeinsamkeiten und sahen die Welt einfach nicht mit denselben Augen. Aber Rita war ihre Mutter. Außerdem besaß sie ihren festen Platz in der Familie Hansen, auch wenn sie ihn selten ausfüllte. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die Maschine aufsetzte. Die Nervosität bei Nadine und ihrem Vater stieg. Erstere bemerkte sein Aschermittwochsgesicht und versetzte ihm einen leichten Rippenstoß.
»Hey, Paps, denk doch kurz an einen deiner vielen Ausritte mit deinem ›Sunrise‹ und wie glücklich du dich dann immer fühlst. Oder stell dir vor, dass Cassis die Körung mit Höchstpunktzahl besteht. Bitte, versuch einfach, ein wenig so zu tun, als würdest du dich freuen, dass Mutter kommt.«
»Stimmt, ein wenig schauspielerisches Talent sagt man mir schließlich ja nach, seitdem ich den Theaterkurs in der Oberstufe besucht habe«, meinte er nachdenklich.
»Eben«, sagte Nadine ermunternd und war erleichtert, als sich die Mundwinkel ihres Vaters ein wenig nach oben bewegten.
Sie standen unweit des Boarding Room und konnten durch ein großes Fenster sehen, wie der Flieger aus New York landete. Die Passagiere stiegen aus, und Bernds Blick wanderte kurz zum Notausgang des Flughafengebäudes, als er Rita mit ihren vier Freundinnen von Bord gehen sah.
»Vielleicht haben wir ja Glück«, flüsterte Bernd in das Ohr seiner Tochter, »und die Damen sind vom Jetlag noch ein wenig erschöpft. Dann haben wir vorerst noch ein wenig Ruhe.«
»Paps, du bist unmöglich«, sagte Nadine schmunzelnd, »fehlt nur noch, dass du deswegen ein Stoßgebet zum Himmel schickst.«
Ihr Vater erwiderte daraufhin etwas knapp: »Schon passiert.«
Nein, einen Jetlag schienen die Frauen, die wenig später aus dem großen Gang des Boarding Room traten, nicht zu verspüren. Nachdem sie Blickkontakt mit Nadine und ihrem Vater aufgenommen hatten, liefen sie heiter und vergnügt auf die beiden zu. Nur eine unter ihnen wirkte etwas zerknirscht und keineswegs fröhlich – Nadines Mutter. Sie bildete sozusagen das optische Zentrum der kleinen Frauengesellschaft und wurde jeweils zu ihrer Rechten und Linken von ihren Kolleginnen umrahmt.
»Da ist er also, dein Gatte«, sagte eine der Frauen zu Rita, laut genug, dass es Nadine und ihr Vater schon vernehmen konnten, auch wenn sie noch einige Meter voneinander trennten. Das Frauengespann stand wenige Augenblicke später vor dem kleinen Begrüßungskomitee.
»Er ist nicht allein gekommen, sondern hat seine kleine Tochter mitgebracht«, sagte die Amerikanerin Miranda, die Nadine kannte, und lachte lauthals, »und er kultiviert immer noch seinen Schnurrbart, wie drollig.«
Es war die Frau, die Bernd schon so manches Mal treffend stimmlich imitiert hatte. Sie war von schweren Ketten behangen, und mehrere Ringe glänzten an ihren Fingern, doch keiner von ihnen stand für eine Ehe. Darauf sollte man sie aber besser nicht ansprechen, das wusste Bernd. Sie trug ein dunkles Kostüm und eine große Brosche. Er war sehr verwundert, dass ihm an ihrem Revers ein Silberknopf entgegenblitzte. Damit gaben sich eigentlich hier auf Sylt all diejenigen zu erkennen, die noch des Friesischen mächtig waren. Da Nadines Vater ausschloss, dass Miranda nun auch diese westgermanische Sprache beherrschte, vermutete er, dass sie einfach ein wenig Verwirrung stiften wollte. Er hielt es aber auch für möglich, dass Ritas Freundin inständig hoffte, dass sie ein attraktiver Insulaner gesetzteren Alters auf »Sölring«, dem Sylter Dialekt des Friesischen, ansprach und aus ihrem ewigen Singledasein befreite.
Nadines Vater ließ Mirandas Äußerung zu seinem Bart unkommentiert, obwohl er am liebsten erwidern wollte, dass er zu einer vom Aussterben bedrohten Spezies von Mann zählte, die früher zu viel »Magnum« gesehen hätte. Da er befürchtete, erneut mit ihrem schrillen Gelächter konfrontiert zu werden, sah er sich jedoch vor.
Neben Miranda stand die temperamentvolle Italienerin Gabriella. In der Vergangenheit hatten Bernd besonders ihre detailreichen Erzählungen von Gott und der Welt den letzten Nerv geraubt. Sie war leicht untersetzt und trug ein weißes Sommerkleid von Donatella Versace. Eine Maßanfertigung. Die Modemetropole Mailand war ihr Zuhause, und sie hatte Bernd schon bei ihrem letzten Aufenthalt auf der Insel dazu eingeladen, sie und ihren Ehemann dort zu besuchen. Diesem Angebot war er bisher nie nachgekommen. Das würde sich auch nicht so schnell ändern. Gabriella hatte dichtes, gelocktes, langes Haar. Mit ihrer pechschwarzen Lockenpracht, die sie offen trug, entsprach sie ein wenig der Klischeevorstellung einer Italienerin.
Mit geschürzten Lippen befand sich Bernds Frau an ihrer Seite. Ritas Kopf zierte ein kurzer Pagenschnitt, und ihre Haare waren in einem dunklen Braunton gefärbt. Ihr Gesichtsausdruck wirkte frostig. Sie trug einen cremefarbenen Zweiteiler von Joop und eine Kette aus Meersalzperlen um den Hals. Rita hatte Deutschland nicht ohne ihren Ehering betreten, auch wenn dieser wahrscheinlich nur eine Vorzeigefunktion erfüllte und sie mit ihm die Sylter, besonders diejenigen, die in Kampen wohnten, blenden wollte. Sie erblickte den kleinen Blumenstrauß in der Hand ihres Mannes.
Er reichte ihn ihr und sagte mit einem erzwungenen Lächeln: »Ich freue mich, dich wiederzusehen.« Er kreuzte dabei die Finger seiner noch freien Hand, die er auf dem Rücken versteckte.
»Schön, dass du da bist, Mutter«, sagte dann auch Nadine und merkte, dass der Satz ihr etwas schwer über die Lippen kam. Sie streckte die Arme aus, um Rita zu umarmen.
Sie winkte ab. »Keine Gefühlsausbrüche, bitte. Die kann ich nach so einem langen Flug nicht gebrauchen.« Sie beäugte das Blumenbouquet näher. »Für einen größeren Strauß hat das Geld wohl nicht gereicht?«, fragte sie ihren Mann scharf.
Dieser hatte mit so einer Reaktion gerechnet und blieb gelassen. »Du sagst es, Rita, das ist bei den Floristen kein richtiges Preis-Leistungs-Verhältnis mehr heutzutage.«
»Ich finde den Strauß richtig reizend«, unterbrach Stephanie, ihres Zeichens französische Landsmännin und Absolventin der ehrwürdigen Sorbonne. Die Dame lächelte vergnügt und sagte: »Gib mir die Blumen, sie passen wunderbar zu meinem schwarzen Hosenanzug.«
»Oh my dear, Schwarz passt ja wohl zu allem«, wusste die Frau neben ihr zu berichten. Sie hieß Priscilla, war Engländerin und in blauen Tüll gehüllt. Sie sprach sehr distinguiert und trug schwere Ohrringe von einem tiefen Azurblau, ihre Schuhe waren in derselben Farbe gehalten.
Miranda, Gabriella, Stephanie und Priscilla vereinte, dass sie alle perfekt Deutsch sprachen und schon in den Botschaften ihrer jeweiligen Länder in Berlin gearbeitet hatten, bevor sie die Tätigkeit als Dolmetscherinnen bei der UNO aufnahmen. Sie waren somit sehr zum Leidwesen von Bernd wirklich nie um ein Wort verlegen.
Er schlug vor, dass sie sich alle zum Ausgang begeben könnten. »So ein Flughafen hat natürlich auch seinen Reiz, aber Sie sind sicherlich gekommen, um Sylt in seiner ganzen Naturschönheit zu genießen und sich von dem geschäftigen Treiben der Stadt, die nie schläft, zu erholen. Also gehen wir doch zum Wagen, ich werde Sie chauffieren.«
»Das ist aber nett von Ihnen«, sagte Miranda.
»Ich würde eher sagen: selbstverständlich«, widersprach Rita und schaute ihren Mann fest an.
Bernd meinte: »Mit einer richtigen Eskorte oder einer Luxuslimousine kann ich zwar nicht dienen, aber …«
Seiner Frau dämmerte etwas und sie unterbrach ihn: »Sag bloß, du holst uns mit diesem alten Kleinbus ab. Dieser Emissionsschleuder!«
»Ja, in der Tat, aber du solltest ihn in seinem stolzen Alter besser nicht kränken. Da deine Freundinnen mit dir angereist sind und mein Audi zu klein ist, konnte ich keine Rücksicht auf das Kyoto-Protokoll nehmen, und der Pferdetransporter schien mir wenig geeignet …«
»Nicht zu fassen, dass du mir das zumutest und mit diesem versifften Ding hier aufkreuzt!«
»Von wegen versifft, Rita! Abnutzungserscheinungen kann er eigentlich nicht haben. Er hat schließlich die ganze Zeit nur unsere Garagenwand angeschaut. Außerdem hab ich ihn damals für dich gekauft.«
»Das ist mir bis heute noch ein Rätsel«, erwiderte seine Frau und schnaubte verächtlich.
»Du hattest mal gesagt, dass du mit Freundinnen verreisen willst und …«
»Und du glaubst, ich habe dabei an einen Bus gedacht? Wenn ich mit Freunden auf eine Reise gehen will, benutze ich das Flugzeug oder allenfalls die Bahn, und das auch nur in der ersten Klasse!«
»Dann hättest du wie ich den Pilotenschein machen sollen«, entgegnete Bernd, und seine Stimme gewann an Volumen.
Nadine sah die Zeit gekommen zu intervenieren: »Mutter, Vater hat es nicht böse gemeint und einfach gedacht, dass der Bus …«
»Dass der Bus bei mir Nostalgie weckt, oder was?«, fragte sie barsch.
»Nein, ich habe mir nur überlegt, dass er ja jetzt für den Zweck eingesetzt werden kann, wofür er mal gedacht war …«, ließ ihr Mann bedächtig anklingen.
»Sagen wir es mal so: Der Bus belastet mich und die Umwelt!«, sagte Rita mit Nachdruck.
»Tut mir leid, wenn ich dein Umweltbewusstsein trübe, aber sonst bin ich ja meist nur mit einer Pferdestärke unterwegs.«
»Wie lange sind Sie denn schon mit Rita verheiratet?«, fragte Stephanie unvermittelt und etwas besorgt.
»Mehr als fünfundzwanzig Jahre«, antwortete Bernd trocken und versuchte, mit einer wohltemperierten Stimme zu sprechen. Er raunte dann noch so, dass niemand ihn verstehen konnte: »Obwohl es ein gut gefühltes halbes Jahrhundert ist.«
Nadine überlegte, wie sie der hochexplosiven Stimmung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter die Spannung nehmen könnte. Das war beinahe ein Drahtseilakt, und jedes einzelne Wort musste gut abgewogen werden, um das emotionale Gleichgewicht zwischen den beiden wiederherzustellen. Sie entschied sich dafür, die Sprache auf das anstehende Abendessen zu bringen, auch wenn sie nicht genau wusste, was ihr Vater letztendlich kochen würde. Mit einer kurzen Handbewegung versuchte sie, Rita und ihre Freundinnen zum Ausgang des Flughafengebäudes und zu dem ungeliebten Kleinbus zu lotsen.
»Beeilen Sie sich, meine Damen, es wartet nachher noch ein Festmahl auf Sie«, meinte Nadine. Sie schraubte so zwar die Erwartungshaltung ihrer Gäste sehr hoch, aber sie glaubte, damit die Wogen erst einmal zu glätten, und sah es als gutes Lockmittel. Sie hoffte, ihre Mutter zu besänftigen, und fragte rhetorisch: »Darauf freust du dich doch auch schon, nicht wahr, Mutter?«
Ihre Mutter setzte sich daraufhin wie erwartet stillschweigend mit ihren Freundinnen in Bewegung und verriet mit keinem Sterbenswörtchen, was sie jetzt dachte, auch wenn ihre Gesichtszüge Bände sprachen. Im Kleinbus behielt sie ihre Grabesmiene bei, die die ganze Fahrt über anhielt, bis sie in der Villa der Familie Hansen eintrafen.
»Also, das war doch eine Fahrt mit Atmosphäre«, befand Stephanie und war vollends begeistert, als sie alle aus dem Fahrgefährt stiegen und am Zielort eingetroffen waren. »Dieser putzige kleine VW-Bus hat bei mir Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen geweckt. Im Geist habe ich mich in meinem Lieblingskleid aus den Achtzigern gesehen. Es hat überall so schön geglitzert und war mit Strass besetzt. Damit habe ich so manche Feier unsicher gemacht und …«, begann sie schwärmend zu erzählen.
Rita unterbrach sie. »Stephanie, schön, wenn du dich gedanklich gerne mit der Vergangenheit beschäftigst, für mich gilt es jedenfalls nicht.« Sie rümpfte die Nase. »Ich bin lieber mit allen Sinnen im Hier und Jetzt und trauere Vergangenem nicht hinterher.«
»Rita, was heißt denn hier trauern? Ich blicke in die Vergangenheit ja nicht mit Wehmut, sondern mit Freude zurück. Außerdem, was kann so schlecht daran sein, wenn man Schönes noch einmal aufleben lässt?«, fragte Stephanie verwundert und etwas vorwurfsvoll. »Hast du denn keine guten Erinnerungen an diese Zeit?«, hakte sie nach.
»Das habe ich alles hinter mir gelassen«, erwiderte Rita daraufhin.
Wahrscheinlich auch unsere Ehe, dachte Bernd insgeheim, als er mit der kleinen Gruppe von Frauen und seiner Tochter nun durch die Gartentür schritt, am Friesenwall vorbei, und sich der großen Eingangstür aus Ebenholz näherte, die für ein stolzes Stück Geschichte des Hauses Hansen stand und deren Griffe aus Messing kunstvoll geschwungen waren. Sie stellten kleine Wale dar und erinnerten so ein wenig an die Haustür der Walfängerfamilie »Teunis«, die ein sehr beliebtes Fotomotiv auf der Insel ist. Über der Tür der Villa thronte außerdem ein für Friesenhäuser charakteristischer Spitzgiebel.
Bernd wurde sogar ein wenig traurig, weil er im Gegensatz zu seiner Frau gerne an jene aufregende Zeit zurückdachte. Er trat damals seine Stelle als Stationsarzt in der Kieler Herzklinik an, und der Zufall wollte es, dass Ritas Mutter kurz darauf mit Herzproblemen eingeliefert wurde. Er therapierte sie mit seinen Kollegen erfolgreich, und dann betrat eines Tages ihre Tochter die Station und schritt durch seine Bürotür. Amor traf ihn damals mit seinem Pfeil mitten ins Herz. Bernd fühlte sich sofort zu Rita hingezogen, die zu der Zeit noch Fräulein Peters hieß. Ihr entwaffnendes Lächeln entzückte ihn, ebenso wie Ritas Charme und Redegewandtheit. Aus ihr sprach natürlich auch große Dankbarkeit für die erfolgreiche Behandlung ihrer Mutter, und das schmeichelte ihm. Nur mit Mühe konnte er sich damals auf das eigentliche Gesprächsthema, den Gesundheitszustand von Ritas Mutter, konzentrieren. Bernd war zu der Zeit sehr dankbar, dass ihm die Aufgabe zufiel, mit diesem atemberaubenden Fräulein Peters zu sprechen, von der er seinen Blick kaum noch abwenden konnte und wollte. Er meinte, ein Knistern in der Luft deutlich zu spüren, und sein eigenes Herz schlug ihm bis zum Hals.
Es sollte zu einer zweiten Begegnung kommen, als er an einem internationalen Ärztekongress in Kiel teilnahm, auf dem Rita als Dolmetscherin tätig war. Er betrachtete es als Schicksal, diese Frau nun wiederzusehen, und wagte erst jetzt die Kontaktaufnahme, indem er ihr einen Brief schrieb und sie dazu einlud, mit ihm essen zu gehen. An den Wortlaut konnte er sich noch gut erinnern. Es kam zu dem erhofften Treffen, und zarte Bande wurden geknüpft. Seine Gefühle zu Rita brachen sich nach diesem Rendezvous einmal mehr Bahn.
Er war sehr schüchtern, und es entsprach nicht seinem Naturell, sofort mit ihr über seine Emotionen zu sprechen. So ging noch einige Zeit ins Land, bis er ihr seine Liebe gestand. Bernd hoffte, dass sie diese erwidern würde, und hatte diesen großen Moment unzählige Male in Gedanken geprobt. Er wollte schließlich die richtigen Worte finden, die seinen Gefühlen Ausdruck verleihen und Rita bewusst machen sollten, was er für sie empfand. In einer Sommernacht trafen sie sich schließlich in einem edlen italienischen Feinschmeckerlokal. Die Atmosphäre im Restaurant war ihm noch gut im Gedächtnis geblieben. Sie saßen auf bequemen Stühlen bei Kerzenschein und einem guten Glas Rotwein. Die Deckenlampen der Lokalität waren so gerichtet, dass an den Tischen kleine Lichtinseln entstanden und man das Gefühl hatte, sich mit seinem Gesprächspartner in einem Separee zu befinden. Das erzeugte noch mehr Vertrautheit. Bernd glaubte an diesem Abend jedoch, dass Rita allein mit ihrer Anwesenheit den ganzen Raum erhellte und mit Licht flutete. Da saß sie mit ihren blonden Haaren, die sich in Locken um ihr hübsches Gesicht wanden. Sie fielen ihr sanft bis auf die Schulter und kringelten sich wie kleine Korkenzieher und gaben ihrem Aussehen etwas Verspieltes. Ihr Gesicht wirkte so zerbrechlich wie das einer Porzellanpuppe, und doch strahlten ihre großen blauen Augen, die lange Wimpern umgaben, eine gewisse Stärke aus. Ihr Augenaufschlag war geheimnisvoll und betörend zugleich. Ritas Blicke ließen Raum für Fantasie und die Frage, was sich hinter ihnen verbergen mochte. Bernd kam es vor, als würden physikalische Kräfte wirken, so angezogen war er von ihr. Er fragte sich, ob es in ihr einen Magneten gab, zu dem er die gegensätzliche Polung in seinem Herzen besaß.
Nach dem Hauptgang fühlte er sich gestärkt genug, nahm all seinen Mut zusammen und offenbarte ihr seine Gefühle. Es huschte Rita daraufhin ein Lächeln über das Gesicht und sie nickte. Es wirkte wie ein stilles Einverständnis. Sie wies zumindest seine Gefühle nicht zurück, und so entstand eine Liaison, die vielleicht von Bernd schon immer mehr getragen wurde als von Rita. Im Nachhinein vermochte Bernd nicht mehr zu sagen, ob sie wirklich je annähernd so wie er empfunden hatte. Er wusste nur, dass er dieser Frau ein paar Monate später einen Heiratsantrag machte und sie vor den Traualtar traten. Es ließ sich nur spekulieren, was Rita dazu bewog, ihn anzunehmen. Doch Liebe und Zuneigung? Heute zweifelte Bernd stark daran, denn sie erinnerte ihn nur noch wenig an die Frau, die er einmal geliebt hatte. Ihr Liebreiz schien mit den Jahren verloren gegangen zu sein, mit dem sie ihn einst bezirzte und ihn wünschen ließ, mit ihr alt zu werden. Es schlug ihm auch keine Wärme mehr entgegen, wenn er ihr in die Augen sah, die ihn einst in ein Gefühl von Geborgenheit gehüllt hatte. Diese hatte Bernd den Glauben gegeben, im Heimathafen eingetroffen zu sein und nie wieder in See stechen zu müssen.
Nunmehr herrschte eine klirrende Kälte vor, wenn sich ihre Blicke trafen, so wie sie einen an Wintertagen empfängt, der Schnee sein weißes Kleid auf alles in seiner Umgebung bis in die Baumwipfel ausgebreitet hat und man vorerst keinen Schritt vor die Tür setzen und den ganzen Tag vor einem wärmenden Kamin verbringen will.
Bernd kramte in seiner Tasche nach dem Haustürschlüssel und baute eine gewisse Spannung auf, als er dies sehr bedächtig tat. Ganz so, als wollte er Zeit gewinnen und hoffen, dass es sich der Besuch aus Übersee noch einmal anders überlegen könnte und sich heute schon wieder auf den Heimweg machte, ohne die Villa überhaupt betreten zu haben. Oder konnte die UNO nicht eine Sonderversammlung einberufen, für die die fünf Frauen unabkömmlich waren? Am besten zeitlich so anberaumt, dass die Damen sofort zurückkehren mussten. Er war sonst kein Tagträumer, doch diese Vorstellung gefiel ihm so gut, dass er sie sich sehr genau ausmalte. Er musste bei dem Gedanken schmunzeln und zog erst jetzt den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Seine Gäste hatten mit einem dezenten Räuspern zu verstehen gegeben, dass sie ungeduldig wurden.
»Bernd, gedenkst du, uns noch lange warten zu lassen? Ist der Schlüssel aus den Tiefen deiner Tasche jetzt aufgetaucht? Du musstest mit deiner Hand wohl auf Tauchstation gehen!«, meinte Rita sichtlich gereizt.
Bernd kam auf eine Idee und sagte: »Hetz mich nicht, Rita. Außerdem wollte ich meinem Besuch die Möglichkeit geben, unsere neu gepflanzten Begonien zu bewundern. Meine Damen, schauen Sie sich das neue Rosenbeet da drüben an.« Er deutete mit seinem Zeigefinger auf das Beet, das links vom Hauseingang lag. »Wie Sie wissen, gärtnere ich selbst und habe, wie man so schön sagt, einen grünen Daumen«, verkündete er nicht ohne Stolz.
»Bernd, das ist nicht lustig! Wir kennen den Garten und eine Exkursion dorthin ist unnötig. Ich rate dir dringend, die Tür sofort zu öffnen.« Rita verlor merklich die Contenance und akzentuierte jedes Wort durch kurze Sprechpausen.
Nadine, stille Beobachterin von alledem, gab ihrem Vater ein Handzeichen, die Tür jetzt zu öffnen. Denn ein großer Streit, bevor die geplante Dinnerparty überhaupt begonnen hatte, war nun wirklich kein gutes Omen.
»Natürlich«, entgegnete Bernd und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Es sprang auf. Die Gruppe betrat das Anwesen.
»Sie können hier ablegen«, sagte Bernd zu Ritas Freundinnen und machte eine ausschweifende Handbewegung zur Garderobe, die sich in der Diele befand, welche sie nun betreten hatten.
»Ich wollte Sie schon lange etwas fragen, Herr Hansen«, meinte Priscilla. »Nichts gegen Gartenarbeit, aber warum haben Sie keinen Gärtner engagiert?«
»Ich habe zu viele schlechte Krimis gelesen und hätte keine ruhige Minute mehr. Sie als Engländerin müssten das verstehen. Bevor hier Miss Marple und Mr. Stringer ermitteln müssen …«
»Wie heißt es doch gleich?«, grübelte Priscilla, als würde sie nach dem richtigen Ausdruck suchen. Nach kurzem Überlegen hellte sich ihr Gesicht auf, und sie meinte: »Genau, man sagt: Ihnen sitzt wohl der Schalk im Nacken.« Sie brach in ein fröhliches Gelächter aus, das in der Diele widerhallte.
Bernd tat es schon in den Ohren weh, und er überlegte, die Andeutung zu machen, dass nicht nur der ihm im Nacken sitzen würde, aber er besann sich. Er suchte Blickkontakt zu seiner Tochter, die ihm liebevoll zuzwinkerte, sich mit ihm solidarisierte und signalisierte, dass sie gemeinsam den Abend durchstehen würden.
Sie gingen in das einladende Kaminzimmer. Die zierliche Stephanie betrat mit vielen kleinen Schritten den Raum, die Bernd ein wenig an den Gang eines Pinguins erinnerten. Er assoziierte mit diesem Gedanken auch seine Aufgabe für den heutigen Abend. Er würde wohl für alle den Ober spielen müssen. Rita erwartete wahrscheinlich, dass er seinen Gästen jeden Wunsch von den Augen ablas und wie üblich in der Küche tätig wurde. Das stellte zwar alles andere als eine gerechte Aufgabenteilung dar, aber es hatte sich so eingebürgert. Das Zubereiten des Essens sah er somit als eine Art Pflicht und das Dessert als Kür an. Er überlegte, ob Nadine sie vielleicht übernehmen könnte. Das mochte seine Frau mit Abzügen in der B-Note bewerten, aber das kümmerte ihn nicht weiter.
»Wollen die Damen vielleicht vorab einen kleinen Martini trinken?«, fragte er höflich seine Gäste, die sich um den Teakholztisch gesetzt hatten.
»Das ist eine tolle Idee«, sagte Miranda angetan. »Nach so einem langen Flug hat man sich das schließlich verdient.«
»Finde ich auch«, stimmte Stephanie zu.
»Ich wünschte, George Clooney würde ihn vorbeibringen«, sagte Priscilla verträumt.
»Ich finde, dein Mann hat etwas von ihm«, erwiderte daraufhin Gabriella heiter.
»Mit viel Fantasie kann man sich so einiges vorstellen«, bemerkte Rita spitz.
»An der fehlt es dir bekanntlich ja nicht, meine Liebe«, konterte Bernd mit einem süß-säuerlichen Lächeln und reichte die Martinigläser, die Nadine zuvor schnell einschenkte.
Sie wollte heute Abend mit ihrem Vater Hand in Hand zusammenarbeiten, ihm eine große Stütze sein, und hatte schnell nach der Martiniflasche in der Vitrine gegriffen. Sie wusste, dass sie sich dort befand, wie schon gut ein Jahrzehnt zuvor. Ihr Vater gönnte sich schon damals nach einem stressigen Tag in der Klinik oft ein kleines Schlückchen, und das hatte sich bis heute nicht geändert.
Die Frauen nahmen die Martinigläser fast gierig entgegen. Nur Rita strahlte eine dezente Zurückhaltung aus. Nadine verzichtete auf das alkoholische Getränk, da sie es für ratsam hielt, an diesem Abend einen klaren Kopf zu behalten. Sie fühlte sich in der Verantwortung, schnell zu reagieren, wenn ihre Mutter und ihr Vater wieder aneinandergerieten.
Miranda fragte Nadine sofort, warum sie keinen Martini wolle.
»Ach, ich bevorzuge lieber einen guten Tropfen Wein«, entgegnete sie.
»Ich würde gerne einen Toast ausbringen!«, unterbrach Priscilla fröhlich und riss das Glas so in die Höhe, dass sich ein paar Tropfen über den Rand verabschiedeten. »Auf das Leben!«, schrie sie laut und energisch.
»Genau!«, stimmte Gabriella frenetisch mit ein.
»Auf den Steward im Flugzeug!«, rief Stephanie zur Überraschung aller vergnügt.
Sie erntete verwunderte Blicke aller Anwesenden im Raum.
»Nun, er hat mir ein weiches Kissen gegeben, weil ich ihn darum gebeten habe. Schließlich wollte ich keine Verspannungen im Nacken bekommen. Auf jeden Fall hat er mich dabei auf diese besondere Art und Weise angesehen. Versteht, es war nicht nur irgendein Blick, ich habe etwas gespürt …«, erklärte sie.
»Sicher, dass das nicht die Vibrationen des Flugzeugs waren?«, fragte Miranda nüchtern.
»Macht euch nur lustig! Ich sage euch«, verteidigte sich Stephanie, »als sich unsere Hände dann auch noch berührt haben und er mir ein Käsesandwich reichte, war das pure Magie!«
Bernd konnte nur mit Mühe verhindern, dass er vor Lachen laut herausprustete, und biss sich auf die Mundwinkel.
»Habt ihr Handynummern ausgetauscht?«, fragte Priscilla neugierig.
»Das wird an Bord sicherlich nicht gern gesehen, außerdem … es war ja nur so wenig Zeit«, antwortete Stephanie. Ihre erste Vermutung mochte stimmen, doch das andere Argument war alles andere als schlagkräftig, da sie zu vergessen haben schien, dass der Flug mit Zwischenlandung in Stuttgart gute acht Stunden gedauert hatte.
Der Mann hat noch einmal Glück gehabt, überlegte Bernd und goss nun auch etwas von der Martiniflasche in sein Glas, weil er dachte, dass ein wenig Alkohol den Abend erträglicher machen könnte. Aber ob es eine gute Idee gewesen war, den Damen das Getränk zu offerieren? Sie würden wahrscheinlich noch redseliger. Eine ganze Kaskade von Geplapper könnte über ihn schwappen und Nadines Vater wünschen lassen, er hätte neben dem Seepferdchen auch seinen Freischwimmer gemacht.
»Er ist sicherlich meinem französischen Charme erlegen«, sagte Stephanie, die gedanklich immer noch mit dem Flugbegleiter beschäftigt war, »oder ich habe ihn mit meinem neuen Parfum geködert. Mit dem dufte und wirke ich wie eine Rose.«
Nadine setzte sich mit ihrem Vater ebenfalls an den Tisch. Dort kam es zu einem Streitgespräch zwischen Miranda und Stephanie.
»Fakt ist«, sagte Miranda, »dein Flugbegleiter hat die Rose nicht gepflückt.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Stephanie entrüstet.
»Er hat an ihr gerochen und ist dann weitergegangen.«
»Hätte er mir etwa noch im Flugzeug einen Heiratsantrag machen sollen?«, entgegnete Stephanie ungehalten. Man merkte, dass sie in Fahrt kam.
»Er hätte dich ja immerhin nach deinem Namen fragen können …«
»… und mit mir in Stuttgart von Bord gehen sollen, oder was?« Die Französin fing an, innerlich zu brodeln.
»Beruhigt euch doch«, meinte Rita, »ich hingegen muss mich ständig Avancen von irgendwelchen Männern erwehren.«
»Du bist ja so tapfer!«, entgegnete Bernd spontan mit einem verschmitzten Grinsen und nippte an seinem Martiniglas. Er hielt es nicht für möglich, dass Rita andauernd von attraktiven Männern angesprochen wurde, da sie mit ihren eisigen Blicken sicherlich eher so manchen in die Flucht schlug. Seit Rita das Kaminzimmer betreten hatte, glaubte er, die Temperatur im Raum sei um ein paar Grad gefallen.
»Gewinn du nur weiterhin allem etwas Lustiges ab«, erwiderte Rita verärgert, »dass du seit meinem letzten Besuch wieder ein paar Kilos zugelegt hast, findest du wahrscheinlich auch witzig.«
»Nein, ich bin mir über den Ernst der Lage bewusst«, meinte Bernd belustigt, »und der allmorgendliche Gang auf die Waage betrübt mich zutiefst. Dir hingegen muss ich ein Kompliment machen, denn du trägst jetzt wahrscheinlich schon Konfektionsgröße 34. Deine Haut-Couture- und Designerkleider werden jauchzen vor Freude.«
Nadine schrie nun innerlich laut »Stopp!« und griff in das Geschehen ein.
»Mutter, ich finde auch, dass du richtig gut aussiehst«, sagte sie und lächelte ihre Mutter freundlich an, womit sie in der Tat die Situation ein wenig entschärfen konnte.
»Danke, das ist nett von dir«, entgegnete Rita geschmeichelt. Dann stellte sie eine Frage, die Nadines Gesichtszüge entgleisen ließ und beinahe eine kurze Schockstarre bei ihr auslöste. »Wie geht es Tom? Wird er bald befördert?«
Nadine war wie vor den Kopf gestoßen. Sie schaute ihren Vater Hilfe suchend an.
»Ja, aus unserer Tür«, antwortete er mit fester Stimme und verzog keine Miene.
»Wie meinst du das, Bernd?«, fragte Rita verwundert. »Nadine, ihr seid doch hoffentlich noch zusammen? So jemanden muss man sich schließlich warmhalten«, meinte sie bestimmt.
Bernd war nicht überrascht, dass Rita gern einen Karrieristen zum Schwiegersohn gehabt hätte, der Tom zweifellos war.
»Tut mir leid, Rita, wenn ich dich enttäuschen muss, aber ich glaube, dass Tom mittlerweile schon an Frostbeulen leidet«, gab er zur Antwort.
Mehr mochte er nicht sagen, weil er wusste, dass Nadine nicht wollte, dass man Einzelheiten der Trennung in der Gesellschaft von den Freundinnen seiner Frau breittrat. Er hatte sowieso schon zu viel gesagt und überlegte, wie er sich geschickt aus der Affäre ziehen könnte.
»Gibt es also keine Hochzeit?«, fragte Gabriella, die von Nadines Verlobung gewusst hatte.
Höchstens an Pflaumenpfingsten, dachte Bernd, sagte jedoch nichts weiter. So entstand vorerst einmal ein betretenes Schweigen.
»Geht es Ihrem Verlobten nicht gut?«, fragte Miranda begriffsstutzig.
Sie erwischte Nadine an einem wunden Punkt. Es entsprach nicht ihrem Gemüt, aber es platzte aus ihr heraus: »Im Gegenteil, ich denke, seit er mich mit meiner besten Freundin betrügt, blüht er richtig auf!« Somit machte Nadine alle im Raum vorübergehend mundtot.
Momentan war nur noch das Ticken der großen und antiken Wanduhr im Kaminzimmer zu vernehmen.
»Warum hast du mit mir nicht darüber gesprochen, wenn es Beziehungsprobleme zwischen dir und Tom gab?«, fragte Rita schließlich und brach das Schweigen am Tisch.
Nadine traute ihren Ohren nicht. Ihre Mutter fragte sie, warum sie sich nicht an sie gewandt hatte! Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Fassungslos schaute sie die Frau an, die sie meist über Monate hinweg nicht sah und die jetzt wagte, ihr diese Frage in dieser Runde zu stellen.
Bernd versuchte schnell, das Thema zu wechseln, und verkündete: »Meine Damen, Sie dürfen sich freuen! Ich werde heute Abend wieder einmal für Ihr leibliches Wohl sorgen.«
»Stimmt«, meinte Stephanie, »Ihre Frau sagte, dass Sie uns mit Haute Cuisine verwöhnen wollen.«
»Haute Cuisine? Nein, wie ordinär!«, entgegnete Bernd lässig. »Aber meine Frau hat nicht zu viel versprochen, denn ich schicke Ihre Sinne heute auf eine kulinarische Reise.«
»Wohin führt uns diese Reise?«, fragte Miranda neugierig.
»Hoffentlich nicht nach England!«, entfuhr es Stephanie, die zugleich mit einem verärgerten Blick von Priscilla abgestraft wurde.
»Die ganze Nordküste entlang, und sie endet direkt hier auf Sylt«, erwiderte Bernd.
»Bei der Sterneküche von Jörg Müller?«, erkundigte sich nun auch Gabriella. »Er ist doch eine der besten Adressen hier auf der Insel.«
»Fast, meine Damen, fast. In meinem Kochtopf entsteht heute …«, er machte eine Kunstpause und meinte dann bestimmt: »das Labskaus!«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Rita perplex.
»Doch, das ist es!«, entgegnete er und freute sich darüber, dass er seiner Frau diese Retourkutsche geben konnte.
»Was ist Labskaus?«, fragte Miranda interessiert.
»Eine norddeutsche Spezialität, die Sie lieben werden!«, antwortete Bernd.
»Oh, ich bin schon so gespannt!«, meinte Stephanie heiter.
»Wie es sich für einen Spitzenkoch gehört, habe ich einiges bereits in der Küche vorbereitet. Ich mach mich dann schon einmal ans Werk. Sie entschuldigen mich bitte.« Beschwingt erhob er sich von seinem Stuhl.
»Bernd, ich werde dir in der Küche ein wenig helfen«, sagte Rita und versuchte, ihren Unmut über das geplante Mahl ihres Gatten mit einem aufgesetzten Lächeln vor ihren Freundinnen zu verschleiern.
»Das ist aber süß von dir, Rita«, meinte Bernd, »aber ich denke, Nadine geht mir schon ein wenig zur Hand. Nicht wahr, Engelchen?« Er schaute seine Tochter fragend und auch ein wenig bittend an. Er wusste, dass Ritas plötzliche Hilfsbereitschaft nicht von ungefähr kam. Sie wollte ihrem Ärger in der Küche sicherlich Luft machen und ihm die Meinung sagen. Dazu brauchte man keine hellseherischen Fähigkeiten.
»Natürlich!«, sagte Nadine und schoss so schnell wie angepikst in die Höhe. »Du brauchst nicht zu helfen, Mutter«, sagte sie bestimmt, »ich werde es tun.«
»Sechs Hände sind besser als vier«, entgegnete ihre Mutter hartnäckig.
So stand Nadine schon wenige Augenblicke später mit ihren Eltern in der Küche.
»Bernd, ich warne dich, dieses Arme-Leute-Gericht kommt mir nicht auf den Tisch, oder ich rede für den Rest des Abends kein Wort mehr mit dir«, stellte Rita mit einem Funkeln in den Augen klar, das Nadine und ihr Vater zu deuten wussten: Rita kochte vor Wut.
»Das Risiko gehe ich ein«, antwortete Bernd mit einem schelmischen Grinsen. Da sie sich in ihrer Ehe ohnehin nicht mehr sehr viel zu sagen hatten, trug er es mit Fassung. »Sei doch nicht so verärgert«, fuhr er fort, »ich will deine Freundinnen doch nur in die norddeutsche Kultur einführen, und das Labskaus ist eine Seemannskost mit Tradition. Priscilla wird es sowieso mögen, schließlich kommt eine ordentliche Portion gepökeltes Rindfleisch in das Gericht, die sie sicherlich an ihr englisches Corned Beef erinnert. Und du hast es gehört, Stephanie ist auch schon gespannt. Das wird ein Gericht, an das sie sich alle noch lange erinnern werden. Außerdem bin ich der Küchenchef und bestimme, was in den Topf kommt.«
»Und ich bin der Gast«, sagte Rita zähneknirschend.
»… der den Koch jetzt bitte arbeiten lässt«, entgegnete Bernd, drehte seiner Frau den Rücken zu und fing gelassen an, die Rote Bete zu waschen, die sich in der Spüle der Küche befand.
Nadine war nicht verwundert, dass sich ihre Mutter als Gast bezeichnete. Man konnte sagen, dass sie ihre Familie schon lange Zeit vor ihrer Anstellung in New York höchst selten beehrt hatte und meist nur auf Stippvisite kam. Als sie noch in Brüssel als Dolmetscherin arbeitete, war sie sehr damit beschäftigt, ihre Kontakte im Ausland zu pflegen. Sie schien überdies völlig zu vergessen, dass es in ihrem Leben noch zwei Menschen gab, die sie lieber auf Sylt gewusst hätten. Mit ihrem Umzug nach New York erhöhte sich dann die räumliche Distanz um mehrere Tausende Kilometer. Jedoch wuchs auch die seelische Distanz entsprechend mit.
Nadine erinnerte sich, dass der Kopf ihrer Mutter bei ihren raren Aufenthalten auf Sylt meist hinter einem Aktenberg von Korrespondenzen und Übersetzungen verschwand. Ihre Arbeit ließ sie dann nur für einen Bummel in den edlen Boutiquen Kampens ruhen.
»Was wird das hier? Eine Palastrevolution?«, fragte Rita wütend.
»Was ich hier allenfalls ein wenig revolutioniere, ist der Speiseplan von deinen Freundinnen«, antwortete Bernd fröhlich pfeifend.
Da Nadine nicht wollte, dass der Abend in einem totalen Chaos endete und ihre Mutter am nächsten Montag einen Scheidungsanwalt kontaktierte, machte sie einen Vorschlag. Sie wusste, dass Mohn im Haus war, und sagte entschlossen: »Ich werde als Dessert ein Mohnsoufflé backen!«
»Das ist aber lieb von dir, Nadine«, entgegnete Rita erleichtert, »du hast halt, im Gegensatz zu deinem Vater, Anstand.«
»… den du ihr sicherlich beigebracht hast«, feixte Bernd.
Rita entgegnete nichts weiter und schritt mit hoch erhobener Nase aus der Küche.
»Paps, du willst das wirklich durchziehen?«, frage Nadine.
»Und wie!«, sagte er. »Ich war mir noch selten bei etwas so sicher.«
»In Ordnung«, meinte Nadine, »dann packen wir es an!«
Wie ein eingespieltes Team machten sie sich daran, das Labskaus zuzubereiten.
Die Rote Bete wurde gegart und von ihrer Schale befreit. Außerdem präparierten sie Möhren und Sellerie entsprechend und schnitten sie in mittelgroße Stücke. Die beiden agierten sehr behände. Dann holten sie das Fleisch, das Bernd bereits vor dem Eintreffen des Besuchs gegart hatte, aus der Schüssel. Sie gaben es mit den Zutaten in einen großen Topf mit kochendem Wasser und fügten Zwiebeln hinzu. Nun wurden Kartoffeln in einem zweiten Topf aufgesetzt und gekocht.
Nadine und ihr Vater nahmen das Fleisch aus der Brühe und drehten es samt dem Gemüse durch einen Fleischwolf. Auch die Rote Bete, einige Gewürzgurken und Matjes fielen ihm zum Opfer. Als die Kartoffeln fertig waren, wurden sie fein gestampft und mit der Fleischmasse vermengt. Bernd verfeinerte sie noch gekonnt mit Pfeffer und Salz. Das Ganze war nun ein einziger Brei.
»Jetzt werden wir es schön anrichten!«, sagte Bernd und strahlte seine Tochter liebevoll an.
Nadine holte Teller aus dem Hochschrank der Küche, und das Labskaus fand seinen Weg auf sieben Teller, die mit Spiegeleiern und einem Rollmops garniert wurden.
»Nun erlebt manch eine eine Überraschung!«, sagte Bernd vergnügt und marschierte mit seiner Tochter nebst einigen Tellern auf das Kaminzimmer zu.
Mein Vater hat ganz schön viel Mut, dachte Nadine.
»Meine Damen, es ist so weit! Machen Sie sich bereit für ein großes Geschmackserlebnis!«, verkündete Bernd und verteilte die Teller mit seiner Tochter vor den erstaunten Augen der Gäste.
Nadine lief schnell in die Küche zurück und holte die Teller für ihren Vater und sich. Sie brachte Gläser mit und stellte sie auf den Tisch. Da Bernd wusste, dass die Damen außer Gabriella allesamt stets nur Wasser zum Essen tranken, schenkte er ihnen Sylter Quellwasser ein. Die temperamentvolle Italienerin verköstigte er mit einem guten Weißwein.
»Das sieht abenteuerlich aus«, meinte Miranda, leicht irritiert darüber, auf ihrem Teller diesen Brei vorzufinden. Ihr Magen schnürte sich zu.
»Wo wird so ein Gericht denn angeboten?«, fragte Stephanie, die keineswegs von dem Anblick ihres Tellers abgeschreckt war.
»Man liest es zum Beispiel auf den Speisekarten einiger traditionsbewusster Lokalitäten hier in Schleswig-Holstein. Ich bin auch stolz darauf, dass ich es Ihnen nun näherbringen kann. Und jetzt bleibt mir nur noch, einen guten Appetit zu wünschen«, antwortete Nadines Vater.
Während Priscilla und Miranda sich merklich pikiert daran machten, das Labskaus zu essen, waren Gabriella und Stephanie sehr angetan.
»Herr Hansen, wo haben Sie gelernt, so zu kochen?«, wollte Gabriella wissen.
»Es ist nicht mein alleiniges Werk, ich hatte ja meine Tochter als Küchenfee zur Unterstützung. Aber ich denke, es ist ein Geschenk der Natur«, entgegnete er.
Rita verschluckte sich in diesem Moment.
»Nur nicht zu hastig und gierig, Rita. Es ist in der Küche noch genug da«, meinte Bernd schmunzelnd und klopfte seiner Frau leicht auf den Rücken.
Diese nahm zwei kräftige Schlucke aus ihrem Glas.
Miranda wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, aber Bernd wehrte es mit einer Handbewegung ab. »Sie brauchen nichts zu sagen …« Er machte eine kurze Sprechpause, richtete seinen Blick zur Zimmerdecke und fuhr fort: »Ich weiß, es ist soeben ein neuer Michelin-Stern über Sylt aufgegangen.«
Miranda schaute verdutzt.
Nadine sah die Zeit für das Dessert gekommen. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie, »ich backe Ihnen noch ein leckeres Mohnsoufflé. Ich geh dann schon einmal in die Küche.«
»Sie haben aber wirklich einen Engel zur Tochter«, sagte Priscilla.
»Wem sagen Sie das«, entgegnete Bernd stolz.
In der Küche bereitete Nadine das Soufflé nach einem Rezept aus einem alten Kochbuch zu. Im Nu konnte sie den Teig samt dem Mohn in eine Form geben und schob sie in den Ofen. Da die Backzeit insgesamt an die 45 Minuten betrug, setzte sie sich zwischenzeitlich noch einmal draußen an den Tisch. Dort bekam sie mit, wie Gabriella die Einladung ihres Vaters nach Italien erneuerte.
»Herr Hansen, Sie müssen unbedingt nach bella Italia kommen und Dolce Vita genießen«, meinte sie.
»Nun, ich muss einmal schauen, wann sich das einrichten ließe«, antwortete er und ließ einen genauen Zeitpunkt offen.
»Mein Mann kommt dich sicherlich bald besuchen«, sagte Rita und schaute Bernd auffordernd an.
Dann sprachen die Damen am Tisch noch über ihre anstrengende und anspruchsvolle Arbeit in New York und wie stickig es im Sommer in der Stadt war. Man merkte aber, dass Rita frostige Blicke in Richtung ihres Gatten warf und ihm das Labskaus immer noch übel nahm.
Die Zeit verging. Nadine lief nach einer guten Dreiviertelstunde in die Küche und holte das Soufflé aus dem Ofen. Sofort lief sie damit in das Kaminzimmer und platzierte es zentral auf den Tisch.
»Voilà«, sagte sie zufrieden.
Doch kaum stand das Soufflé dort, sank es wie ein Ballon ein, dem die Luft ausgegangen war.
Alle schauten etwas überrascht, und Bernd kommentierte die Szene treffend: »Da ist das Soufflé aus lauter Scham vor so entzückenden Damen eingegangen.«
»Sie alter Charmeur«, erwiderte Gabriella heiter.
»Herr Hansen, Sie haben wirklich Humor«, stellte Miranda fest.
Und so kam es, dass der Abend auch für diejenigen versöhnlich auszuklingen begann, die das Labskaus mit Befremden gegessen hatten und mit dem Küchenchef unzufrieden waren. Denn das sichtlich aus der Form gebrachte Soufflé schmeckte trotzdem gut, und die Damen waren über Bernds Kommentar erheitert und auch etwas geschmeichelt. Sie fanden, dass Ritas Ehemann den Ausdruck »Frisia non cantat« eindeutig widerlegte. Es sind wohl auch Menschen wie Nadines Vater, die das Vorurteil entkräften können, dass Friesen nicht singen und demnach ein wenig fröhliches Völkchen sind. Bernd wirkte besonders an diesem Abend gut aufgelegt und beschwingt. Er war mit seinem sprühenden Humor ein wenig zum Unterhalter wider Willen von Ritas Freundinnen geworden. Diese sahen ihn nun im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch mit anderen Augen und zeigten sich ihm gegenüber nicht mehr so überheblich.
Bernd fragte seine Gäste noch zu später Stunde: »Wer von Ihnen will eine ›Tote Tante‹?«
Priscilla war die Einzige im Raum, die nicht wusste, dass es sich hierbei um ein ganz spezielles Getränk handelte.
»Nun, ich weiß nicht, diese Frage kommt reichlich spät«, stellte sie verwundert fest, »aber ich hatte eigentlich immer ein gutes Verhältnis zu ihr.«
»Priscilla«, sagte Stephanie und hielt sich den Bauch vor Lachen, »eine ›Tote Tante‹ ist eine heiße Schokolade mit Rum. Deine Tante in allen Ehren! Herr Hansen möchte nicht wissen, wer von uns seiner nächsten Verwandtschaft das Ableben wünscht.«
Stephanies fröhliches Lachen war ansteckend. Miranda und Gabriella konnten sich diesem nur anschließen.
»So ein Schlaftrunk ist doch jetzt sicherlich genau das Richtige«, meinte Bernd und ging mit seiner Tochter in die Küche.
Schon wenig später balancierte Nadine das Getränk in weißen Porzellantassen mit einem schönen Rosenmotiv auf einem Tablett zu dem Teakholztisch im Kaminzimmer. Dort wurde schnell nach den Tassen gegriffen, und das Trinken der heißen Schokolade bildete den Abschluss der Dinnerparty.
»Ich werde heute Abend sicherlich wie ein Stein schlafen«, meinte Gabriella zufrieden.
»Wie ein angeheiterter Stein«, bemerkte Miranda lachend, »aber du hast recht. Ich werde wahrscheinlich auch tief und fest schlummern, und nichts wird mich wecken können.«
»Und mit Möwengekreische werden wir in der Früh aufwachen, wie romantisch«, sagte Stephanie und schlürfte an ihrem Getränk. »Aber wann wollen wir denn morgen wieder zusammenkommen?«, fügte sie fragend hinzu.
Bernd gefiel der Gedanke nicht, schon wieder recht früh mit der Frauengesellschaft konfrontiert zu sein. Ein wenig Erholung würde schließlich guttun. Darum schlug er vor: »Schlafen Sie sich nur erst einmal aus, und lassen Sie alles ein bisschen ruhiger angehen. Sylt läuft Ihnen nicht davon. Außerdem …«, er blickte auf die Uhr und sah, dass es kurz nach Mitternacht war, »… werde ich Sie jetzt zu Ihrem Hotel fahren. Ihre Zimmer warten sicherlich schon sehnsüchtig auf Sie.«
»Herr Hansen, wir schlafen nicht im selben Hotel«, sagte Miranda.
»Ist das so?«, fragte Bernd überrascht.
»Gabriella und ich«, sagte sie, »wollen unbedingt im Ahnenhof übernachten. Diese zentrale Lage ist einfach herrlich. Außerdem liegt es trotzdem sehr ruhig und malerisch an der Kampener Heide.«
»Priscilla und ich«, meinte Stephanie, »möchten auf jeden Fall im Landhaus Südheide die Nacht verbringen. Es ist ein ehemaliges Kapitänshaus. Das ist ja so aufregend.« Man merkte der Französin an, dass sie völlig ergriffen war. Ihre Augen strahlten begeistert.
»Ihr Wunsch sei mir Befehl«, sagte Bernd, auch wenn er gern den zusätzlichen Sprit für seine Tour gespart hätte.
Die Damen verabschiedeten sich von Nadine und Rita und begaben sich zum Ausgang. Die beiden hörten noch, wie das Gelächter der Frauen in der Diele widerhallte und dann verstummte.
Nadine machte sich sofort daran, den Tisch abzuräumen, und trug alles in die Küche. Ihre Mutter setzte sich derweil mit der größten Seelenruhe auf die ausladende Couch, die ganz in der Nähe des Kachelofens stand. Ihr Zorn über das Essen schien vorerst verraucht. Sie griff über die Sofalehne, die mit einem feinen Gobelinstoff überzogen war, nach einer Illustrierten im Zeitungsbehälter und fing an, darin zu blättern. Sie wollte etwas über die neuesten Societyereignisse erfahren und wer zu welcher Party geladen hatte.
Nadine war mit dem Abräumen fertig und der Tisch von jeglichem Gedeck befreit worden. Sie sagte zu ihrer Mutter: »Ich werde hier übernachten und gehe jetzt nach oben. Ich bin hier fertig. Gute Nacht, Mutter.«
»Hast du auch schon die Tischdecke abgezogen?«, wollte Rita wissen. Sie war immer noch in die Zeitschrift vertieft und hob ihren Kopf nicht einmal hoch.
»Das macht das Personal morgen«, entgegnete Nadine, über die Reaktion ihrer Mutter verärgert, und ging aus dem Zimmer.
Rita war unverbesserlich. Das Verhalten, das sie an den Tag legte, ließ einen immer wieder von Neuem staunen.
Nadines Mutter saß noch auf dem großen Sofa und las. Ihre hochhackigen Schuhe zog sie aus, und sie schlug ihre Beine vornehm übereinander. Sie griff nach einem der dicken Kissen auf der Couch, legte es hinter ihren Rücken und lehnte sich gelassen zurück. Plötzlich klingelte das Telefon, das sich im Zimmer auf einer kleinen Kommode aus Eichenholz befand. Rita fühlte sich jedoch nicht zuständig und dachte nicht daran, abzuheben. Sie ließ es noch ein paarmal klingeln. Dann sprang der Anrufbeantworter an.
Der Text, der aufgesprochen wurde, ließ sie dann aber aufhorchen, und der Schreck fuhr ihr in die Glieder.
»Hallo, Schatz, hier ist Anja. Ich wollte dich fragen, ob du morgen mit mir ausreiten willst. Es würde mich riesig freuen. Lass uns mit den Pferden über den Strand jagen und den Sonntag gemeinsam genießen. Melde dich bitte. Einen lieben Kuss, mein Kuschelbär. Bis dann.«
Schatz? Mein Kuschelbär? Rita konnte es im ersten Moment nicht fassen und saß regungslos wie eine Skulptur auf der Couch. Dann kehrte das Leben in sie zurück, und sie sprang vom Sofa auf. Die Revue flog durch das Zimmer. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Es entstand eine Wut, die natürlich noch bei Weitem die über das Labskaus übertraf. Ihr Ehemann sollte sie noch kennenlernen! Sie fühlte sich in ihrem Stolz verletzt und gekränkt. Auch wenn jeder ihrer Ehe mit Bernd fehlende Liebe attestieren würde, so waren sie nun einmal seit geraumer Zeit verheiratet. Sie fand, dass dieser Ehebund einen gewissen Zweck erfüllte. Sie konnte bei gesellschaftlichen Anlässen einen Ehering vorzeigen, und ein Herzchirurg entsprach auch in gewissem Maße ihrem Stand. Dass sie ihr Ehegelübde zwar selbst schon einig Male infrage gestellt und als attraktive Frau bereits Korrespondenten und Börsenmakler als Liebhaber hatte, ließ sie außer Acht. Jetzt ging es schließlich allein um sie und ihre Ehre. Ihr Mann hatte sich also auf eine Frau namens Anja eingelassen.
Bernd wird sich noch wundern und hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, dachte Rita. Ein Sturm und ein Gewitter würden beginnen zu toben, sobald er zurückkehrte, und die Villa bis auf ihre Grundmauern erschüttern.
Nichts ahnend betrat Bernd wenige Minuten später den Raum, nachdem er seine Mission erfolgreich erfüllt hatte und Ritas Freundinnen alle untergebracht waren. Er fand seine Frau stolz aufgerichtet im Kaminzimmer vor. Starr und eindringlich schaute sie ihn an. Bernd fand ihren Anblick einschüchternd. So hatte sie ihn das letzte Mal angesehen, als er tollpatschig ihre hochwertige Anti-Aging-Creme auf dem Sims im Bad zu Fall gebracht hatte, woraufhin das Glas geräuschvoll auf dem Boden zersprungen war. Am selben Tag gab er auch ihren Kaschmirpullover in die Kochwäsche — mit entsprechendem Ergebnis. Bernd sagte damals, dass ihre Enkel den Pullover ja noch tragen könnten, aber Rita explodierte, und ein Donnerwetter stand ihm ins Haus. Das würde sich nun in ausgeprägter Form wiederholen, denn diesmal stand mehr auf dem Spiel. Viel mehr.
Rita fragte ihn mit sehr ruhiger Stimme und noch sehr beherrscht. »Gibt es etwas, was du mir vielleicht sagen willst?«
Bernd dachte im ersten Moment an das Essen während der Dinnerparty und meinte: »Wenn es wegen des Labskaus ist, habe ich gedacht, dass du sowieso kein Wort mehr mit mir wechselst …«
»Ach, wer redet denn davon«, unterbrach ihn seine Frau beschwörend, »ich passe mich ganz den Umständen an.«
»Rita, ich bin müde, lass uns morgen weiterreden.« Er wusste nicht recht, worauf sie hinaus wollte.
»Ich würde dir gerne eine Nachricht auf dem AB vorspielen. Sie könnte dich interessieren.« Rita ging auf die Telefonanlage zu und drückte die Abspieltaste. Ihren Blick löste sie nur kurz von Bernd, schaute ihm sogleich wieder tief in die Augen und nahm erneut die Haltung eines Zinnsoldaten ein.
Bernd wurde blass um die Nase und schluckte schwer, als er Anjas Stimme hörte. Dann verhallten die letzten Worte der Nachricht, und er fragte sich, wo er Unterschlupf vor dem Gewitter suchen sollte, das sich nun entladen würde. Er wollte Rita eigentlich noch an diesem Wochenende seine Liebe zu Anja beichten, doch der AB war ihm nun zuvorgekommen, und er wünschte zutiefst, er hätte ihn nie installiert.
»Ist da jemand, mit dem du mehr als nur die Liebe zu Pferden teilst?«, fragte seine Frau, und ihre Stimme begann zu beben.
»Rita, ich wollte es dir noch sagen, dass es einen Menschen gibt, dem ich mich geöffnet habe und …« Er stockte.
»Und was, Bernd? Dass du einfach unsere Liebe aufs Spiel setzt?«
»Ich bitte dich, Rita«, sagte Bernd aufgebracht, »das, was uns verbindet, kann man schon lange nicht mehr Liebe nennen.«
»Aber ich glaube, dass man es rein juristisch als Ehe bezeichnet! Ich habe jedenfalls nie vergessen, dass hier auf Sylt eine Familie auf mich wartet.«
»Du sagst es, Rita: wartet. Wir haben immer gewartet, und das über Wochen und Monate. Willst du mir etwa erzählen, dass du all die Zeit über nicht lieber vergessen hättest, dass wir verheiratet sind?«
»Du sagst es!«, brüllte Rita.
»Das nimmt dir doch nicht einmal deine Mutter ab«, sagte Bernd. Seine Stimmlage näherte sich jetzt der seiner Frau.
»Lass meine Mutter da raus!«, schrie Rita. »Was, glaubst du, hat uns die ganze Zeit zusammengehalten?«
»Ich würde sagen, es war ein ganzes Stück Feigheit. Keiner von uns hat sich getraut, zu seinen Gefühlen zu stehen. Und wenn du mich fragst, diese Ehe ist nicht mehr zu retten! Jeder vernünftige Ehetherapeut würde bei uns das Handtuch werfen!« Bernd hatte die Wahrheit jetzt ganz deutlich ausgesprochen.
»Du riskierst sehr viel für diese Anja«, stellte Rita zornig fest.
»Das kannst du nicht verstehen«, sagte Bernd, und plötzlich wurden sein Blick und seine Stimme wieder sanft. »Sie liebt mich so, wie ich bin. Es ist die Frau, mit der ich morgens aufwachen und abends zu Bett gehen will. Sie lässt mich gewähren und baut keine Mauer vor mir auf. Ich weiß, dass sie das fehlende Puzzleteil zu meinem Glück ist. Kennst du das Gefühl, wenn dir einer den Glauben an dich wiedergibt? Sie hat aus meinen Schwächen Stärken gemacht, und wir lernen voneinander, und zwar ständig und sehr viel.«
»Dann soll sie dir auch eine Lektion im Scheidungsrecht geben. Du musst jetzt die Konsequenzen aus deinem Handeln tragen. Deine Affäre kann dich teuer zu stehen kommen. Denn eines ist klar: Ich will auch ein Stück vom großen Kuchen abhaben. Vielleicht sogar den Löwenanteil.«
»Ich dachte, du machst eine strenge Diät«, erwiderte Nadines Vater, der angesichts der heiklen Lage seinen Humor dennoch nicht verloren hatte. Aber es war ihm sehr mulmig zumute.
»Du weißt nicht, auf wen du dich da eingelassen hast!«, sagte Rita und schöpfte das Volumen ihrer Stimme voll aus.
Das hätte ich gerne vor der Hochzeit gewusst, dachte sich Bernd.
»Aber bewahre nur deinen Humor«, meinte Rita, wandte ihm den Rücken zu und schritt aus dem Kaminzimmer, »du wirst ihn noch brauchen.«
Als Nadine die Gesichter ihrer Eltern morgens am Frühstückstisch sah, war ihr klar, dass die Zeichen auf Sturm standen und unruhige Zeiten für die Familie anbrachen. Auch wenn sie gestern nicht, angelockt von den lauten Stimmen ihrer Eltern, nach unten geschlichen und Zeugin des Streits geworden wäre, spätestens heute wüsste sie, dass schon bald nichts mehr so sein würde wie früher. Die große Metamorphose hatte begonnen.
Nadine und Bernd kam es so vor, als würden bei Tisch eisige Grade herrschen, und beide verspürten trotz des Sommertages, der dem Blick aus dem Fenster nach zu urteilen sonnig zu werden versprach, den Wunsch, ein Feuer im Kachelofen zu entfachen. Doch auch das könnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier zwei Eheleute gegenübersaßen, die sich nicht mehr viel zu sagen hatten. Außerdem würde es gegen die Kälte, die Rita in ihrem Herzen trug und die sich wie eine schwere Schneedecke über alle Anwesenden im Raum zu legen schien, ohnehin nicht ankommen. Nadine sehnte sich etwas wehmütig nach dem Frühstück mit Anja zurück, das so sehr von Wärme geprägt gewesen war. Sie dachte an die wohlige Atmosphäre, die sie dort mit ihrem Vater umgeben hatte.
Wenn es all die Zeit über so etwas wie eine Waffenruhe zwischen Rita und Bernd gegeben hatte und jeder der beiden mehr oder weniger nach seiner eigenen Fasson leben konnte, so war diese nun aufgekündigt. Auf manche mochte ihre Ehe vielleicht besonders tolerant gewirkt haben, doch in Wahrheit wurde sie einfach nur von einer großen Ignoranz Ritas bestimmt. Diese interessierte sich bisher schlichtweg nicht für Bernds Lebenswandel. Sie legte den Fokus ganz auf den eigenen. Stillschweigend nahm sie anscheinend an, dass sich ihr Ehepartner schon immer korrekt verhalten und auch nur so handeln würde, wie es ihrer Verbindung zuträglich wäre. Sie sah keinen Widerspruch in der Tatsache, dass sie sich selbst ein berufliches und soziales Umfeld fernab ihrer Familie geschaffen hatte. Attraktive Männer waren in ihrem Penthouse in Manhattan gern gesehene Gäste, und manch einer von ihnen blieb nachts nicht nur, um einen einzigartigen Blick auf die New Yorker Skyline zu werfen. Diesen konnte man in Ritas Wohnung bei gutem Wetter uneingeschränkt genießen.
Ging es jetzt wirklich nur um die Kränkung und Verletzung einer stolzen Frau, oder stand mehr auf dem Spiel? Ritas Gesicht war besorgniserregend düster und finster. Aber hätte sie wirklich erwarten können, dass sich ihr Ehemann die zwei Jahrzehnte hindurch nie neu verlieben und stets treu auf die selten Heimkehrende warten würde? Schließlich lebte ihr Gatte nicht im Zölibat. Sah sie in seiner Affäre jetzt vielleicht einfach nur den Anlass, sich an seinem Vermögen und um ein paar Millionen zu bereichern? Nadine fiel es schwer, in ihrem verschlossenen Gesicht zu lesen, und fragte sich, ob dies einfach zur Show einer Rita Hansen gehörte, die ihre eigentlichen Beweggründe für die Scheidung zu verbergen suchte. In dem Gesicht ihres Vaters nahm sie eine ungeheure Angst und Unsicherheit wahr. Er tat ihr sehr leid. Seine Nacht war sicherlich nicht sehr angenehm gewesen, zumal sie wusste, dass er auf der Couch genächtigt hatte. Kissen und Decke auf dem Sofa zeugten davon.
Bernd traute sich nicht, Rita um die Kaffeekanne zu bitten, die direkt neben ihr auf dem Tisch stand, und wählte den Umweg über Nadine. Seine Tochter beugte sich leicht vor, griff nach der Kanne und reichte sie ihrem Vater.
Rita beobachtete das Vorgehen etwas argwöhnisch und meinte zu Bernd mit bestimmtem Unterton: »Verbrüh dich nur nicht!«
Bernd nahm diese Spitze einfach hin, ohne etwas zu erwidern.
Nach diesem Katerfrühstück kam es wieder zu dem Zusammentreffen mit Ritas Freundinnen. Sie konstatierten überrascht die matten und müden Augen von Nadines Vater. Auch sein aschfahles Gesicht sorgte für Verwunderung.
Rita meinte zu ihren Freundinnen: »Ihm liegt noch das Labskaus im Magen.«
Unter normalen Umständen hätte Bernd nun widersprochen, doch jetzt ließ er es.
»Herr Hansen, vielleicht tut Ihnen ja ein bisschen Bewegung gut. Wie wär’s, wenn wir heute alle gemeinsam um die Hörnumer Odde marschieren?«, schlug Miranda vor.
»Da haben Sie doch sicherlich nicht das richtige Schuhwerk dabei, meine Damen«, meinte Bernd voller Hoffnung.
»Glauben Sie etwa, wir tragen nur Schuhe von Manolo Blahnik?«, fragte Stephanie lachend.
»Wir haben uns extra ein paar Wanderschuhe zugelegt«, meinte Gabriella fröhlich.
»Dann können wir ja tatsächlich spazieren gehen«, sagte Bernd und wurde noch etwas blasser. Es kostete ihn viel Kraft, sich nicht anmerken zulassen, dass ihm eine Scheidung ins Haus stand und er eine harte Nacht hinter sich gebracht hatte.
Er durchlebte in dieser einen Albtraum, der ihn schweißgebadet aufwachen ließ. Er sah sich in einem Gerichtssaal der Frau gegenüber, die ihm das Leben schwermachen und einen großen Teil seines Vermögens beanspruchen wollte. Er erblickte Rita in einem dunklen Hosenanzug von Escada mit einem hämischen und süffisanten Lächeln auf den Lippen, nein, es war vielmehr ein Grinsen und wirkte fast schon wie eine Grimasse.
Sie flüsterte fortlaufend etwas in das Ohr ihres Anwalts, der dies mit einem ständigen Nicken quittierte.
Ritas Rechtsbeistand erhob sich vor dem Richter in schwarzer Robe und sagte: »Meine Mandantin hat einen Antrag auf das Zugewinnausgleichsverfahren gestellt und erhebt Anspruch auf die Hälfte der Vermögenswerte von Herrn Hansen.«
Dann sprang Rita von ihrem Stuhl auf und schrie in den Saal: »Du wirst bluten, Bernd, das verspreche ich dir!«
Daraufhin war er mit Schweißperlen auf der Stirn hochgeschreckt. Die Stimme seiner Frau hallte in seinen Ohren wider. Er spürte Verspannungen im Nacken und eine nie gekannte Angst. Es war vier Uhr. Bernd fand keinen Schlaf mehr, stand auf und ging im Kaminzimmer ständig auf und ab und umkreiste das Sofa auf der Suche nach einer Lösung, einem Ausweg.
Er griff noch vor acht Uhr zum Hörer, um seine Anja ungestört von den Ereignissen der letzten Nacht zu unterrichten. Bei ihr saß der Schock tief. Sie konnte ja nicht ahnen, was sie mit ihrer Nachricht auf dem AB anrichten würde. Bernd versicherte ihr, dass es nicht ihre Schuld sei, sondern seine. Er hätte ihr sagen müssen, dass seine Frau noch an diesem Wochenende eintrifft. Er würde sich deswegen ewig Vorwürfe machen. Bernd berichtete Anja auch von Ritas Kampfansage, die sein Unterbewusstsein stark belastet und ihm eine unruhige Nacht beschert hatte. Sie fing an, am Telefon bitterlich zu schluchzen. Es war heute in der Tat ein schwarzer Sonntag.
Bernd sagte in den Hörer: »Du brauchst nicht stark zu sein, Liebling, ich werde es sein. Wenn all das hier durchgestanden ist, werden wir heiraten, das verspreche ich dir. Damit unser Märchen wahr wird, muss ich es aber vorher noch mit einem Drachen aufnehmen.« Er fand, dass diese Metapher durchaus ihre Berechtigung hatte, und Bernd begann somit voller Sorge den Tag.
Er empfand den Spaziergang um die Odde als quälend. Dass seine Tochter auch teilnahm, verschaffte ihm jedoch ein wenig Erleichterung. Aber sein Gesichtsausdruck sah dennoch leidend aus. Für die schöne Dünenlandschaft hatte er keine Augen.
Gabriella fragte besorgt: »Herr Hansen, haben Sie irgendwelchen Kummer?«
»Ihm geht es gut«, sagte Rita schnell, noch bevor ihr Mann antworten konnte. Sie würde nicht zulassen, dass etwas von dem gestrigen Streit nach außen drang. Zumindest an diesem Wochenende nicht.
Nach einem sehr langen Marsch fuhren sie im Hörnumer Hafen mit den Adler-Schiffen hinaus zu den Seehundbänken. Ritas Freundinnen zückten die Fotoapparate und waren ganz begeistert von den possierlichen Tieren. Für Bernd symbolisierte das starke Gewicht der Seelöwen auch ein wenig die Last seiner Probleme. Nadine zwinkerte ihm immer wieder liebevoll zu. Sie ließ ihn wissen, dass er in dieser schweren Zeit auf sie bauen konnte. Nadine war für den Ausflug im Gegensatz zu ihrem Vater fast schon dankbar, da sie ein wenig Ablenkung gut gebrauchen konnte.
Am Abend suchte Bernd das Gespräch mit seiner Tochter, die ihm offenbarte, dass sie bereits wusste, was genau vorgefallen war, und sagte zu ihm mit fester Stimme: »Paps, du kannst auf mich zählen. Wir stehen das Seite an Seite durch!«
Rita flog am nächsten Morgen wieder früh mit ihren Freundinnen nach New York. Sie verabschiedete sich zuvor noch von Nadine und meinte: »Du solltest Tom verzeihen. Er verdient eine zweite Chance.«
Nadine entgegnete: »Du misst die Menschen mit zweierlei Maß.«
»Glaube mir, ich weiß, wer eine zweite Chance verdient und wer nicht.« Sie warf einen geringschätzigen Blick auf ihren Ehemann. »Dein Vater hat mich zutiefst verletzt.«
»Du hast dich die ganze Zeit über nie verliebt?«, fragte Nadine unvermittelt und ungläubig.
»Glaub mir, eine Rita Hansen kann ihre Gefühle stets kontrollieren. Außerdem darf man verliebt sein, aber bei deinem Vater ist es offensichtlich nicht nur bei den Schmetterlingen im Bauch geblieben.«
»Er hätte wohl mit einem Netz losziehen und sie allesamt einfangen sollen«, sagte Nadine. »Vater hat es nicht verdient, auf der Anklagebank zu sitzen.« Sie hoffte, an das Verständnis ihrer Mutter appellieren zu können.
»Du kannst ja seine Verteidigung übernehmen. Er wird jede Unterstützung dringend nötig haben«, sagte Rita bestimmt. Sie griff in ihre feine Lederhandtasche und zückte ein Etui, aus dem sie eine Sonnenbrille von Coco Chanel nahm. Mit den Worten »Der, der zuletzt lacht …« ging sie durch die Eingangstür der Villa und setzte die Brille auf. Sie stieg in den Kleinbus, mit dem Bernd sie mit ihren Freundinnen zum Flughafen brachte.
Eine Eiszeit war zwischen den Noch-Eheleuten angebrochen, deren Gletscher wohl nicht mehr schmelzen würden. Die Stimmung im Hause Hansen sank auf ein arktisches Tief, als Bernd zurückkehrte. Nadine und ihr Vater fühlten sich angesichts der Geschehnisse ratlos und ohnmächtig. Sie wussten nicht recht, wie sie zur Tagesordnung übergehen und sich wieder ihrem Berufsleben widmen sollten. Bernd war natürlich froh, dass Rita erneut in die Staaten flog, wenngleich er sicher wusste, dass er bald von ihr hören würde.
Nadine trat am Vormittag ihre Arbeit bei Lennart Petri an und stellte fest, dass kein Deut mehr Ordnung in ihr Leben gekommen war, seitdem sie das Büro das letzte Mal betreten hatte. Im Gegenteil. Sie merkte aber auch, dass der Name Veronika in ihrem Kopf in den Hintergrund getreten war. Die Konfrontation mit ihr würde wohl in gut zwei Wochen stattfinden und Wunden wieder aufreißen. Wie sollte sie der Frau gegenübertreten, die sie wahrscheinlich über Wochen angelogen hatte und sie die schwersten Momente ihres Lebens erleben ließ?
Auf seinem Gestüt saß Nadines Vater am Abend mit seinem Bruder in dessen großem Büro um einen ausladenden Eichenholzschreibtisch beisammen. Bernd hatte einen anstrengenden Arbeitstag in der Herzklinik hinter sich gebracht.
»Bruderherz, du siehst aber schlecht aus. War dein Wochenende so schlimm?«, fragte Wilfried besorgt.
»Du sagst es.«
»Was war los? Hattest du deinen Hochzeitstag mit Rita?«, fragte Wilfried interessiert und etwas neckisch.
»An den muss ich mich hoffentlich schon bald nicht mehr erinnern. Mein Wochenende kann man aber getrost als turbulent bezeichnen. Rita war mit ihren Freundinnen da. Das war aber noch nicht einmal das Schlimmste«, sagte Bernd, und sein Blick wurde noch trüber.
»Das sagt schon viel, aber spann mich nicht so auf die Folter. Was ist denn so schrecklich gewesen? Musstet du mal wieder den Kochlöffel schwingen?«
»In der Tat.«
»Was gab es denn Gutes?«
»Labskaus.«
»Und Rita war damit einverstanden?«
»Nein, das ist ja daran das Reizvolle gewesen.«
»Was war dann so entsetzlich?«
»Nun, ich lass mich von Rita scheiden.«
»Und das ist eine schlechte Nachricht?«
»Wenn deine Frau mit schwingenden Schwertern und rasselnden Säbeln in den Kampf zieht und das Unrecht rächen will, das ihr angetan wurde, dann schon. Dass wir uns in diesem Leben noch einvernehmlich einigen können, ist leider Wunschdenken. Ich bin mir sicher, dass der Wind für mich in nächster Zeit hier auf Sylt noch rauer wird und ich Gefahr laufe, von mächtigen Sturmböen ins offene Meer hinausgetragen zu werden.«
»Der Scheidungsgrund ist demnach Anja und nicht das Labskaus«, stellte Wilfried überflüssigerweise fest. Dann beschwichtigte er und versuchte, Bernd zu beruhigen: »Mal den Teufel nicht an die Wand. Wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf die Körung von Cassis. Den letzten Parcours ist er gut gelaufen, ich denke, dass er bei der Körung erfolgreich abschneidet und schon bald als Beschäler eingesetzt werden kann.«
»Das wäre schön. Obwohl meine Sorgen momentan eine andere Größenordnung haben.«
»Welche denn?«
»Ach, so im Millionenbereich.«
»Rita hat sicherlich nur leere Drohungen ausgesprochen, und ihr erhitztes Gemüt wird sich nach ihrer Ankunft in New York beruhigen«, meinte Wilfried beschwichtigend.
»Nur wenn sie dann kopfüber in den Hudson fällt. Aber du hast recht, vielleicht schwächt sich der Wirbelsturm Rita auf seiner Reise über den Atlantik noch ab.«
»So gefällst du mir schon viel besser«, meinte Wilfried erleichtert, »außerdem vergiss nicht, du bist zwar noch mit einer Furie verheiratet, kannst aber irgendwann deinen Engel Anja vor dem Standesamt küssen. Ich hingegen bleibe wahrscheinlich mein ganzes Leben lang Single. Dabei weiß ich nicht mal, was ich falsch mache.«
»Vielleicht ist es keine gute Flirttaktik, den Damen immer gleich Reitstunden anzubieten«, sagte Bernd, der schon wieder etwas Mut gefasst hatte.
»Ich dachte, die Frauen stehen auf Pferdeflüsterer«, entgegnete Wilfried. Er hatte grau melierte Haare, aber sie waren noch sehr voll. Bernds Bruder war Mitte fünfzig, sehr sportlich und dynamisch. Er sah auch noch etwas drahtiger aus als sein zwei Jahre älterer Bruder und hatte ein attraktives Äußeres. Dennoch war er schon eine halbe Ewigkeit auf der Suche nach der richtigen Frau.
»Ich finde, mein Blick ist genauso verwegen wie der von James Dean«, sagte Wilfried im Brustton der Überzeugung zu seinem älteren Bruder.
»Deswegen findet sich wahrscheinlich auch keine Frau, die gern mit dir in deinen Porsche steigt«, erwiderte Bernd schmunzelnd.
»Sehr lustig, Bernd.« Wilfried gab sich etwas verärgert. »Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nur der Leiter und nicht der Eigentümer der ›Syltrose‹ bin. Sonst würden mir die Frauen wahrscheinlich reihenweise zu Füßen liegen.« Er grinste verschmitzt.
»Dann müsstest du aber aufpassen, dass du nicht ständig über sie stolperst«, meinte Bernd mit einem Augenzwinkern, »du bist schließlich etwas tollpatschig.«
»Aber auf meinem Pferd mach ich immer eine gute Figur und kann bei noch so schwungvollen Gängen die Balance halten. Dazu habe ich ein großes Organisationstalent und führe dieses Gestüt sehr erfolgreich. Mir ist es zu verdanken, dass wir sogar Kunden aus Süddeutschland haben.«
»Ich beschwere mich ja auch nicht. Und jetzt planen wir am besten die nächsten Meisterschaften. Ablenkung ist ohnehin der einzig richtige Weg. Auch wenn mein Leben gerade das reinste Chaos ist, meine Pferde sollen das nicht zu spüren bekommen. Außerdem haben wir einen guten Ruf zu verteidigen. Ich will ein guter Herzchirurg und ein hervorragender Züchter bleiben!«, sagte Bernd und machte sich mit seinem Bruder daran, den Erfolg seines geliebten Gestüts weiter auszubauen.
Nadines Vater erkundigte sich bei seinem Bruder, welche Stuten in dieser Saison noch gedeckt werden sollten und ob sich der Kundenstamm noch erweitert hatte. Außerdem gingen sie eine Liste potenzieller Käufer einiger Pferde durch. Auch redeten sie über die Tiere, die bei den nächsten wichtigen Turnieren gestellt werden sollten, und welches Pferd als Vererber der Holsteiner Linie infrage kam, deren Springvermögen als legendär bezeichnet wird.
So waren die Brüder sehr in ihre Arbeit vertieft.
Bernd meinte zu seinem Bruder dann zu später Stunde: »Wenn ich mein Gestüt nicht hätte, würde es mir sehr viel schlechter gehen. Es ist sozusagen mein wunder Punkt, und ich kann nur hoffen, dass Rita ihn nie berührt.«