Читать книгу Der Zauber von Regen - Liliana Dahlberg - Страница 7

Kapitel 3

Оглавление

Veronika hatte die letzte Nacht fast nur im Wachzustand zugebracht. Jedes Mal, wenn sie in einen leichten Schlaf fiel, war sie von dem gleichen Traum heimgesucht worden und sah darin dieses eine Bild.

Tom und sich auf dieser Couch und Nadine im Wohnzimmer, die sie beide in flagranti ertappt hatte. Auch hörte sie in diesem Traum immer Nadines schrillen Schrei. Sie schreckte stets hoch und wachte schweißgebadet auf. Den Preis, den sie für ihre Liebe zu Tom gezahlt hatte, war zu hoch gewesen. Viel zu hoch. Seitdem sich die zwei im Streit in Nadines Wohnung getrennt hatten, hatte Veronika nichts mehr von ihm gehört.

Nachdem Nadine das Apartment fluchtartig verlassen hatte, machten sich beide einander lautstark Vorwürfe. Ein Wort ergab das andere.

Veronika meinte zu Tom vollkommen aufgewühlt: »Wir sind furchtbare Menschen. Wir haben Nadines Couch entweiht.«

»Red doch keinen Unsinn. Die Couch war schließlich kein Heiligtum«, entgegnete Tom gereizt.

»Für Nadine vielleicht schon. Auf jeden Fall haben wir sie wochenlang angelogen …«

»Wir haben Nadine nicht angelogen, sondern ihr nur etwas verschwiegen. Das ist ein feiner Unterschied«, erwiderte Tom bestimmt.

Veronika fragte immer wieder unter Tränen: »Was machen wir jetzt nur? Was machen wir jetzt nur?«

Tom antwortete kühl: »Ich für meinen Teil packe.« Er ging in die Besenkammer des Apartments und förderte einen großen Reisekoffer zutage. Darin verschwanden in Windeseile seine Kleidungsstücke aus Nadines Kleiderschrank im Flur. Er klaubte auch noch schnell seine restlichen Besitztümer zusammen.

Veronika war ihm nachgelaufen und sagte fassungslos: »Dazu fällt dir nichts anderes ein?«

Tom erwiderte: »Falls du es nicht weißt: Reisende soll man nicht aufhalten.« Er legte seinen Schlüssel von Nadines Apartment auf den gläsernen Couchtisch. Außerdem fügte er hinzu, wobei Veronika in seinen Augen eine nie da gewesene eisige Kälte wahrnahm: »Ein gut gemeinter Tipp von mir: Verlass auch du das Apartment – es ist schließlich nicht deins.«

Veronika war wie vor den Kopf gestoßen und schnappte merklich nach Luft. Sie wollte einen Schrei fahren lassen, der in seiner Lautstärke noch den von Nadine übertraf, doch sie war wie gelähmt und spürte, wie man ihr den Boden unter ihren Füßen wegzog. Sie sackte in sich zusammen und nahm noch aus den Augenwinkeln wahr, wie sich der Mann, den sie so sehr geliebt hatte, ihr Ritter, auf sein Ross schwang, in die anbrechende Dunkelheit verschwand und sie allein zurückließ. Er wandte seinen Kopf kein einziges Mal mehr zurück.

Nadine und ihr Vater beendeten ihr Abendessen, nachdem beide ein Völlegefühl verspürt und sie gemerkt hatten, dass fast der ganze Topf Spaghetti in ihren Mägen gelandet war. Auch den Spätburgunder hatten sie nicht gerade verschmäht. Nadine half ihrem Vater beim Abräumen des Tischs und ging dann recht schläfrig in das Bett ihres alten Kinderzimmers. Sie empfand gleich eine starke Vertrautheit, als sie den weitläufigen Raum mit seinen hell getünchten Wänden betrat, und hatte das Gefühl, von einem guten alten Freund begrüßt zu werden. Als sie sich in ihr Bett legte, glaubte sie, auf einer Wolke zu liegen, und hüllte sich in ihre weiche Daunendecke. Sie fiel im Gegensatz zu gestern in einen tiefen und festen Schlaf.

Der gestrige unterhaltsame Abend wirkte noch nach. Am nächsten Morgen stieg eine gut gelaunte Nadine aus ihrem Bett, lief die breite Holztreppe hinunter und betrat die große Vorhalle der Villa. Sie lief über die terrakottageflieste Diele in das weitläufige Kaminzimmer, in dem sich ein großer Ofen befand, dessen in Blautönen gehaltene Kacheln kunstvoll bemalt waren. Auf einigen waren kleine Apfelbäume zu entdecken und auf anderen jeweils ein Mann mit Frau in friesischer Tracht. Auf dem Sims des Kachelofens wollte auch ein großer Porzellanteller bestaunt werden, auf dem auf Friesisch stand: »Üüs Sölring Lön, dü best üs helig.« Dies übersetzte man mit: »Unser Sylter Land, du bist uns heilig.« Der Ofen samt Teller wirkte etwas verloren in dem toskanisch eingerichteten Raum. Nadine hatte sofort einen angenehmen Geruch in der Nase, als sie ihn betrat: den von frisch gebrühtem Kaffee und knusprigen Brötchen. Der Tisch, an dem gestern noch genüsslich Spaghetti mit Pesto gegessen worden war, hatte sich in eine ausladende Frühstückstafel verwandelt. Nadine war sich für einen Moment nicht sicher, ob ihr Vater Besuch zum Frühstück erwartete. Aber auf dem Teakholztisch standen schließlich nur zwei Teller, Gläser und Kaffeetassen. Ansonsten könnte man glauben, dass sich ihr Elternhaus über Nacht in eine Pension umgewandelt hatte und nun auf seine ersten Morgengäste wartete.

Ihr Vater kam fröhlich pfeifend mit einer Kaffeekanne aus der Küche und begrüßte seine Tochter. »Guten Morgen, Schatz, ich hab mir erlaubt, den Tisch zu decken.«

Nadine, immer noch ein wenig überrascht, fragte: »Du erwartest niemanden, nicht wahr?« Ihr fiel jetzt auch auf, dass sich auf dem Tisch das beste Service des Hauses befand.

Ihr Vater schien sich kurz die Antwort zu überlegen und musterte die Tafel. »Wie konnte mir das nur passieren? Das habe ich ja völlig vergessen.« Er lief zu der großen Vitrine mit dem Porzellangeschirr und holte noch ein Gedeck.

»Moment mal«, sagte Nadine, noch verwundeter als zuvor, »wer kommt zu Besuch? Der Bundespräsident? Ich bin übrigens noch im Pyjama …«

Ihr Vater unterbrach sie. »Dir steht doch alles.« Er lief wieder schnell in die Küche und kam mit einer weiteren Tasse und einem Glas zurück. Nachdem er diese auf dem Tisch platziert hatte, senkte er leicht seine Stimme und meinte beiläufig: »Außerdem, Anja stört es bestimmt nicht.«

Nadine glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben, und kniff sich mit ihrer rechten Hand in den Arm, als hätte sie Zweifel, schon wirklich wach zu sein, und ihr Mund öffnete sich leicht vor Erstaunen.

»Deine Pferdewirtin kommt zum Frühstück«, sagte sie beinahe etwas abfällig, weil sie doch sehr verärgert war, dass schon am frühen Morgen Besuch kam und sie sich diesem sicherlich nicht im Schlafanzug präsentieren wollte. Außerdem erweckte die Tatsache, dass Anja am Frühstück teilnehmen sollte, bei ihr den Eindruck, als handelte es sich bereits um ein Familienmitglied.

Ihrem Vater schien es ernst zu sein mit dieser Frau, was sie sehr beunruhigte. Er war nun schon seit über mehr als zweieinhalb Jahrzehnten mit ihrer Mutter verheiratet, zwar gewiss nicht glücklich, aber die Ehe hatte gehalten, und die Scheidung wurde nie eingereicht.

Ihr Vater wünschte sich aber insgeheim schon lange, dass seine Frau eine Romanze mit einem New Yorker begann und möglichst keinen Fuß mehr auf Sylt setzte. Sollte doch ein Aktionär von der Wall Street sie glücklich machen. Bernd war klar, dass seine Frau sehr materiell orientiert war und die Dicke des Geldbeutels potenzieller Liebhaber bei ihr eine große Rolle spielte.

Eine Scheidung stand für ihn jedoch bisher nie wirklich zur Debatte, auch wenn er sie oft herbeigesehnt hatte. Er nahm immer wieder Abstand von dieser Idee, da es keinen Ehevertrag gab. Rita stünde nach deutscher Rechtsprechung gut die Hälfte seines während der Ehe erwirtschafteten Vermögens zu. Was dies finanziell für ihn bedeuten würde, wollte er sich gar nicht erst näher ausmalen. Rita würde bestimmt nicht auf ihre Ansprüche verzichten, obwohl sie sicherlich ein mehr als stattliches Einkommen bei der UNO bezog. Sie fände eher gewiss Gefallen an seinem Vermögen und dem der »Syltrose«, seinem geliebten Gestüt. Es gab dort schließlich hochdekorierte Pferde mit entsprechendem Marktwert.

Nadine rannte schnell die Treppe nach oben und zog sich das Erstbeste an, was ihr aus ihrem Koffer in die Hände fiel. Es war ein helles Chiffonkleid und eigentlich nur für besondere Anlässe gedacht, aber es obsiegte der Druck der Zeit. Sie rückte gerade die Träger des Kleides zurecht, als sie die Klingel an der Tür vernahm. Gleich würde die Angebetete ihres Vaters über die Schwelle treten, und sie konnte sich auf ein heiteres Frühstück einstellen. Ihr Magen knurrte schon, und so war es wirklich keine Frage, dass sie sich mit an den Tisch setzen würde, auch wenn sie sich diese Anja im Moment sehr weit weg wünschte. Sie warf noch einen prüfenden Blick in den kleinen Wandspiegel ihres Zimmers, der in einer sehr schönen Kupferfassung gehalten wurde. An beiden Enden des Rahmens blinzelten dem Betrachter je eine kleine Sonne und ein winziger Mond entgegen, die wiederum in einem bronzefarbenen Schimmer glänzten. Nadine war mit ihrem Anblick zufrieden, obwohl sie sicherlich ein wenig overdressed war. Sie spürte deutlich ein leichtes Kribbeln ihrer Hände – bei ihr immer ein klares Zeichen von Nervosität. Nadine wusste, dass dieses Frühstück heute in vielerlei Hinsicht einen besonderen Rahmen besaß und wohl auch aus diesem fiel. Sie hatte anscheinend bisher die Rolle unterschätzt, die Anja im Leben ihres Vaters spielte. Nadine würde sich in wenigen Augenblicken selbst ein Bild davon machen können, wie eng die beiden zueinander standen.

War es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis Anja die neue Frau an der Seite ihres Vaters würde?

Sie lief mit dieser Frage im Kopf und sichtlich angespannt die breite Treppe hinunter.

Ihr Vater hatte inzwischen die Haustür geöffnet, und in deren Rahmen stand sie nun – die Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging und ihn vielleicht sogar seinen zweiten Frühling erleben ließ. Er war von ihrem Wesen wie verzaubert, und diese Person von zierlicher Gestalt umgab in der Tat etwas Zauberhaftes, und eine besondere Aura ging von ihr aus. Ihren hübschen Kopf umspielte eine kurze dunkelblonde Lockenmähne. Eine Spange in Form einer Kirschblüte hob sich oberhalb ihres rechten Ohres geschmackvoll ab. Es war keine Frage, dass diese Frau ein starkes Modebewusstsein hatte. Nadine erinnerte sich, sie schon einmal in einem der Stalltrakte des Gestüts gesehen zu haben, wie sie ein Pferd versorgte. Dort trug sie noch eine grobfaserige Jeans und einen Pulli, der um einige Nummern zu groß erschien. Diese Kleidungsstücke waren verschwunden und gegen ein orangefarbenes Poloshirt und eine weiße Hose eingetauscht worden. Außerdem baumelte ein beigefarbenes Strickjäckchen um Anjas schmale Taille. Sie wirkte freundlich, und ein gewinnendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Ihr Gesicht war von vielen kleinen Sommersprossen übersät.

Sie betrat das Anwesen, und ihr Vater ergriff ihre Hand und beugte sich vor, als wollte er sich vor ihr verneigen. Das hätte er sicherlich auch getan, so fasziniert war er von ihrer adretten Erscheinung, doch er entschied sich dafür, Anja einen Kuss auf den Mund zu drücken. Als diese Nadine erblickte, die das Geschehen merklich berührt verfolgte, lief sie beherzt auf sie zu und streckte die Hand zur Begrüßung aus. Nadine stellte fest, dass ihr Händedruck überraschend fest war.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie auch da sind«, sagte Anja, wobei sie immer noch von einem Lächeln beseelt war, das nett und aufrichtig wirkte. »Was für eine schöne Überraschung. Ich wollte Sie schon lange kennenlernen.«

Nadine wünschte, dass sie dasselbe auch behaupten könnte, und erwiderte dennoch: »Ich freue mich auch, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Sie wurde sich der Tatsache gewahr, dass sie bisher nur wenig über Anja wusste, auch wenn ihr Vater über sie gesprochen und Andeutungen gemacht hatte. Das würde sich bald ändern, wenn nicht gar in wenigen Augenblicken.

Ihr Vater ergriff das Wort: »Ich habe mir erlaubt, dir ein kleines Frühstück zu zaubern … ähm, ich meine natürlich uns«, korrigierte er schnell und fing den vielsagenden Blick seiner Tochter auf, der nach wie vor Unbehagen ausstrahlte.

Sie betraten das Kaminzimmer mit seinen großen dunklen Balken an der Decke und näherten sich der reichlich gedeckten Frühstückstafel.

»Nein, ist der Tisch schön hergerichtet«, entfuhr es Anja, »lasst uns doch alle setzen.«

»Genießen Sie das Buffet des Gasthofs Hansen, wir haben schließlich Besuch erwartet«, sagte Nadine mit einem Ton in der Stimme, der die Ironie ihrer Äußerung verriet. Sie war über sich selbst überrascht.

Anja verlor aber auch jetzt nicht ihr strahlendes Gesicht und wirkte keineswegs verunsichert. Nadine hatte merkwürdigerweise den Wunsch, es Anja nicht zu leicht und heimelig in ihrem Familiennest zu machen. Obwohl sie sich in das Liebesleben ihres Vaters nicht einmischen sollte, glaubte sie, Position für die Ehe ihrer Eltern beziehen zu müssen. Sie war wie eine Anwältin, die vielleicht für ein fragwürdiges Ziel kämpfte und für etwas, was nur noch auf dem Papier Bestand hatte, doch sie wollte, dass sich ihr familiärer Kokon nicht veränderte. Zumindest momentan noch nicht. Schließlich war es in ihrem Leben erst vor Kurzem zu einer neuen und unerwarteten Wendung gekommen. Nadine ahnte, dass es schon bald einen anderen Status quo in der Ehe ihrer Eltern geben würde. Neuer Wirbel in ihrer Welt, die sie selbst noch nicht wieder geordnet hatte.

Außerdem betrachtete sie die Ehe im Allgemeinen als eine heilige und besondere Instanz, die man so lange wie möglich bewahren und schützen sollte. Nadine wusste, dass sie da vielleicht eine ein wenig verstaubte und konservative Meinung hatte, doch so dachte sie nun einmal.

Anja mochte wirklich charmant und sympathisch erscheinen, aber Nadine glaubte unweigerlich, ihretwegen etwas zu verlieren und dass ein Sturm in ihrer Familie aufziehen könnte und die große Metamorphose unmittelbar bevorstand, die sie befürchtete.

Anja belegte den Stuhl neben ihr, und Nadines Vater nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs Platz. Nadine bemerkte schnell die verliebten Blicke, die sich Anja und ihr Vater zuwarfen. Seine Gesichtszüge waren noch sanfter und weicher als sonst und sehr entspannt. Er schien jetzt in den Augen seiner Angebeteten merklich zu versinken, die blau waren und in jenen grauen Nuancen lagen, die ihn ein wenig an die Nordsee erinnerten, die sich vor Sylt meist tosend brach und mit ihren Schaumkronen etwas Majestätisches und Hoheitsvolles besaß. Nadines Vater wollte sich in Anjas Augen mit den langen und geschwungenen Wimpern verlieren, die ihm so viele Geschichten von einem wunderbaren Menschen zu erzählen schienen. Geschichten, die die Augen seiner eigenen Frau schon lange nicht mehr erzählten.

Es herrschte eine kurze Stille am Tisch, da sich Anja und Bernd immer noch mit ihren Blicken fixierten und offenbar fesselten. Obwohl der Sekundenzeiger weiterhin im Takt schlug, stand die Zeit zumindest für die beiden still.

Nadine fand, dass man das neue Kapitel der Familie Hansen, das aufgeschlagen wurde, unter den paradoxen Titel »Der Anfang vom Ende« setzen könnte. Sie gönnte natürlich ihrem Vater die Freuden der großen Liebe, er sollte glücklich sein, aber das unangenehme Gefühl hielt sich, dass möglicherweise bald nichts mehr so sein würde wie früher. Da strahlte ihr Vater doch tatsächlich wie ein Pennäler verschmitzt seine Anja an, die etwas verlegen sein Lächeln erwiderte. Nadine war sich bewusst, dass sie blind gewesen sein musste. In Anja hatte sie nie mehr als eine Mitarbeiterin des Gestüts gesehen, die ihrem Vater vielleicht gefallen mochte, doch dass sich eine Beziehung zwischen den beiden anbahnen könnte, hatte sie völlig ausgeschlossen. Dem Zauber der Liebe konnte man sich jedoch nicht entziehen. Nadine wusste, wenn die Schmetterlinge im Bauch Kapriolen schlugen und man sich magisch von seinem Partner angezogen fühlte, war man schwer verliebt und hatte das Gefühl, nach den Sternen greifen zu können und dass der Himmel voller Geigen hing, die das wunderbare Lied der Liebe spielten, dem man nur noch lauschen wollte. Genau das war ihrem Vater widerfahren.

Wie lange die Liaison schon währte, konnte sie nicht sagen, denn es war ihm lange gelungen, das Geheimnis seiner Liebe zu Anja zu wahren. Jetzt wurden seine Gefühle zu dieser Frau ganz offensichtlich, als hätte sich ein fest verschlossenes Kästchen geöffnet. Dieses gewährte nun einen tiefen Einblick in Bernds Seelenleben und gab preis, was nicht länger versteckt werden konnte. All die Emotionen, die die ganze Zeit unter Verschluss lagen, standen nun zum Greifen nah im Raum.

Nadine räusperte sich, um zumindest für ein paar Momente den magischen Bann, in dem sich die beiden befanden, zu brechen und sich bemerkbar zu machen.

»Reichst du mir bitte den Honig, Vater«, sagte sie etwas distanziert, denn vor Anja wollte sie ihn nicht »Paps« nennen und so für noch mehr Intimität als nötig sorgen. Sie sendete auch an ihn ein eindeutiges Zeichen.

Ihr Vater zuckte ein wenig zusammen, lief im Gesicht rot an und kehrte in die Gegenwart zurück. Ihm war es unangenehm, dass er seiner Tochter seine Verliebtheit so bildlich vor Augen geführt hatte, und fühlte sich ertappt. »Sicher, mein Engel«, sagte er unruhig, und seine weichen Gesichtszüge wichen einer gewissen Nervosität und Anspannung.

Auch Anja schien wie aus einem Traum erwacht. Beide wirkten auf einmal peinlich berührt und hektisch.

Nadine nahm amüsiert zur Kenntnis, dass Anja und ihr Vater nun gleichzeitig den Tisch nach dem Honigglas absuchten. Es zu finden, war wahrlich kein so leichtes Unterfangen bei dem üppig gedeckten Tisch.

»Wo kann es nur sein?«, fragte Anja mit aufgeregter Stimme, als hätte Nadine nach einem wichtigen Wertobjekt gefragt, das binnen Sekunden ausfindig gemacht werden müsste.

Nadines Vater erhob sich sogar und schien mit seinen Augen den Tisch förmlich zu scannen. Er erspähte das Honigglas dann hinter dem reichlich gefüllten Brotkorb und ließ einen Seufzer der Erleichterung fahren.

»Da ist es ja«, sagte Bernd erfreut und holte es hervor. Er reichte es seiner Tochter, und diese verhehlte mit ihrem Grinsen nicht, dass sie die Szenerie sehr lustig fand.

Sie bestrich jetzt ihr Brötchen. Auch Bernd und Anja stillten ihren Frühstückshunger und versuchten, während sie sich am Tisch bedienten, sich nicht in die Augen zu sehen. Trafen sich ihre Blicke, schauten sie leicht beschämt zur Seite. Anja betrachtete durch das große Fenster das Watt, das sich malerisch vor dem Anwesen erstreckte und eine schöne Aussicht bot. Die Sonne, die durch die Glasscheiben fiel, ließ den ganzen Raum in einem hellen Licht erstrahlen und sehr freundlich erscheinen.

Stille kehrte ein. Momentan war nur noch vereinzelt das Geklapper von Geschirr zu vernehmen und wie mit Messern leckere Brötchen in zwei Hälften geteilt wurden. Anja nippte an ihrem Kaffee, den Bernd ihr, ohne dass beide ein Wort zu wechseln brauchten, nach ihren Wünschen zubereitet hatte. In diesem Fall war ihr Schweigen sogar sehr aussagekräftig. Es wirkte routiniert, so wie Nadines Vater zwei Stück Würfelzucker und etwas Milch in ihre Tasse gab. Anja bedankte sich kurz, als sie diese entgegennahm. Sie sah anschließend wieder hinaus auf das Watt. Nadine wünschte nun, dass es erneut zu einem Wortwechsel und Leben am Tisch kommen würde. Sie wusste, dass sich ihr Vater und Anja gerade sehr unbehaglich fühlten und versuchten, eine gewisse Unbefangenheit einander gegenüber auszustrahlen. Das gelang nur bedingt, und Nadine tat es fast schon leid, dass sie wohl Auslöser für die Stille am Tisch war. Sie wollte nunmehr ein Gespräch über ein unverfängliches Thema beginnen und sich nach dem Gestüt erkundigen.

»Hatte ›Cassis‹ schon seine Körung?«, fragte sie ihren Vater neugierig.

Cassis war ein junger Hannoveraner und aufgrund seiner dunklen Fellfarbe, die unter der Sonne sogar leicht bläulich zu schimmern schien, zu seinem Namen »Schwarze Johannisbeere« gekommen. Bevor ein Hengst zur Zucht eingesetzt werden konnte, stellte ein erster Schritt die Körung dar. Diese Vorauswahl zur Hengstleistungsprüfung musste erfolgreich von dem Pferd absolviert werden, bevor es als Zuchthengst oder Beschäler in das Hengstbuch eingetragen wurde.

»Noch nicht«, erwiderte Bernd, »es ist erst kommenden Mittwoch so weit. Er hat sich zum Glück prächtig entwickelt. Ich glaube, dass das neue Kraftfutter und die Pellets mit den Vitaminen ihm wunderbar bekommen. Meinst du nicht auch, Anja?« Er warf einen leicht verstohlenen Blick zu der Frau, die gerade mit erkennbar nervösem Gesichtsausdruck ihr Frühstücksei pellte.

Sie stieg erfreut, wenn nicht sogar begeistert über das Thema der Unterhaltung in das Gespräch mit ein. Ihr Augen- und Gesichtsausdruck verwandelte sich schlagartig.

Sie pflichtete strahlend bei: »Ja, es macht richtig Freude, ihm beim Heranwachsen zuzusehen. Er hat eine tolle Rittigkeit und auch eine gewaltige Hinterhand.«

Das Thema Pferde schien eine Brücke zwischen Anja und Nadine geschlagen zu haben, und das Eis war gebrochen. Sie unterhielten sich nun ganz unverkrampft. Bei aller anfänglichen Skepsis der Frau gegenüber, die das Herz ihres Vaters erobert hatte, musste Nadine feststellen, dass sie beide doch etwas verband: die Liebe zu Pferden. Sie unterhielten sich auch über die anderen edlen Vertreter des Gestüts »Syltrose« und deren Turniererfolge sowohl in Dressur als auch im Springsport. Besonders der sprunggewaltige Westfale »Butterfly«, der Bundeschampion in der Vielseitigkeit war, sorgte für Gesprächsstoff und regen Austausch.

Nadines Vater war froh, dass sich seine Tochter so unbeschwert mit Anja unterhielt. Das gab ihm Wind in seine Segel, der ihn noch weit tragen sollte.

Nadine wiederum gestand sich ein, was nicht zu leugnen war: Anja tat ihrem Vater gut. So heiter und gelöst hatte sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ihre Sichtweise war nunmehr eine andere, als würde sie durch einen erweiterten Blickwinkel ihres Objektivs schauen und alles in einer neuen Großaufnahme und einem anderen Licht sehen. Sie konnte jetzt nachvollziehen, was ihr Vater fühlte. Ein Verständnis war entstanden, das ihren Ängsten den Raum nahm. Nadine war klar, dass er seine Liebe zu Anja unbeschwert ausleben wollte, doch es galt, noch ein paar Hindernisse bis zu diesem Ziel zu überwinden. Er musste nun hohe Hürden ohne eines seiner Pferde nehmen. Denn der heutige Samstag würde Gewitterwolken aus New York mit sich bringen, die sich über seinem Glück zusammenbrauten und in Form von Blitz und Donner entluden und ein Schlechtwettergebiet in seinem Heim entstehen ließen. Nadine zumindest war sich da sehr sicher.

Sie und ihr Vater hatten für ein paar Momente ausgeblendet, dass Rita noch an diesem Tag eintreffen würde. Das Kalenderblatt ließ aber keinen Irrtum zu: Heute war jener Samstag, der eine turbulente Zeit für die Familie Hansen einläuten könnte. Die Gewitterwolken aus Übersee würden nun in einem unaufhaltsamen Tempo nach Sylt aufziehen und die Insel bald erreichen.

Bernd dachte im Moment dasselbe wie seine Tochter. Sie sahen sich wissend an. Er wusste auch, dass seine Liebe zu Anja an diesem Wochenende auf eine harte Belastungsprobe gestellt werden könnte.

Wie würde seine Frau Rita reagieren, wenn sie von ihr erfuhr? Sollte man noch den Mantel des Schweigens über sie breiten? Weder Nadine noch ihr Vater wusste, ob Rita ihren Kopf nicht schon längst an die Schulter eines gestandenen Amerikaners lehnte und sie kein Problem darin sah, dass ihr Mann nun eine andere Herzdame hatte, die ihn mit Glück erfüllte. In Bernd flammte jetzt so stark wie nie zuvor der Wunsch nach einer Scheidung auf. Aber aufgrund des nicht vorhandenen Ehevertrags lag die Hemmschwelle zu diesem Schritt weiterhin sehr hoch.

Die Stimmung am Frühstückstisch kippte wieder.

Nadine ahnte, warum ihr Vater bisher nicht ernstlich ins Auge gefasst hatte, das Ende seiner Ehe offiziell zu besiegeln. Die Angst, sich gerichtlich mit Rita auseinandersetzen zu müssen, war wohl omnipräsent.

Anja nahm die veränderten Schwingungen am Tisch deutlich wahr. Die Leichtigkeit, die vorhin noch alle verspürten, war dahin. Sie konnte aber erraten, was gerade in den Köpfen von Nadine und ihrem Vater vorging.

Sie traute sich deshalb, eine kurze und prägnante Frage zu stellen: »Denkt ihr an Rita?«

Ein fast simultanes Kopfnicken von Bernd und Nadine war die Folge. Dass ein anderer Wind jedoch schon am Abend durch die Räume der Villa wehen würde, behielten beide für sich.

Der Zauber von Regen

Подняться наверх