Читать книгу Der Zauber von Regen - Liliana Dahlberg - Страница 6

Kapitel 2

Оглавление

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie noch nicht sofort ganz bei sich. Schlaftrunken fasste sie mit ihrer linken Hand auf die leere Bettseite und auf das Kissen, auf das Tom immer seinen Kopf gebettet hatte. Ihre Hand tastete ins Leere. Da wurde es Nadine mit einem Mal bewusst, dass sie sein Lächeln nicht mehr wiedersehen und ebenso wenig seine zarten Lippen spüren würde, mit denen er sie schon oft wach geküsst hatte. Da war wieder dieser stechende Schmerz. Sie richtete sich langsam auf und öffnete das Fenster ihres Schlafzimmers und hoffte inständig, dass die Welt heute anders aussehen würde. Eine frische Brise wehte ihr um die Nase, als sie die Vorhänge wegzog und sie beide Flügel ihres Fensters aufriss. Sie atmete tief ein und stellte fest, dass Sylt momentan noch von einer dicken Nebeldecke umhüllt war und zu schlafen schien. An manchen Fenstern hingen die Vorhänge wie schwere Augenlider und an vielen anderen verharrten Rollläden starr in ihrer Position.

Sie wollte warten, bis sich der Nebel lichtete und an der Uferpromenade und am Strand joggen gehen. Nadine zog sich an, wobei sie bewusst dezente Farben wählte und ihr langes Haar in einem Pferdeschwanz bändigte. Es musste irgendwie weitergehen. Sie war froh, dass sie heute erst spät ins Büro musste, um nur noch ein paar Zeichnungen anzufertigen. Sie wollte am liebsten freimachen und sich nicht an ihr Zeichenpult setzen, das sie oft mit Veronika teilte. Sie gab sicherlich nicht ihr allein Schuld am Ende ihrer Beziehung. Tom hatte auch seinen Beitrag dazu geleistet. Doch sie war von ihr angelogen und sehr enttäuscht worden. Aber wer hatte eigentlich wen verführt? Warum hatte Veronika keine Skrupel gehabt, ihre Liebe zu zerstören? Wie viel Kalkül und Berechnung hatten schon immer hinter Toms Lächeln gesteckt? Auf einige Fragen würde sie wohl nie eine Antwort bekommen. Es war so, als würde sie diese in den Kosmos hinausschicken.

Nadine wollte den Kopf freibekommen, und der Zentralstrand von Westerland bot die geeignete Kulisse zum Joggen und Entspannen. Ein Stück Alltag hinter sich lassen und — wenn auch nur für kurze Zeit — sich von Problemen lossagen. Das war das erklärte Ziel, dem sie sich mit jedem Schritt zu nähern glaubte.

Schon kurze Zeit später sah sie von der Uferpromenade auf das offene Meer, und ihr Blick verweilte für einen kurzen Moment bei den Wellenreitern, die die frühen Morgenstunden zum Üben nutzten, um ihre Kunststücke und ihr Können zu perfektionieren. Dann sah sie ein junges Paar, das allem Anschein nach ebenfalls zu den Frühaufstehern zählte. Vielleicht schätzten sie die Ruhe, die noch herrschte, bevor sich am Strand die ersten Touristen tummelten.

Die Insel konnte im Sommer immer mit zwei Meeren aufwarten. Einem, dessen Wellen vom Ozean an das Ufer schlugen, und einem, das aus Menschen bestand und vom Festland über den Hindenburgdamm flutartig auf die Insel angeschwemmt kam.

Nadine beobachtete das Paar näher. Die beiden wirkten sehr vertraut und lachten fröhlich. Sie warfen sich gegenseitig in die Wellen und tobten ausgelassen am Strand. Nadine holte tief Luft und schloss die Augen. Fast unvermeidlich dachte sie an Tom, mit dem sie so manchen romantischen Spaziergang über den feinen Sandstrand unternommen hatte. Verdammt! Wieder sah sie sein Lächeln vor Augen, das oft so verschmitzt und herzlich erschien. Als sie sich zum ersten Mal am Strand innig umarmt und er gesagt hatte, dass er sie nie mehr loslassen wolle und mit ihr den Hauptgewinn gezogen habe, mit seiner Hand durch ihr Haar gefahren war und mit der anderen über ihre Wange gestrichen hatte, hatte er das Funkeln in ihren Augen mit den Sternen am Nachthimmel verglichen. Dieser leuchtete zu diesem Zeitpunkt wolkenlos über Westerland. Nadine schrie nun laut innerlich: »Nein! Alles gelogen!«

Sie musste Tom durch eine Tür aus ihrer Gedankenwelt treten und verschwinden lassen. Eine Trennung für immer ohne Abschied oder ein nettes Wort. Er hatte es nicht anders gewollt und verdient.

Leicht gelöst und etwas positiver gestimmt, legte sie nun eine lange Strecke zurück. Der Sport hatte ihr gutgetan, und ein wohliges Gefühl verbreitete sich in ihrem Körper. Sie kehrte zur Uferpromenade zurück und ließ später auf der Arbeit alles ein wenig ruhiger angehen.

Lennart Petri hielt ihr gleich zu Beginn einen langen Vortrag über ein Passivhaus, das in Keitum entstehen sollte, und er erwartete, dass sie sich ganz und gar seiner Konstruktion widmete. Sein ernster Gesichtsausdruck unterstrich seine hohe Erwartungshaltung.

Nadine wusste somit, dass es galt, die Kräfte zu bündeln und auf diese Arbeit zu verwenden.

Lennart Petri ließ Sätze fallen wie: »Es wird Ihnen sicherlich keine Probleme machen, es auf Papier zu bringen.« Und: »Ihre Arbeit war wirklich in letzter Zeit außerordentlich.« Außerdem bezeichnete er sie noch als sein »bestes Pferd im Stall«. Sie war etwas überrascht darüber, dass nicht auch Veronikas Name fiel. Sie hatten schließlich fast immer im Team gearbeitet. Für den Moment war es ihr jedoch recht. Diese Zusammenarbeit würde wohl nicht mehr lange währen, denn die Basis, die man dazu brauchte, war Vertrauen. Das war schwer beschädigt und in einem Sumpf aus Lügen und Verletzungen versunken.

Nadine fühlte sich allerdings wenig von Lennart Petris Lob geschmeichelt, weil sie wusste, dass er sie damit für gewöhnlich auf berufliche Aufgaben einstimmte, die sie für Wochen absorbieren würden, und ihr eine arbeitsreiche Zeit bevorstand.

»Frau Hansen! Wie Sie wissen, müssen wir alle Opfer bringen, um das Schiff auf Kurs zu halten«, sagte Lennart Petri im Brustton der Überzeugung und fast schon ein wenig pathetisch.

Nadine fand, dass das Wort »Erfolgskurs« treffender war. Sie konnten sich schließlich über volle Auftragsbücher nicht beklagen. Sie wusste, dass es nun galt, das Privatleben zurückzustellen. Das war zwar das kleinere Problem, doch sie ahnte, dass sich ihre Leistungskurve in nächster Zeit wahrscheinlich nach unten bewegen und Lennart Petri darüber überrascht, wenn nicht gar enttäuscht sein würde. Wenn es nach ihm ginge, hätte Sylt eine zehnmal höhere Bevölkerungsdichte, und auf jedem freien Gelände stünde eines seiner Häuser, und nur Dünen- und Strandlandschaften blieben verschont. Er wirkte immer so ausgeglichen. Sein Platinring am Ringfinger verriet, dass er verheiratet war. Er trug ihn schon mehrere Jahre. Eigentlich konnte er nicht viel Zeit für seine Frau haben, denn er arbeitete oft bis spät in die Nacht und war immer sehr früh in seinem Büro anzutreffen. Lennart Petri war ein richtiger Workaholic.

Seine Ehe hat dieser Belastung bisher anscheinend standgehalten, dachte Nadine bewundernd.

Lennart Petri wetteiferte mit dem Architekturbüro Behrens um die größere Zahl der Projekte und Aufträge und wollte seine Führung in der Branche als unangefochtener Spitzenreiter ausbauen und das Bild von Sylts Siedlungen entscheidend architektonisch prägen. Die Zielvorgabe lautete, Häuser zu bauen, die sich gut in das Inselbild einfügten. Das ließ wenig künstlerische Freiheiten, und dennoch glaubte Lennart Petri, der Nachwelt seine Handschrift zu hinterlassen und sich ein Denkmal zu setzen.

Er hatte immer ein Leuchten in den Augen, wenn er das Büro betrat, genaue Visionen von seinen Projekten und erwartete großen Einsatz von seinen Mitarbeitern.

Nadine hatte nun die Möglichkeit, sich in ihre Arbeit zu flüchten. Das war aber nur so lange möglich, bis Veronika aus ihrem zweiwöchigen Urlaub zurückkehrte. Sie war froh, dass sie jetzt noch nicht mit ihr die Luft im Raum teilen musste, die bei ihrer Rückkehr sehr dünn werden würde.

Lennart Petri fiel auf, dass Nadine ein wenig bedrückt wirkte.

»Frau Hansen, Sie sehen ein wenig blass um die Nase aus. Ich hoffe nicht, dass ich Ihnen mit meinem Vortrag zu sehr zugesetzt habe«, sagte er scherzhaft und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.

»Es ist alles in Ordnung, Herr Petri«, erwiderte Nadine und wollte sehr gefestigt erscheinen.

»Habe ich mir schon gedacht«, meinte er erleichtert. Das Wohlergehen seiner Mitarbeiter lag ihm sehr am Herzen.

Nadine hätte ihn am liebsten gefragt, wie man eine eingestürzte Welt wieder errichtete. Bei Häusern war klar, was zu tun war. Kompetente Statiker und Bauunternehmer mussten beauftragt werden. Doch was machte man, wenn die eigene Welt in Scherben vor einem lag?

Sie schob den Gedanken beiseite und schaute aus dem Fenster ihres Büros, das der Südseite zugewandt war. Wärmende Sonnenstrahlen fielen durch die Scheiben und kitzelten sie an der Nase. Wie schön, dachte sie. Diese Strahlen kennen ihren Weg und finden ihn immer wieder von der Sonne auf die Erde. Fast schon beneidenswert, mit welcher Sicherheit sie sich ihren Weg bahnen. Sie wollte ihn auch wiederfinden, ihren Pfad, den es zu beschreiten galt, um das Glück wiederzufinden, das irgendwo da draußen auf sie wartete. Es war vielleicht nicht auf direktem Weg erreichbar, sondern nur auf Umwegen, doch sie würde sich nicht scheuen, ihn zu gehen. Gewiss nicht. Es gab sicherlich auch einen Weg aus der Sackgasse, in der sie sich gerade befand.

Sie wandte sich ihren Aufgaben zu und war froh, dass sie den größten Teil ihrer Arbeit beendet hatte, als sich ihr Feierabend näherte. Hoch konzentriert waren die nötigen Zeichnungen entstanden, um Lennart Petri ein strahlendes Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Zufrieden zückte dieser seine alte Taschenuhr und verkündete voller Stolz: »Wir befinden uns gut in der Zeit! Alles läuft nach Plan!«

Er war mit seiner Garderobe sehr konventionell. Er trug einen dunklen Cordanzug, und darunter glänzte sein seidenes Hemd. Darin verborgen lag jenes Erbstück, auf das Lennart Petri unter keinen Umständen verzichten wollte: seine goldene Taschenuhr. Sie zeigte einst seinem Großvater die Uhrzeit an — und in seinen Augen sogar mehr. Er war davon überzeugt, dass ihm diese auch als wichtiger Orientierungspunkt diente und ihm half, die richtigen Entscheidungen zur rechten Zeit zu treffen. So war sich Lennart Petri sicher, dass man von ihrem Zifferblatt mehr als einfach nur die Uhrzeit ablesen konnte. Es war nur die Kunst, die Stellung der Zeiger richtig zu deuten.

Er erzählte den Menschen, die es interessierte, die Geschichte zu diesem Erbstück.

Es war sein Großvater, der es seinem Sohn zu dessen Volljährigkeit schenkte, ihm tief in die Augen blickte und sagte: »Mein Junge, das, was du hier siehst, ist mehr als nur eine gewöhnliche Uhr. Sie soll ab jetzt dein stetiger Wegbegleiter sein. Ich weiß, wie wichtig in unserer Gesellschaft der richtige Umgang mit der Zeit ist. Aus diesem Grund schenke ich dir diese Taschenuhr, damit du wichtige Momente in deinem Leben nicht versäumst. Lass dich von ihr leiten.« Mit diesen Worten legte er seinem Sohn die Taschenuhr mit ihren goldenen und leicht verschnörkelten Zeigern und ihrem römischen Zifferblatt in die Hand. Das Licht fiel auf die Uhr und ließ sie in einem besonderen Glanz erstrahlen. Lennart Petris Vater glaubte seit diesem Tag und mit dem Eintritt in das Erwachsenenleben, einen wichtigen Schatz von unmessbarem Wert geschenkt bekommen zu haben. Er hütete ihn wie seinen Augapfel. Auch hallte ihm der Satz in den Ohren, den sein Vater bezüglich der Uhr auch noch an ihn gerichtet hatte. »Weißt du einmal nicht mehr weiter, sieh auf mein Geschenk, und dir wird klar, was zu tun ist.« Es mochte übertrieben erscheinen, dass einem bei dem Anblick dieser Uhr auf eine Fülle von Fragen viele Antworten in den Kopf kamen, doch Lennart Petris Vater war davon überzeugt, gab den Glauben an die besondere Bewandtnis seiner Taschenuhr an seinen Sohn, Nadines Chef, weiter und überreichte sie ihm, als er vor seinem Examen im Architekturstudium stand. Lennart Petri bestand die Prüfung mit Auszeichnung und maß seitdem dem Schmuckstück eine große Bedeutung bei. Er betrachtete es aus genau den gleichen Augen wie jene Familienmitglieder, die vor ihm schon die Uhr aus ihrer Tasche zurate gezogen und den besonderen Zauber gespürt hatten, der von ihr ausging. Es steckte wahrlich ein Stück Weisheit in dieser Uhr — und viel Tradition der Familie Petri.

Nadine blickte ebenfalls auf ihre Uhr. Es war gleich sechs und ihr Feierabend so gut wie gekommen. Früher hatte sie sich immer auf ihn gefreut und darauf, ihre Wohnung zu betreten. Doch nun herrschte bei diesem Gedanken eine unsagbare Leere vor. Sie schritt schließlich, als der kleine und der große Zeiger die entsprechende Position eingenommen hatten, aus der Tür und die Friedrichstraße entlang. Nadine verlor sich ein wenig in den Schaufenstern der Geschäfte. Sie beäugte neben ein paar braunen Boots einen sehr dicken Wintermantel, der sich schon in die Boutique, vor der sie stand, verirrt hatte. Nadine überlegte, sich ihn in der weisen Voraussicht zuzulegen, dass ihr wohl der kälteste Winter, den sie seit Langem erlebt hatte, bevorstand. Vielleicht konnte er ihr auch ein wenig das Herz wärmen. Nun betrachtete sie noch ihr eigenes Spiegelbild. Es wirkte traurig. Ihre Gesichtszüge sahen so regungslos aus wie die der Schaufensterpuppen. Diese präsentierten sich ihrem Sylter Publikum in der neuen Herbstkollektion und klärten darüber auf, was Mann und Frau in der kommenden Jahreszeit unbedingt zu tragen hätten. Nadine ermutigte sich zu einem Lächeln. Es war schließlich sonst nicht ihre Art, in Selbstmitleid zu zerfließen.

»Nur Mut!«, sagte sie halblaut und dachte: Du kannst auch anders!

Sie zog ihre Mundwinkel leicht nach oben. Nun reflektierte die Fensterscheibe ein anderes Bild, das viel besser zu ihrem schönen Gesicht und ihren langen blonden Haaren passte.

Noch jemand war Zeuge dieser Veränderung geworden. Plötzlich erklang eine vertraute Stimme hinter ihr: »Gut so, Nadine! So gefällst du mir schon viel besser.«

Sie drehte sich ruckartig um und blickte in das gutmütige Gesicht ihres Vaters.

»Schön, dass ich dich hier finde! Ich wollte dich von der Arbeit abholen. Doch ich war wohl ein wenig zu spät dran. Hab mir aber gedacht, dass ich dich hier auf der Flaniermeile sehe. Aber glaubst du, dass diese Schaufensterpuppen eine gute Gesellschaft sind? Ein bisschen wortkarg, nicht?« Er lächelte sie liebevoll an: »Wie stehen die Aktien, Liebling?«

»Du meinst, nach dem Börsenkrach?«, fragte Nadine. Ihr Gesicht verdüsterte sich erneut ein wenig. »Nun, ich kann dir nur sagen, dass Tom anscheinend eine totale Fehlinvestition war und Veronika eine falsche Spekulantin.«

»Dachte ich mir, aber wie wär’s, wenn du mir bei einer etwas stumpfsinnigen Aufgabe hilfst?«

»Die da wäre?«

»Nun«, begann er schmunzelnd, »Götter soll man doch bekanntlich friedlich stimmen …«

»Du kleiner Witzbold. Du redest von Mama«, erriet Nadine.

»Ja, Engelchen. Ich dachte mir, um sie gütig zu stimmen und eine neue Eiszeit zu verhindern, wenn wir aufeinandertreffen, dass ich ihr den Pelzmantel kaufe, den sie sich schon seit Weihnachten wünscht. Ich habe das bisher aus Prinzip nie gemacht. Aber nun ja …«

»Wir haben nach sechs, Paps, ich glaube nicht, dass ein geeignetes Geschäft noch aufhat«, sagte Nadine überrascht.

»Hab ich’s doch gewusst«, meinte ihr Vater sichtlich erleichtert und sogar erfreut. »Dann muss der Herzenswunsch deiner Mutter noch eine Weile warten. — Übrigens, Nadine …«, es kam zu einer kurzen Pause, »ich weiß schon, dass du ein großes Mädchen bist, aber es ist für mich kein gutes Gefühl, dich jetzt in deiner Wohnung alleine zu wissen.«

Ein Angebot, das sie gestern noch ausgeschlagen hatte, nahm sie jetzt dankend an. Ja, sie würde einige Tage in ihrem alten Kinderzimmer und in ihrem Elternhaus verbringen.

Es war für sie ein großes Glück, dass sich ihre Mutter damals nicht durchsetzen konnte und das Zimmer in keinen begehbaren Kleiderschrank verwandelt hatte. Sie war zwar nur schwer davon abzubringen gewesen, da sie fand, dass all ihre Designerkleider einen gebührenden und vor allem viel Platz benötigten. Ihr Mann konnte ihr jedoch versichern und sie davon überzeugen, dass sie sich in ihrem alten Kleiderschrank im Schlafzimmer genauso wohlfühlen würden und sie keine Platzängste ausstehen müssten.

Nadine verbrachte einen schönen Abend mit ihrem Vater in seiner eindrucksvollen Villa etwas abseits in Kampen. Er sagte seinen Besuchern immer scherzhaft, die ihn dort in seinem Heim aufsuchen wollten und den Weg nicht kannten, sie bräuchten kein Navigationssystem, sondern sollten sich ganz auf ihre Nase verlassen. Sie müssten einfach dem Geruch von Geld folgen. Glaubten sie, seine höchste Konzentration erreicht zu haben, sei es zu ihm nicht mehr weit.

Man sollte sich von dem Äußeren des gigantischen Gebäudes nicht täuschen lassen. Das Reetdach und der etwas kühl anmutende weiße Anstrich ließen nämlich nicht erahnen, dass es im toskanischen Stil eingerichtet war und man wirklich das Gefühl hatte, etwas von der Sonne der Toskana in das Herz hineinzulassen, sobald man es betrat und dieses besondere italienische Flair verspürte. Helle und warme Farben dominierten das Anwesen. Es zog insbesondere Italienliebhaber unweigerlich in seinen Bann, und Wohlbehagen machte sich breit.

Nadine saß mit ihrem Vater beisammen, und sie aßen ihr Leibgericht: Spaghetti mit Pesto. Dazu tranken sie einen Spätburgunder. Sie redeten von früher, als noch ein Mädchen mit lauter Sommersprossen und Zahnlücken durch die Zimmer rannte und die Welt mit großen Augen und viel Neugier erkundete.

Ihr Vater erinnerte sich gut an diese Zeit und stellte fest: »Diese unglaubliche Neugier, die schon aus dir sprach, als du deine ersten Schritte hier unternommen hast, ist dir nie verloren gegangen. Versprich mir, dass du sie dir auch in Zukunft bewahren wirst.«

»Mach dir da keine Sorgen«, beruhigte ihn Nadine leicht gerührt, »die behalte ich wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug.«

Sie hätte es vor ein paar Stunden noch nicht für möglich gehalten, doch die gute Stimmung, die herrschte, ließ es zu. Sie fingen an, über kleine und große Makel ihrer ehemaligen Verehrer und Liebhaber Witze zu machen, und sogar Tom wurde Opfer ihrer Belustigung.

Ihr Vater sagte: »Weißt du noch? Dieser Jens, der Jura in Hamburg studiert hat. Sein gerader Scheitel und diese Segelohren waren doch ein lustiger Anblick. Er war auch immer so blass um die Nase. Wahrscheinlich, weil er zu viel in Gesetz- und Lehrbücher geschaut hat. Und gesprochen hat er! Der hat es fertiggebracht, Sätze so unheimlich kompliziert auszudrücken. Richtiges Beamtendeutsch. Als er mir einmal mitteilen wollte, warum er nicht zu meinem 50. Geburtstag kommen kann, hab ich ihn kaum verstanden. Ich glaub, das war so eine Masche von ihm. Er wollte nicht verstanden werden, besonders dann, wenn er keine griffige Ausrede parat hatte.« Er begann zu lachen.

Nadine wollte erst widersprechen, doch dann stimmte sie lauthals mit in das Gelächter ein. Sie war es sogar, die schnell das nächste Opfer ihrer fröhlichen Unterhaltung fand.

»Erinnerst du dich? Da war doch Frederik von dieser Versicherungsgesellschaft. Sein Blick war auch immer recht ernst. Er hat mich damit um den Finger gewickelt, dass er mein persönlicher Schutzengel sein wollte.«

Ihr Vater ergänzte: »Eigentlich eine ganz gute Versicherung. Dir hat er ja auch nicht versucht, all diese Policen aufzuschwatzen. Ich muss gestehen, dass es da ein paar wichtige gab. Doch die er mir versucht hat anzudrehen, waren einfach lächerlich und vollkommen unnötig.« Ihr Vater fungierte wieder einmal als Stimmenimitator und veralberte nun Finn, der im Gegensatz zu Jens zu viel Zeit in der Sonne verbracht hatte und den Eindruck erweckte, als sei er Inhaber eines Sonnenstudios oder Surflehrer. Er war aber Industriekaufmann. Finn hatte jedoch so seine Probleme mit dem einfachen Dreisatz und der Zinsrechnung. Er sprach mit unglaublich tiefer Stimme.

Ihr Vater tat sein Bestes, um dessen Stimmlage genau zu treffen. »Schatz, hast du meine Sonnencreme irgendwo gesehen? Ich kann sie nirgends finden. Außerdem beeil dich bitte, wir müssen schließlich die letzten Sonnenstunden ausnutzen, die uns noch bleiben.«

Nadine pflichtete ihm bei: »Seine Sonnencreme war ihm wirklich sehr wichtig. Sie lag anstatt einer Autokarte in seinem Handschuhfach. Er wollte, dass seine Haut einen edlen Kupferschimmer annahm und sich von seinem strohblonden Haaren abhob. Er hatte ein starkes Körperbewusstsein …«

Ihr Vater sagte entschieden: »Das ist ja in Ordnung. Bei ihm war das aber schon ein richtiger Körperkult. Er war schon sehr eitel. Die Wohnung von deinem Schokoprinzen war ja der reinste Spiegelsaal. Versailles ist nichts dagegen.«

»Jetzt übertreibst du aber und tust dem armen Finn unrecht«, entgegnete Nadine mit gespieltem Ernst, »er wollte eben sichergehen, dass er in jeder Perspektive gut aussieht. Ein wenig skurril, zugegeben. Aber so viele Spiegel waren es nun auch wieder nicht«, wiegelte sie ab.

»Ich hatte einen anderen Eindruck, als ich einmal bei ihm war. Du als Frau hast dich bei ihm wahrscheinlich immer sehr wohlgefühlt«, sagte ihr Vater neckisch und hielt sich nun die Seiten vor Lachen.

Nadine schloss sich ihm an, und so war der ganze Raum wieder von freudigem Gelächter erfüllt.

Sie sagte dann aber etwas nachdenklich: »Einmal hat er mich aber auch zu Tränen gerührt. Ich habe ihn nämlich im Spaß nach einem Sonnenuntergang gefragt, ob er jetzt ein wenig melancholisch würde. Er hat dann geantwortet: ›Nein, du bist doch da. Du strahlst schließlich auch noch für mich an verregneten Tagen und in der Nacht. Ich bin wie ein kleiner Planet, der um dich kreist.‹«

»Schön romantisch«, entgegnete ihr Vater, »er war wohl auch ein kleiner Poet und hätte beruflich umsatteln sollen.«

»Was er jetzt wohl macht?«, überlegte Nadine. »Ich habe ihn lange nicht gesehen. Vielleicht würden sich die Chancen erhöhen, ihm wieder zu begegnen, wenn ich täglich mehrere Stunden an Sylts Stränden wäre.«

»Ich glaube, dass unser Sonnenanbeter schon längst auf einer Pazifikinsel sein Glück sucht und den Nordlichtern den Rücken gekehrt hat«, widersprach ihr Vater bestimmt.

»Da magst du recht haben«, sagte Nadine lachend, »er ist jetzt wahrscheinlich von Südseeschönheiten umgeben und trinkt genüsslich Milch aus einer Kokosnuss.«

Nun gab es einen Menschen, den sie bisher nicht erwähnt hatten und der noch kürzlich der Mann an Nadines Seite und deren große Liebe gewesen war.

Ihr Vater zögerte kurz, ehe er die Abrechnung der besonderen Art begann: »Tom, ein Mann, über den man wohl kein nettes Wort mehr verlieren kann. Dieser alte Charmeur und Schwerenöter. Hat den liebenswerten Verlobten gespielt und bei mir brav um deine Hand angehalten und mir versichert, dass er dich nur glücklich machen wolle. Wenn ich daran denke, dass all sein Getue nur Fassade war, wird mir schon schlecht, und das bei diesem leckeren Essen.« Er deutete mit seinem Zeigefinger auf den Spaghettiberg, der aus dem auf dem Teakholztisch thronenden Kochtopf ragte. »Ich kann dazu nur sagen: Wenn der Vorhang fällt …« Man merkte, dass er ärgerlich wurde und seine Augenbrauen näher zusammenrückten. »Kaum zu glauben, dass die Vermögensabteilung in dieser Bank sein Ressort ist. Denn er hat zweifelsohne selbst das größte Vermögen verspielt, das er je hatte.« Er schaute seine Tochter eindringlich an.

Nadine lächelte geschmeichelt und war etwas verlegen. »Eine Sache hat nur so viel Wert, wie man ihr beimisst. Er muss schon lange aufgehört haben, mich zu lieben. Ich glaube, dass er mich wie ein altes Möbelstück betrachtet hat, an das man sich gewöhnt hat.«

»Engelchen, du willst dich doch nicht etwa mit altem Mobiliar vergleichen?«, fragte ihr Vater etwas erschrocken.

»Ich meine doch nur, dass vielleicht aus Liebe einfach Gewohnheit geworden ist. Wahres Gift für eine Beziehung …«

»Nadine, ich denke, dass Tom mit Menschen und ihren Gefühlen nur Schach spielt. Veronika ist auf seinem Brett wahrscheinlich auch nur eine Figur, der er sich bald entledigen wird. Unser Möchtegern-Don-Juan bereitet sicherlich schon seinen nächsten Zug vor.«

Der Zauber von Regen

Подняться наверх