Читать книгу Die Sklavin im Zug - Lilo David - Страница 10

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Stürmische Zeiten

»Haben Sie auch manchmal das Gefühl, ein Fremder im eigenen Körper zu sein? Wenn ja, werden Sie sicher verstehen, warum ich all das tat, was mich damals auf seltsame Weise tief in meiner Seele berührte. Es ergriff mich, gleichzeitig ängstigte es mich aber auch maßlos. Und dennoch würde ich diesen Weg wieder und wieder gehen, nur um zu erkennen, welcher Mensch ich wirklich bin.

Ich weiß nicht mehr genau, zu welchem Zeitpunkt ich anfing, dieses fremde Gefühl in mir zu spüren. Anfänglich war es nur winzig und von so einer Zartheit, dass ich es kaum wahrnahm. Doch mit der Zeit wuchs es heran und nahm immer mehr Besitz von mir. Waren es zunächst nur kleine Tagträume, die mir ab und an sogar sehr willkommen waren, so verwandelten sich diese jedoch im Laufe der Monate zu nächtlichen Szenarien. Öfter als mir lieb war, wachte ich schweißgebadet aus meinen Träumen auf.

Irgendwann war es dann so weit gekommen, dass ich morgens aufstand, daran dachte, und mit demselben Gedanken am Abend wieder ins Bett ging. Während andere Schlafende von süßen Träumen durch die Nacht getragen wurden, kämpfte ich Nacht für Nacht mit meinen eigenen dunklen Dämonen einen aussichtslosen Kampf.

Die Erkenntnis, eine devot veranlagte Frau zu sein, wog schwerer, als ich dachte. Keiner möchte anders als die anderen Menschen sein. Und doch erkannte ich ganz klar, dass sich meine Moralvorstellungen von Grund auf änderten und nichts so blieb, wie es einst war. Als ich ganz bewusst erkannt hatte, zu welcher Sorte Frau ich zählte, war dies zunächst ein Schock. Entsetzt über die eigenen Wünsche und Gefühle, schwebte ich wie in einem Dämmerzustand durch die folgenden Tage. Immer hoffend, dass alles nur ein böser Traum war, aus dem ich jederzeit erwachen konnte. Und dann stellte ich plötzlich fest, dass es nicht wie eine unangenehme Krankheit wieder verschwand, sondern tief in mir festsaß, und nichts an dieser Tatsache je wieder etwas ändern konnte. Als ich an diesem Punkt angelangt war, hatte ich keine große Wahl. Entweder ich nahm den Kampf auf und suchte nach meinem wahren Ich, oder ich kapitulierte vor dem, was in mir gärte.

In jedem Fall war die Entscheidung nicht einfach, und ich wusste nie, welchen unbekannten Seelen ich auf meiner Reise zu mir selbst begegnete. Aber sich nicht dafür zu entscheiden, hätte bedeutet, mich zu verleugnen. Und wer, so frage ich, möchte dies ein Leben lang tun? Niemand. Und so blieb auch mir nichts anderes übrig, als meinen Weg zu gehen. Im Grunde habe ich nicht allzu viel darüber nachgedacht, wie ich mein neues Leben beginnen sollte. Ich tat einfach das, was mir in diesem Fall am sinnvollsten erschien.

Wir leben in Zeiten der modernen Technik. Das, was wir real nicht finden, bietet uns die unerschöpfliche Welt des Internets. Für sämtliche Wünsche, selbst wenn sie noch so ausgefallen waren, ließen sich geeignete Plattformen finden. Die Suche nach einer entsprechenden Kennenlernbörse stellte sich als nicht allzu schwierig heraus. Eigentlich hatte ich nur vor, in den diversen und zahlreich vorhandenen Profilen registrierter Mitglieder zu stöbern; und plötzlich, einer inneren Eingebung folgend, gelangte ich dann doch zur Anmeldung.

Mein Profil war schnell erstellt. Über mich gab es nicht viel zu schreiben. Das, was man unbedingt angeben musste, war rasch getippt. Während ich also wahrheitsgemäß meine Angaben machte, spürte ich, wie einfach es mir im Netz fiel, intime Details über mich preiszugeben. Was sollte schon großartig passieren? Immerhin war ich ein Mitglied unter vielen, nichts Besonderes. Mit meinem gewählten Nick ›Fleur de Marie‹ war ich für niemanden aus meinem Bekanntenkreis erkennbar. Als Bild wählte ich eines, das ein Freund im vergangenen Sommer von mir während eines Besuches im Hyde Park geschossen hatte. Es zeigte mich im Profil, was meiner Ansicht nach auch völlig ausreichend war. Für mehr fehlte mir der Mut – vielleicht auch deshalb, weil ich nicht von jedem Mann angeschrieben werden wollte. Ich suchte keinen einfältig dominanten Mann und auch keinen Chauvinisten. Derjenige, mit dem ich die Reise in unbekannte Gefilde beginnen wollte, sollte kultiviert, intelligent, Mitte Dreißig und in gewisser Weise meinen Vorstellungen entsprechen. Dazu sollte er den Wert einer devoten Frau zu schätzen wissen, ganz einfach.

Als ich unter der Rubrik ›Was suchen Sie?‹ meinen Wunsch formulierte, dass ich einen Mann mit den gerade genannten Eigenschaften suchte, fühlte ich mich auf eine eigenartige Weise ziemlich mutig. Mutig deshalb, weil ich eigentlich von dem, was ich glaubte zu sein, absolut noch keine Vorstellung hatte. Und schon gar nicht wusste ich, wie es zwischen dominanten Männern und devoten Frauen ablaufen würde. Dennoch schlief ich in dieser Nacht tief und fest und erwachte am nächsten Morgen wie neugeboren auf. Es war wohl so, dass ich die nächtlichen Dämonen in mir durch meine Tat beruhigt hatte, sie ließen mich fortan in Ruhe.

Von diesem Tag an lag mein vorrangiges Bestreben darin, mich gleich nach der Arbeit an den Computer zu setzen und in mein Postfach der Internetseite zu schauen. Mit einer fast kindlichen Neugierde und einem unbeschreiblichen Hochgefühl öffnete ich meine Mailbox. Jedes Mal war ich erneut überrascht, wie viele Männer mir geschrieben hatten. So auch an jenem Tag, von dem ich nicht ahnte, dass er mein Leben verändern sollte.

Wie jeden Tag seit meiner Anmeldung quoll mein Postfach förmlich über. In den ersten zwei Wochen las ich jede Mail vollständig und aufmerksam durch und schrieb stets eine lange Antwort zurück. Doch als die erste Euphorie wie ein Strohfeuer verglommen war, lernte ich bald, zwischen den Zeilen zu lesen. Ich erkannte, welche Absicht wirklich hinter der Nachricht steckte. Nicht jeder Mann, der von sich behauptet, dominant zu sein, war es am Ende auch wirklich.

Viele Männer suchten lediglich eine schnelle Nummer. Sie waren dem Irrglauben erlegen, dass es sich bei einer devoten Frau um ein willfähriges Wesen handelte, die jederzeit bereit war, sich einem Mann hinzugeben. Diese Männer nutzten derartige Seiten für sich aus. Dabei war das, was devote Frauen ausmachte, so einzigartig und wundervoll, dass nur die wahren dominanten Männer es zu schätzen wussten und sich dementsprechend verhielten. Nicht der schnöde Beischlaf machte uns zu Untertanen des Mannes. Es war das Zusammenspiel aus Leidenschaft, Machtausübung und dem Willen, einem einzigen Mann mit Haut und Haaren zu gehören.

Trotzdem machte ich es mir zum Prinzip, jede Mail zu lesen, zum einen aus Neugierde und zum anderen, weil sich darunter oft genug auch Exemplare mit kolossalem Unterhaltungswert befanden. Wer amüsiert sich nicht über Sprüche wie: »Du wirst vor meiner Dominanz zu Kreuze kriechen!« oder: »In mir hast du deinen Herrn gefunden. Ich erwarte, dass du mir demütig und respektvoll antwortest«? Einmal schrieb mir sogar jemand, ich sollte ihn bitten, mich zu treffen, und vielleicht würde er mir in seiner wohlwollenden Güte eine Audienz gewähren.

Also ehrlich, was bildeten sich diese Männer bloß ein? Glaubten sie ernsthaft, dass man aufgrund ihrer wenigen Zeilen oder dem Wissen, devot zu sein, augenblicklich auf die Knie fällt und Männchen macht? Man ist doch keine Ware, die sich zum Verkauf anbietet! Überhaupt, um sich jemandem hinzugeben, wie wir devoten Frauen es taten, musste schon mehr als ein profaner Befehl gegeben werden. Auch sexuell unterwürfige Frauen wollen erobert werden, das ist nicht anders wie auch sonst im Leben.

Ich habe immer darauf gewartet, dass sich jemand wirklich für mich interessiert. Und zudem sollte er es verstehen, meine Sinne und mein Interesse durch die richtigen Worte zu wecken. Doch je mehr ich darauf wartete, desto ernüchternder wurde mein Bild davon, wie wenig dominante Männer sich wirklich für die Frau hinter dieser Neigung interessierten. Den meisten ging es nur um das Eine: um den Sex und inwieweit du dich ihnen unterordnen wolltest. Bei manchen hatte ich sogar den Eindruck, als wäre ich Kandidatin einer Quizsendung. Wie vom Band spulten sie ihren Fragenkatalog nach Tabus und Vorlieben ab, und ich brauchte nichts weiter tun, als mit Ja oder Nein zu antworten. Warum ich so bin, wie ich bin, welche Musik ich mag, und ob mir Spaziergänge im Mondschein ebenso gefallen wie die bei strahlendem Sonnenschein, das alles war völlig unwichtig. Hauptsache, ich entsprach ihren sexuellen Vorstellungen. Ich meine, was ging in den Köpfen dieser Männer vor? Was dachten sie, wenn sie einem schrieben, dass Aussehen, Bildung und ein besonderer Lebensstil nicht die Kriterien waren, nach denen sie auswählten?

Mir war alles wichtig. Ich wollte einen Mann, der mir gefiel, mit dem ich reden konnte und mit dem mich mehr verband als eine gemeinsame Vorliebe. Und dann, eines Tages, geschah doch das Wunder, von dem ich glaubte, dass es niemals passieren würde. Ich erhielt eine Nachricht, die mir schon während des Lesens den Atem nahm. Schon zu Beginn spürte ich ganz deutlich dieses anfänglich leise und dann immer stärker werdende Kribbeln, das einfach nicht wieder aufhören mochte. Und ehe ich mich versah, hatte es mich von Kopf bis Fuß erfasst. Ich kam mir vor, als säße ich inmitten eines Ameisenhaufens, und nichts konnte mir dieses Gefühl erträglicher machen. In einem Moment spürte ich die Hitze, und schon im nächsten Augenblick lief es mir kalt den Rücken herunter.

Dabei schrieb er mit keinem Wort etwas über künftige gemeinsame und ausschweifende Abenteuer. Nein, er schrieb von einem langsamen Kennenlernen, vom Aufbau gegenseitigen Vertrauens, von Achtung und Respekt – und davon, dass dies gleichermaßen für uns beide gelten sollte. Victor, so hieß der Mann, hielt Devotion für ein Geschenk, das man sich als dominanter Mann erst verdienen musste. Er ließ keinen Zweifel daran, dass eine Frau erst durch ihre Devotheit interessant wird und allein durch diese ihre wahre Bestimmung als Frau finde. Eine andere Lebensform als die zwischen Herrn und Untergebener war für ihn nicht lebenswert.

Er suche keine gleichberechtigte Partnerin, sehr wohl jedoch eine gleichwertige Frau, die, erfüllt durch ihre Neigungen, mit ihm ein Leben teilen wollte; und während ich Zeile für Zeile las, hatte ich das Gefühl, als würde dieser Mann mir mitten in meine Seele schauen. Im Grunde suchte ich nichts anderes als einen Mann wie ihn – einen Mann, der mich liebte, dem ich vertrauen konnte und der mir das Gefühl gab, dass das, was ich bin, gut und richtig ist.

Wie oft ich diese Mail letztlich las, weiß ich nicht mehr. Aber da ich am Ende alles auswendig konnte, musste es wohl doch einige Male gewesen sein. Ich empfand nicht den Inhalt seiner Mail als seltsam, dafür aber das Gefühl, mich anscheinend zu einem völlig Fremden hingezogen zu fühlen. Ich schenkte ihm, ohne seinen Charakter wirklich zu kennen, einen Vertrauensvorschuss. Alleine durch das Lesen der Nachricht fühlte ich mich ihm so nahe, dass ich es kaum erwarten konnte, ihn kennenzulernen. Für mich schien er der Inbegriff von allem zu sein, wonach ich suchte. Dennoch wartete ich bis zum nächsten Tag, um ihm eine ebenso deutliche Antwort zu schreiben.

Seine Zeilen hatten mich ernsthaft durcheinandergebracht; das lag auf der Hand. Aber sie hatten mich doch dazu gebracht, zum ersten Mal wirklich darüber nachzudenken, warum ich unbedingt ein Leben als Sklavin führen wollte. Bislang war ich nur meinem Gefühl und dem unbändigen Willen, es unbedingt leben zu wollen, gefolgt. Die Frage nach dem Grund hatte ich mir nie gestellt. Mit meiner Antwort wollte ich ein für alle Mal klarstellen, wie ernst mir die Sache war. Es war eben nicht nur eine Laune oder innere Eingebung. Es war so viel mehr als das. Und langsam bekam ich eine Ahnung davon, wie quälend ein Leben war, in dem man seine Neigung nicht ausleben konnte.

Am Ende brauchte ich über eine Stunde für die Antwort; und ich wusste nicht einmal, ob sie auch wirklich all das, was ich dachte und fühlte, widerspiegelte. Dass ich ein Leben als Sklavin wollte, lag nicht daran, dass ich mir nicht vorstellen konnte, ein normales Leben zu führen. Vielmehr war es die Gewissheit, dass mir immer etwas fehlte.

Meine Selbstaufgabe, die es zweifelsohne für andersdenkende Frauen darstellte, bedeutete für mich, meiner eigenen Seele so nah wie nur irgend möglich zu sein. Auf einmal lag alles so einfach und klar vor mir. Meine Unzufriedenheit, die ständige Suche nach dem passenden Mann und meine zutiefst empfundene Melancholie. All das lag darin begründet, dass mein Unterbewusstsein nach etwas gesucht hatte, das immer in mir war. Es begleitete mich schon so lange als stummer Schatten, so dass ich es gar nicht mehr wahrgenommen hatte.

Endlich wusste ich, warum mich meine Träume quälten und weshalb ich mir schon als Teenager Dinge ausgemalt hatte, die ich niemandem offenbaren konnte. Das Wagnis, und das war es zweifelsohne, mich einem solchen Leben hinzugeben, war ebenso ein Schritt zum eigenen Selbst. Das Dienen und Gehorchen und mein Wunsch, einem Mann zu Diensten zu sein, würde mich glücklicher machen als alles andere auf der Welt. Das wusste ich jetzt. Ich wollte nicht nur lieben, wie man als Frau einen Mann liebt. Nein, ich wollte mich ihm mit Haut und Haar verschreiben und seine Wünsche über die meinen stellen. Endlich hatte ich den Mut, meine Träume Wirklichkeit werden zu lassen. All das schrieb ich ihm. Denn ich wusste, meine nächtlichen Fantasien kamen durch Victor zum Greifen nah. Ich sah mich, nackt und nur an einer Kette gehalten, von ihm durch einen menschenleeren Raum geführt. Er führte mich meiner Bestimmung zu, er erfüllte meine Sehnsucht nach Benutzung und Schlägen.

Dieses Sehnen hatte mich nie losgelassen und würde mich wohl mein Leben lang begleiten. Ich hoffte inständig, er würde derjenige sein, der am Ende mein unerfülltes Verlangen stillte. In dieser Nacht schlief ich unruhig, träumte unzusammenhängendes und wirres Zeug, sah Ketten und Peitschen, die für mich bereitgehalten wurden. Ich wachte am nächsten Morgen früh auf, und mein erster Gedanke galt bereits ihm.

Noch bevor ich ins Bad ging, dachte ich daran, den Computer einzuschalten, um nachzusehen, ob er mir bereits geantwortet hatte. Dass ich es nicht tat, lag daran, dass ich einen Hauch von Furcht verspürte, keine Antwort vorzufinden – oder, meine leise Angst, ich fände eine Antwort, die mir am Ende nicht gefiele.

Eilig verließ ich an diesem Morgen meine Wohnung. Ich war froh, mich durch meine Arbeit ein wenig ablenken zu können. Allerdings erwies sich diese Hoffnung als Trugschluss, da ich den ganzen Tag unfähig war, an etwas anderes als an ihn zu denken. Immer wieder begann ich meine Arbeit von neuem. Nachdem ich einen Brief dreimal schreiben musste, bis er fehlerfrei war, was mir sonst nie passierte, war mein Chef ziemlich ungehalten. Ich hatte noch ein paar Überstunden abzubummeln, und somit gab er mir den restlichen Tag frei. Rasch, dem geschäftigen Treiben um mich herum gegenüber völlig blind, eilte ich nach Hause. Selbst einen alten Bekannten, den ich durch Zufall auf dem Weg zur Bahn traf, speiste ich ungehalten und mit harschen Worten ab. Das bedauerte ich im gleichen Augenblick, aber es war eben geschehen, ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Damals war mir nichts wichtiger, als so schnell wie möglich nach Hause und an den Computer zu kommen.

Schnell ging ich die Liste meiner neuen Mails durch, bis ich endlich auf seinen Namen stieß. Vor lauter Freude hätte ich an die Decke springen können, und das, obwohl ich mir nicht mal annähernd vorstellen konnte, wie seine Antwort ausfallen würde. Aber anscheinend reichte sein Name schon aus, um mich in einen Zustand ausgelassener Euphorie zu versetzen.

Mein Glücksgefühl verstärke sich noch erheblich mehr, als ich seine Antwort las. Er schrieb: ›Wenn dem so ist, kannst du dich beruhigt in meine Hände begeben.‹ Natürlich schrieb ich sofort zurück. Aus Furcht, nicht schnell genug auf eine etwaige neue Mail reagieren zu können, blieb ich voller Spannung vor dem Bildschirm sitzen. Als nach einer Stunde noch keine neue Nachricht von ihm da war, rührte ich mich noch immer nicht vom Fleck, und hätte mein Magen nicht vor Hunger rebelliert, wer weiß, wie lange ich wirklich noch wartend dagesessen hätte.

Um mich abzulenken, schaltete ich den Fernseher ein. Müßig schaltete ich von einem Programm zum nächsten; nichts konnte mein Interesse wecken. Immer wieder stand ich auf und ging zu meinem Computer, nur um erneut festzustellen, dass er mir immer noch keine neue Nachricht geschickt hatte.

Kurz vor Mitternacht schaltete ich Fernseher und Computer aus und ging zu Bett. Die ganze Nacht wälzte ich mich unruhig in meinem Bett, konnte keinen Schlaf finden. Am Morgen hatte ich das Gefühl, keine einzige Minute geschlafen zu haben. Etliche Tage vergingen, ohne dass er antwortete. Meine Antwort las ich immer wieder, um vielleicht darin einen Grund für seine ausbleibende Nachricht zu finden. Endlich fand ich eines Abends eine neue E-Mail von ihm in meinem Postfach. Eine ungeplante Geschäftsreise hatte ihn daran gehindert, mir zu antworten. Er bat um Verständnis, gleichzeitig gab er mir unmissverständlich zu verstehen, dass er beabsichtigte, mich per Mailkontakt näher kennenzulernen. Selig über seine Absicht schrieb ich ihm zurück, dass es auch mir eine ganz besondere Freude war.

Von diesem Tag an schrieben wir uns täglich. Und wenn er verhindert war, so kündigte er es von da an rechtzeitig an. Je mehr wir voneinander erfuhren, desto enger zog sich das unsichtbare Band zwischen uns zusammen. Keine noch so intimen Details und keine ungesagten Wünsche ließen wir aus, und alsbald hatte ich das Gefühl, ein Teil von ihm zu sein. Seit unserem ersten Kontakt waren mittlerweile sechs Wochen vergangen. Längst waren seine Träume auch die meinen geworden. Mit der Zeit teilten wir nicht nur die gleichen Ansichten, sondern hatten auch dieselben Vorstellungen von dem, wie es einmal werden sollte.

Zu Beginn der siebten Woche erhielt ich früh morgens eine Nachricht. Er schrieb, dass er sich nun sicher sei, in mir die richtige Frau gefunden zu haben. Es sei nun an der Zeit, sich telefonisch mit mir über unsere gemeinsame Zukunft zu unterhalten. Noch am gleichen Abend rief er an, und wir redeten viele Stunden miteinander. Am Ende stand für ihn fest, dass ich nun auch offiziell als seine Sklavin gelten sollte. Die Entfernung, die zwischen uns lag – immerhin wohnte er in München und ich in Hamburg – spielte für uns keine Rolle.

Am nächsten Tag wies er mich per Mail an, auf der Plattform, wo wir uns kennengelernt hatten, die öffentliche Verbindung zu bestätigen. Von nun an führten wir eine öffentlich sichtbare Fernbeziehung. Als ich das erste Mal seinen Namen als mein Top, also als meinen Herrn, in meinem Profil sah, durchströmte mich ein Gefühl unendlichen Stolzes. Gestern noch eine Suchende und heute schon eine Frau, die einem Mann gehörte.

Ich machte mir keine großartigen Gedanken darüber, was das alles noch für mich bedeuten sollte. Für mich war es nur wichtig, dass der Mann meiner Begierde als mein Herr in meinem Profil stand und es jeder sehen konnte. Die Veränderung vollzog sich schleichend. Anfänglich waren es nur Kleinigkeiten, wie seine Wortwahl mir gegenüber. Zügig folgte dann das Verbot, zu anderen Herren Kontakt aufzunehmen, und nach einer weiteren kleinen Weile war es schließlich für kein Mitglied der Gemeinschaft mehr möglich, überhaupt mit mir in Verbindung zu treten. Jeder Interessent musste sich zuvor bei ihm melden. Letztlich war es mir egal, weil ich mich dort sowieso nicht mehr nach neuen Kontakten umsehen wollte. Ich hatte ja das gefunden, wonach ich gesucht hatte.

Er verlangte auch, über wirklich jeden meiner Schritte informiert zu werden. Natürlich sollte ich glücklich und voll Hoffnung sein. Aber er war auch derjenige, der mich zurechtwies, wenn ich es seiner Meinung nach an Respekt und Gehorsam fehlen ließ. Seine Worte waren es, die mich demütigten und gleichzeitig dazu anspornten, mich als seine Sklavin weiterzuentwickeln. Manche seiner Briefe versetzten mich in einen Zustand völliger Furcht. Andere wiederum erregten mich dermaßen, dass ich mich voller Gier danach sehnte, endlich in seinen Armen zu liegen.

Jeden Tag telefonierten wir, und ich beantwortete jede seiner Fragen brav und folgsam. Jedes Mal, wenn er den Hörer auflegte und die Leitung am anderen Ende stumm war, fühlte ich mich einsamer denn je. Meine Sehnsucht wuchs von Tag zu Tag. Kaum eine Nacht verging ohne geträumte erotische Fantasien, die sich allesamt um meine Unterwerfung drehten.

Früh morgens, wenn noch alles still war und die Welt langsam aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, lag ich zwischen meinen Kissen und hing meinen Träumen nach. Meine Gedanken rankten wie Efeu um ihn, und es war, als hinge mein ganzes Sein von ihm ab. Schloss ich meine Augen, so sah ich ihn vor mir und spürte seine Hände auf meiner Haut. Strich ich mit meiner Zunge über meine Lippen, so konnte ich ihn geradezu schmecken. Durch meine Nase strömte sein Geruch und nahm mir fast die Sinne. Und all das geschah, ohne dass ich ihm je begegnete. Um meiner Qual zu entgehen, um überhaupt an etwas anderes denken zu können, streichelte ich mich allmorgendlich, bis mich ein Orgasmus von meinen Gedanken erlöste.

Eines Abends, meine Sehnsucht kaum ertragend, glaubte ich, die Nacht nicht überleben zu können. Ich fühlte mich erst besser, nachdem ich ihm, in einer langen Nachricht, meine Gefühle bis ins allerletzte Detail beschrieben hatte. Ich war mir sicher, dass er meine Erregung und meine unsägliche Lust verstand. Mit großem Erstaunen las ich seine Antwort, die ich am nächsten Morgen vorfand: ›Deine Lust gehört mir. Ohne meine ausdrückliche Erlaubnis hast du dich niemals wieder zu berühren.‹ Sein Verbot kam mir wie eine lebenslange Strafe vor; ich war betroffen.«

»Und haben Sie sich jemals wieder berührt?« Ich musste ihr diese Frage einfach stellen, auch wenn dies bedeutete, sie zu unterbrechen.

»Ja, einmal«, antwortete sie und sah beschämt zu Boden.

»Und haben Sie es ihm gebeichtet?« Ich konnte meine Neugierde kaum verbergen.

»Zuerst nicht. Aber als mein schlechtes Gewissen unaufhörlich in mir schlug, tat ich es doch.«

»Und was tat er, nachdem Sie es ihm gebeichtet hatten?«

»Er nahm sich sein Recht heraus, sich mir zu entziehen.«

Ich sah sie fragend an, denn ich verstand nicht, was sie damit meinte.

»Oh, Sie können es ja nicht wissen. Es ist das Recht eines Herrn, seine Sklavin für ihren Ungehorsam zu bestrafen. In gewisser Weise erwartet man sogar eine Strafe für das, was man unerlaubt getan hat, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Nein, ich verstand nicht und war auf ihre Erklärung gespannt. Mein Gesichtsausdruck musste ihr mein Unverständnis deutlich gemacht haben, denn ohne dass ich auch nur nachzufragen brauchte, hörte ich sie antworten: »Er beantwortete weder meine Mails noch meine SMS. Erst als ich sein Schweigen nicht mehr ertrug und ihn in einer langen Mail anflehte, er möge mir verzeihen, schrieb er zurück.«

»Und war das seine ganze Strafe, oder kam noch etwas hinzu?« In dem Moment, als ich fragte, wusste ich, dass da noch mehr war, und kam mir ziemlich einfältig vor. Ich, der ich glaubte, alles Menschliche zu kennen und zu verstehen, musste zugeben, von Sanktionen im Sadomasochismus keine Ahnung zu haben – oder zumindest nur so viel wie der Konditor von der Zubereitung einer Fischpastete.

»Wo denken Sie hin?«, erwiderte sie mit einem beinahe amüsierten Lächeln. »Das wäre zu einfach gewesen. Nein, er ließ mich einen ausführlichen Text schreiben, wie ich mich als seine Sklavin zu verhalten hätte. Gleichzeitig musste ich ihn um eine Bestrafung bitten, die dann zu unserem ersten Treffen von ihm eingelöst werden sollte.«

Den letzten Satz sagte sie in einem solchen Tonfall, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Das verlieh mir wiederum das Gefühl, ein unwissender Idiot zu sein. Nicht die Strafe selbst verwunderte mich, sondern der Gedanke, wie einfach es doch war, Menschen zu manipulieren. Man brauchte als Mann in diesem Bereich nur eine gewisse Zeit Abstand zu nehmen, und schon geschah das, was man wollte. Keine langen Auseinandersetzungen, keine sorgfältig ausgewählten Argumente waren nötig. Anders als in anderen Beziehungen brachte einem ein Zurückziehen dem Ziel näher, das war dort in der Szene der Schlüssel zum Erfolg.

In meinem ganzen Leben war mir nie zuvor eine Frau begegnet, die so offen über so intime Dinge sprach wie sie. Und nun, wo es geschah, konnte ich nicht anders, als sie dümmlich anzusehen, und dafür schämte ich mich ein wenig.

»Entsetzt?«

In diesem Moment spürte ich ihre Hand, die sie leicht auf meinen Schenkel gelegt hatte. Ich sah zu ihr hoch, und meine Antwort war so ehrlich, wie ich noch nie zuvor etwas gemeint hatte. »Nein, aber ich muss zugeben, dass mir vieles von dem, was Sie erzählen, fremd ist.«

»Möchten Sie, dass ich aufhöre? Wir können uns auch über etwas anderes unterhalten.«

»Nein. Ich möchte sogar, dass Sie weitererzählen. Die wenigen Dinge, die Sie bisher erzählten, haben mich schon viel zu neugierig werden lassen; und jetzt, wo mein Interesse entfacht ist, möchte ich auch den Rest erfahren.«

»Wirklich?«, fragte sie und sah mich mit einem Blick an, der sie wunderschön aussehen ließ, und ohne dass ich es wollte, gingen meine Gedanken in eine völlig andere Richtung. Wäre ich nicht schon viel zu alt für sie, dann wäre jetzt der Moment gewesen, in dem ich mich in sie verliebt hätte.

Erschrocken über meine so plötzlich auftauchenden Gefühle sah ich sie schweigend an. Erst mein Magen, der sich in dem Moment lautstark bemerkbar machte, brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Noch nie zuvor war ich über eine menschliche Regung so dankbar gewesen.

»Hungrig?«, fragte sie.

Ich nickte ihr zu. Und da auch sie zugab, hungrig zu sein, beschlossen wir, den Speisewagen aufzusuchen. Wenige Minuten später betraten wir, Arm in Arm untergehakt, den Waggon. Wir hatten Glück und fanden in dem recht vollen Abteil einen freien Tisch in der hinteren Reihe.

In einer halben Stunde würden wir den Stuttgarter Hauptbahnhof erreichen. Von dort aus hatten wir noch sechs Stunden gemeinsame Zugfahrt vor uns. Ich hoffte inständig, dass die Zeit ausreichte, um alles von ihr zu erfahren. Gleichzeitig hoffte ich, dass die Zeitspanne kurz genug war, um mich nicht in sie zu verlieben.

Die Sklavin im Zug

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