Читать книгу Die Sklavin im Zug - Lilo David - Страница 9

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Vorschusslorbeeren

Sie fiel mir sofort auf, als sie den Waggon betrat. Wie sie in ihrem geblümten Sommerkleid dort im Gang stand und sich so unauffällig wie möglich umsah, fühlte ich mich augenblicklich zu ihr hingezogen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und schritt grazil und zugleich abschätzend die Sitzreihen ab. Jedem Mitreisenden warf sie dabei einen subtilen Blick zu. Dieses scheue Verhalten, als würde sie nach einer bestimmten Person Ausschau halten, weckte meinen Beschützerinstinkt und zugleich meine berufliche Neugierde als Sozialpsychologe. Dass ausgerechnet ich es war, bei dem sie stehenblieb, verwunderte mich leicht. Natürlich war es mir nicht unangenehm, einer jungen, attraktiven Dame gegenüberzusitzen. Doch die Tatsache, dass ihre Wahl auf mich fiel und nicht auf einen der ansehnlicheren Männer, die es hier durchaus gab, ließ mich über diese fremde Frau nachdenken.

Während sie ihre Reisetasche auf dem oberen Bord verstaute, konnte ich meine Augen nicht von ihr wenden. Sie war von schlanker, fast zerbrechlich wirkender Statur, dazu trug sie ein fließendes, hübsches Sommerkleid. Ihre gelockten braunen Haare fielen ihr bis auf die Schultern, und trotz ihrer hohen Absätze musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Ablage zu gelangen.

Als sie sich umdrehte und ich ihr ins Gesicht sah, erkannte ich diesen feinen und doch tiefen Schimmer in ihren Augen. In wie vielen Gesichtern hatte ich bereits denselben Ausdruck gesehen? Und wie immer ging von solchen Augen für mich eine tiefe Faszination aus. Sagt man nicht auch, dass Blicke Bände sprechen und sogar ganze Geschichten erzählen können? Und so war es auch in ihrem Fall. Sie musste gar nichts sagen, denn ich spürte bereits, dass sie etwas erlebt hatte, das sie tief berührte.

Die meisten Menschen glauben, sich hinter einem vermeintlich normal aussehenden Gesichtsausdruck verstecken zu können. Und nur wir, die sich zwangsweise durch die Wahl ihres Berufes mit der Seele des Menschen befassen, haben gelernt, hinter diese Fassade zu sehen. Für uns sind die Augen das Spiegelbild der Seele.

Und so verhielt es sich auch bei dieser fremden Frau. Sie saß rein zufällig mit mir im selben Waggon des ICE, der mich von München über Stuttgart zurück nach Hamburg bringen sollte. Ich muss zugeben, dass alleine ihr Anblick mich schon berührte. Die Art, wie sie mit geschlossenen Augen an der Scheibe lehnte, sprach mich an. Während sich andere Mitreisende geschäftig zu ihren Plätzen begaben oder sich unruhig auf ihren Sitzen hin und her bewegten, beobachtete ich die Frau. Ein paar Mal drückte sie ihre Stirn fest an die Fensterscheibe. Für mich hatte es den Anschein, als wollte sie etwas aus ihrem Gedächtnis pressen, so, wie man eine Zitrone auspresst, bis nichts anderes mehr als trockene Schale übrig bleibt.

Doch als ich genauer hinsah, entdeckte ich ihr zartes und zufriedenes Lächeln. Natürlich war ich viel zu gut erzogen, als dass ich sie, nachdem sie sich gesetzt hatte, einfach angesprochen hätte. Doch insgeheim hoffte ich, dass unsere gemeinsame Bahnfahrt lang genug währte, um mit ihr ins Gespräch zu kommen – nicht weil ich von Natur aus ein redseliger Mensch war, denn im Grunde ziehe ich meine individuelle Einsamkeit dem bunten gesellschaftlichen Treiben vor; und auch Gespräche mit mir wildfremden Personen sind nicht das, was ich sonst bevorzuge.

Bei ihr war meine Neugierde jedoch deutlich größer als meine sonst so übliche Zurückhaltung. Warum dies so war, konnte ich nicht genau sagen. Manches lässt sich eben nicht so einfach erklären und bleibt für einen selbst auf immer und ewig ein Rätsel.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Im Anfahren hob sie ihre Hand und zeichnete mit einer ihrer Fingerspitzen ein Herz auf die von ihrem Atem feuchte Scheibe, und auch die Träne, die ihr die Wange herunterrann, war mir nicht entgangen.

Im gleichen Moment, als ich mich fragte, weshalb eine junge Frau mitten unter Fremden eine derartige Gefühlsregung zeigte, drehte sie ihr Gesicht in meine Richtung. Wir waren zwei Fremde, dessen Blicke sich zufällig trafen, doch sagten mir ihre Augen, dass es kein profaner Liebeskummer war, der sie zu Tränen rührte. Ich bildete mir sogar ein, dass ihr stummer Blick mich um Hilfe bat.

Instinktiv wollte ich meine Hand nach ihr ausstrecken und war über so viel Kühnheit selbst maßlos erschrocken. Wie bereits erwähnt, zog ich es sonst vor, mich niemandem gegenüber – und schon gar keiner Fremden – so offen zu zeigen. Aber irgendetwas hatte sie an sich, was mich zu menschlichen Reaktionen veranlasste, die ich normalerweise tunlichst vermied.

Dennoch zögerte ich, und noch bevor ich es bereuen konnte, es nicht getan zu haben, hörte ich sie sagen: »Denken Sie auch manchmal darüber nach, was die Person, die Ihnen gegenübersitzt, gerade denkt oder zuvor getan hat?«

Im ersten Augenblick war ich viel zu überrascht, sodass mir keine passende Antwort einfiel. Vielmehr brachte ihre Frage bei mir den Verdacht auf, dass meine Beobachtungen doch nicht so heimlich gewesen waren, wie ich es mir eingebildet hatte. Irgendwie fühlte ich mich wie auf frischer Tat ertappt und gab ihr deshalb die erstbeste Antwort, die mir in diesem Moment sinnvoll erschien.

»Es kommt darauf an, ob mein Gegenüber mein Interesse geweckt hat.«

»Und? Habe ich Ihr Interesse geweckt?«

Anstelle zu antworten entschied ich mich dafür, ihr eine Gegenfrage zu stellen, wohl auch um zu erfahren, inwiefern ich bei ihr diesen Eindruck hinterlassen hatte.

»Sind Sie denn der Meinung, dass ich Sie beobachtet habe?«

Draußen zog eine wundervolle Landschaft an uns vorbei. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie bliebe mir eine Antwort schuldig; starr blickte sie auf die vorbeiziehenden Bäume und Felder. Erst als wir an einem stillgelegten Bahnhof vorbeifuhren, dessen vergilbtes Schild daran erinnerte, dass hier einmal geschäftiges Treiben geherrscht hatte, antwortete sie kaum hörbar.

»Anfänglich nicht. Aber als ich anfing zu weinen, spürte ich Ihre Blicke.«

Ich überlegte kurz, ob ich mich entschuldigen sollte. Oder war es besser, mit einer gezielten Antwort dem Verlauf eines im höchsten Maße interessant zu werdenden Gespräches die richtige Wendung zu geben? Ich entschied mich für das Letztere.

»Nun, hat nicht jede Träne ihren Ursprung? Sie sind eine junge Frau und sollten eigentlich keinen Grund haben zu weinen. Da Sie es dennoch taten, hat dies natürlich einige Fragen in mir aufgeworfen.«

Sie lächelte und beugte sich zu mir hinüber.

»Machen Sie das oft? Ich meine, anderen Leuten bei ihren Gefühlsregungen zuzusehen und sich dann die Frage nach dem Warum zu stellen?«

Der Blick, den sie mir zuwarf, war entwaffnend. In diesem Moment war mir bewusst, dass ich ihr eine ehrliche Antwort schuldig war.

»Alte Berufskrankheit«, entschuldigte ich mich. »Ich bin Sozialpsychologe, und da liegt eine gewisse Neugierde für alles Menschliche wohl in meiner Natur. Ich wollte nicht aufdringlich wirken. Bitte verzeihen Sie mir.«

Schweigend sah sie mich an. Ihre Augen fixierten mich, und ich musste zugeben, dass es mir weit weniger angenehm war, beobachtet zu werden, als selbst jemanden zu beobachten. Dann seufzte sie plötzlich und fragte mit einer herrlich erfrischenden Offenheit: »Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie in meinem Fall gekommen?«

Diesmal war es an mir, sie schweigend anzusehen, denn mit einer derartigen Frage hatte ich nicht gerechnet.

»Ich bin mir noch nicht schlüssig. Es scheint bei Ihnen einen tieferen Grund zu geben, auch wenn das gezeichnete Herz banalen Liebeskummer vermuten lässt.«

Mit einer kurzen Kopfbewegung deutete ich zur Scheibe hin.

»Glauben Sie an Zufälle?«, fragte sie und sah mit einem Seitenblick zum Fenster.

»Nein – auch wenn man vermutet, dass einem die Dinge, die einem widerfahren, zufällig geschehen.«

»Dann ist es Ihrer Meinung nach kein Zufall, dass wir uns hier begegnet sind, sondern eher so etwas wie Schicksal?«

»Wenn Sie es so sehen wollen, dann lautet meine Antwort: Ja«, antwortete ich und fügte nachdenklich hinzu: »Aber es kommt natürlich darauf an, was man aus den zufälligen Begegnungen macht. Wir könnten uns über das Wetter unterhalten, oder?« Hier machte ich eine Pause, bevor ich langsam weitersprach. »Wenn Sie möchten, auch über das, was Sie so traurig sein lässt.«

Noch im selben Moment, als ich mich dies sagen hörte, spürte ich ein leises Unbehagen. Ich fragte mich, ebenso erschrocken wie entsetzt, wie ich einer fremden Frau einen solchen Vorschlag machen konnte. Ihre Gefühle gingen mich doch nun wirklich nichts an.

Schuldbewusst schwieg ich einen Moment und hoffte, dass sie mir meiner Kühnheit wegen nicht böse war, es lag nicht in meiner Absicht, sie zu bedrängen. Es fiel mir schwer, sie anzusehen, und doch konnte ich nicht anders, als ihren Blick zu suchen. Doch was ich in ihren Augen las, war keineswegs Abwehr oder ihr innerer Rückzug. Nein, es war eher ein stilles und mit einer leisen Bitte versehenes Lächeln, das mein schlechtes Gewissen von einem Moment zum anderen verfliegen ließ.

Könnten Menschen sich doch nur selber sehen, wenn sie angestrengt nachdenken. So mancher wäre über seinen eigenartigen Gesichtsausdruck wahrscheinlich sehr amüsiert. So dachte ich, während ich sie jetzt weitaus weniger schuldbewusst beobachtete, um zu sehen, welche Wirkung meine Worte auf sie hatten. Es war nicht zu übersehen, dass sich hinter ihrem hübschen Gesicht zahlreiche dunkle Gedanken zusammenbrauten.

Wie bei den meisten Menschen zog sich auch über ihre Stirn eine sichtbare Falte, die sie augenblicklich etwas älter wirken ließ. Was mich jedoch am meisten amüsierte, waren ihre zusammengekniffenen Augen. Sie waren nur noch als Schlitze sichtbar und verliehen ihr beinahe das Aussehen einer asiatischen Schönheit.

Völlig in sich versunken, strich sie sich mehrmals eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht; und dann, von einer Sekunde zur anderen, hob sie ihren Blick und sah mich an.

»Einmal angenommen, mich hätte ein Erlebnis, das abseits der Normalität liegt, so tief in meiner Seele berührt, dass ich nur aus diesem Grund zu Tränen gerührt war. Würden Sie es hören wollen?«

War diese Frage wirklich ernst gemeint? Selbstverständlich interessierte mich alles, was mit menschlichen Verhaltensweisen zusammenhing. Wie konnte ich da jetzt ablehnen? Natürlich, es ist richtig, dass ich mich in meinem Beruf weit weniger mit dem Individuum Mensch selbst als damit, wie sich sein Verhalten auf die gesamte Gesellschaft auswirkt, beschäftige. Dennoch kann das eine ohne das andere nicht existieren, und man muss schon hin und wieder den Einzelnen betrachten, um das Gesamte verstehen zu können – und egal, wie man die Sache auch drehen und wenden mag, bleibt die Sozialpsychologie doch immer ein Teilgebiet der allgemeinen Psychologie.

Menschen konstruieren ihre eigene Realität. Das gesamte Erleben und Verhalten wird von sozialen Beziehungen beeinflusst, und jetzt, wo man mir sozusagen eine solch erlebte und individuelle Realität auf dem Silbertablett servierte, konnte ich gar nicht anders, als sie darum zu bitten, mir ihr Erlebtes zu erzählen. Wer weiß, vielleicht erfuhr ich so etwas, was mir für meine Arbeit nützlich sein konnte – und wenn nicht, würde ich doch weitaus mehr über sie erfahren, als ich mir eben noch hätte vorstellen können. Zudem hatte ich auch nichts Besseres vor, warum sollte ich ihr nicht meine Aufmerksamkeit schenken? Und ihr Teilgeständnis war, ohne, dass sie es wusste, für mich ein Garant für eine Reise durch tiefe und dunkle Gefilde ihrer Seele. Kann man Langeweile – und die würde zweifelsohne auf einer so langen Fahrt aufkommen – besser entkommen?

Am liebsten hätte ich sofort zugesagt. Ich wusste, dass, während sie mir ihr Herz öffnete, meine akribischen Gehirnzellen jedes noch so winzige Detail ihrer Erlebnisse unwiderruflich speichern würden. Was auch immer sie erlebt hatte – um nichts in der Welt wollte ich diese Chance verpassen.

Dennoch war Vorsicht geboten. Ich durfte nicht zu offensichtlich meine Freude darüber zeigen. Immerhin war es möglich, dass sie einen Rückzieher machte oder ihre Frage nicht ernst gemeint war. Bei Menschen ist alles möglich. Es konnte ja sein, dass sie nur fragte, um herauszufinden, wozu ich fähig war, wenn man meine Neugierde weckte. Außerdem waren wir nicht alleine. Einsamkeit war immer schon ein sehr wichtiger Aspekt, wenn man Zeuge eines privaten Geständnisses werden wollte, wie ich fand. Es war also unabdingbar, sich zu vergewissern, dass uns keine fremden Ohren belauschten.

Wie ein Spion sah ich mich um. Der nächste Fahrgast saß außer Hörweite. Somit stand, jedenfalls was unerwünschte Zuhörer betraf, unserem verbalen Abenteuer nichts im Wege. Der nächste Bahnhof lag noch gut eine Stunde von uns entfernt, die gesamte Fahrzeit betrug fast einen ganzen Tag, Zeit hatten wir also auch genug.

Was mich jedoch noch davon abhielt, zustimmend zu antworten, war ein anderer Gedanke. Ich fand es gar nicht so abwegig, dass sie sich am Ende nur über meine Neugierde lustig machte. Aber um mehr über sie zu erfahren, musste ich dieses Risiko eingehen, und dies, obgleich ich wusste, dass es mich, wenn es denn so wäre, peinlich berührt hätte. Und trotz meiner Zweifel hörte ich mich schon wenige Sekunden später kühn sagen: »Ich bin ein guter Zuhörer. Es gibt nichts, was mich ernsthaft schockieren könnte.« Dass man meiner Tonlage meine Neugierde anmerkte, ärgerte mich ein wenig.

Wie von selbst fanden sich unsere Blicke. Diesmal hatte ich das untrügliche Gefühl, als leuchteten ihre Augen bei meinen Worten auf, als hätte sie sich diese Antwort erhofft.

»Danke, dass Sie meine Geschichte hören möchten.« Und leise fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, warum. Aber ich vertraue Ihnen.«

Mir fiel ein, dass wir uns einander noch nicht vorgestellt hatten. Mir erschien es aber wichtig, zumal sie im Begriff war, mir persönliche Dinge anzuvertrauen. Ich griff in meine Jackeninnentasche, in der ich immer einen kleinen Vorrat an Visitenkarten aufbewahrte. Gerade wollte ich ihr eine reichen, als sie ihre Hand ausstreckte und mich davon abhielt.

»Ich möchte nicht wissen, wer Sie sind, genauso wie Sie nicht erfahren werden, wer ich bin. Es ist besser, wenn wir einander nicht kennen«, sagte sie sehr bestimmend. Selten machte mich etwas sprachlos, aber diese Reaktion tat es. Ihrer Bitte folgend, steckte ich die Karte wieder ein und lehnte mich in meinem Sitz zurück. Ruhig wartete ich ab, dass sie zu erzählen begann. Doch als nach einer Weile immer noch nichts geschah und sie mir nach wie vor schweigsam gegenübersaß, musste ich einfach etwas sagen. »Angst?«, hakte ich leise nach.

»Nein«, antwortete sie und schüttelte leicht ihren Kopf. »Das ist es nicht. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll. Sie sind zwar ein Fremder, aber dennoch möchte ich, dass Sie mich verstehen.«

Diese Frau war mir ein Rätsel. Sie zog mich immer mehr in ihren geheimnisvollen Bann. Zum ersten Mal, seit mein Interesse an ihrem Geheimnis geweckt worden war, fragte ich mich, wie ich reagieren würde, wenn das, was sie mir berichten wollte, am Ende eine Straftat war. Ich wäre unweigerlich zu ihrem Mitwisser geworden, wäre womöglich selber strafbar. Was wäre, wenn sie mir einen Mord gestünde? Zwar einen im Affekt, aber dennoch moralisch höchst verwerflich? Hätte ich dann nicht die Pflicht, den Schaffner davon in Kenntnis zu setzen? Und wäre es dann nicht ebenso meine gottverdammte Pflicht, sie so lange festzuhalten, bis wir sie der Polizei übergeben konnten?

»So schlimm?«, fragte ich lächelnd und wollte damit gleichzeitig sie und mich beruhigen.

»Nein. Es ist nur nicht so einfach, wie ich gedacht hatte«, kam es schüchtern von ihr zurück.

»Am besten berichten Sie von Anfang an«, sagte ich und legte so viel Überzeugung in meine Stimme, wie ich nur konnte.

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange das dauern kann? Von Anfang an?«, seufzte sie.

»Wir haben Zeit. Uns drängt niemand«, sagte ich und beugte mich ein wenig zu ihr hin. »Nur Mut. Ist der Anfang erst einmal gemacht, folgt der Rest von ganz allein«, fügte ich vertrauensvoll hinzu. Dabei nahm ich ihre Hand und drückte sie zaghaft. Sie zitterte leicht, und dass sie nervös war, war nicht zu übersehen. Und gerade – ich streichelte noch ihre Hand – stand plötzlich, wie aus dem Nichts, der Zugbegleiter vor uns. Ich kam mir vor wie ein Schuljunge, den man bei seiner ersten Liebelei ertappt hatte. Abrupt ließ ich ihre Hand los und lehnte mich im Sitz zurück.

Während ich mich angespannt an die Lehne drückte, bedauerte ich in der gleichen Intensität, wie ich die Polsterung auf meiner Haut spürte, mein voreiliges Handeln. Mein Bedauern verstärkte sich noch, als mir klar wurde, dass der Zugbegleiter weder von ihr noch von mir eine Notiz nahm. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, in seiner Tasche nach etwas zu suchen. Dennoch konnte ich meine Augen nicht von ihm abwenden. Und während ich ihn wie gebannt ansah, ertappte ich mich bei dem Gedanken daran, dass es untröstlich wäre, wenn ich durch mein Verhalten den halboffenen Türspalt zu ihrer Seele wieder geschlossen hätte.

Fragend suchte ich nach ihrem Blick und blinzelte ihr aufmunternd zu. Und sie, die eben noch schüchtern und mit zittrigen Händen vor mir saß, erwiderte mein Blinzeln mit einem bedauernden Schulterzucken. Im gleichen Moment wurde es um uns herum stockfinster. Es dauerte eine Weile, bis das automatische Licht anging. Als ich zu ihr herübersah, war ihr Platz leer.

»Wenn ich Sie nicht andauernd ansehen muss, fällt mir das Reden leichter«, hörte ich ihre Stimme direkt neben mir. Lächelnd sah sie mich an, und ich tat nichts anderes, als mich erwartungsvoll und gleichwohl lächelnd zurückzulehnen, um ihrer Geschichte zu lauschen.

Die Sklavin im Zug

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