Читать книгу Die Sklavin im Zug - Lilo David - Страница 8

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Am Anfang steht der Beginn

Um meine Eltern wirklich beschreiben zu können, müsste ich ein ganzes Buch verfassen. Damit meine ich nicht, dass sie so außergewöhnlich oder anders waren als andere Eltern ihrer Zeit. Dennoch kann man ihre Generation mit keiner vorherigen oder späteren Generation vergleichen. Ihnen gehörte weder die Welt noch ihr eigenes Leben. Menschen aus ihrer Zeit wurden zu früh Träume, Hoffnungen und Pläne durch die gesellschaftlichen Dogmen und politischen Geschehnisse zunichte gemacht. Meine Eltern wurden noch zu Kaisers Zeiten geboren. In einem Jahrhundert, indem es noch galt, sich an preußischen Tugenden und der Obrigkeit zu orientieren, hatten sie es nicht leicht.

Als Kinder und Heranwachsende litten sie unter ihrer strengen und moralischen Erziehung. Später, als es darum ging, ihr Recht auf Leben und Entfaltung einzufordern, mussten sie erneut ihr Glück fremden Zielen und Vorstellungen unterordnen. Es gab immer jemanden, der über ihr Leben bestimmte. Wirklich zu entscheiden, was für sie richtig oder falsch war, hatten sie nie gelernt. Als Kinder erlebten sie den 1. Weltkrieg, begriffen viel zu früh – und auf brutale Weise, was Leid und Kummer bedeutet, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Im 2. Weltkrieg lernten sie die Kunst des Überlebens und mit den Wölfen zu heulen. Mitläufer nannte man diese Generation später. Ich glaube, wenn es nur nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Sie wären den Träumen nach Glück, Freiheit und einer ewigen Liebe nachgerannt. Doch wie wir wissen, sollte alles anders kommen.

Als Kinder und Heranwachsende litten sie unter ihrer strengen und moralischen Erziehung. Später, als es darum ging, ihr Recht auf Leben und Entfaltung einzufordern, mussten sie erneut ihr Glück fremden Zielen und Vorstellungen unterordnen. Es gab immer jemanden, der über ihr Leben bestimmte. Wirklich zu entscheiden, was für sie richtig oder falsch war, hatten sie nie gelernt. Als Kinder erlebten sie den 1. Weltkrieg, begriffen viel zu früh – und auf brutale Weise, was Leid und Kummer bedeutet, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Im 2. Weltkrieg lernten sie die Kunst des Überlebens und mit den Wölfen zu heulen. Mitläufer nannte man diese Generation später. Ich glaube, wenn es nur nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Sie wären den Träumen nach Glück, Freiheit und einer ewigen Liebe nachgerannt. Doch wie wir wissen, sollte alles anders kommen.

Als Kinder und Heranwachsende litten sie unter ihrer strengen und moralischen Erziehung. Später, als es darum ging, ihr Recht auf Leben und Entfaltung einzufordern, mussten sie erneut ihr Glück fremden Zielen und Vorstellungen unterordnen. Es gab immer jemanden, der über ihr Leben bestimmte. Wirklich zu entscheiden, was für sie richtig oder falsch war, hatten sie nie gelernt. Als Kinder erlebten sie den 1. Weltkrieg, begriffen viel zu früh – und auf brutale Weise, was Leid und Kummer bedeutet, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Im 2. Weltkrieg lernten sie die Kunst des Überlebens und mit den Wölfen zu heulen. Mitläufer nannte man diese Generation später. Ich glaube, wenn es nur nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Sie wären den Träumen nach Glück, Freiheit und einer ewigen Liebe nachgerannt. Doch wie wir wissen, sollte alles anders kommen.

Mein Vater, Jahrgang 1912, und meine drei Jahre jüngere Mutter lernten sich auf einer Kundgebung im Frühling 1937 in Kiel kennen. Es war schon eigenartig, dass es erst einer solchen zufälligen Begegnung bedurfte, um sich kennenzulernen. Denn wie sich herausstellte, waren beide unweit voneinander in verschiedenen Orten aufgewachsen, mein Vater in einer verträumten Kleinstadt als Sohn eines wohlsituierten Kaufmannes und meine Mutter in einem winzigen Dorf nahe Neumünster. Als achtes Kind einer Großfamilie, die sich ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdiente, hatte sie keinen Kontakt zu der Schicht, der mein Vater angehörte. Ja, eigentlich trennten sie auch als Erwachsene noch unüberwindbare gesellschaftliche Hindernisse.

Verständlich, dass es dann doch über zwanzig Jahre dauerte, bis sich ihre Wege kreuzten. Als sie sich zum allerersten Mal begegneten, soll es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Jedenfalls beteuerten es beide ihr Leben lang. Ob es der Wahrheit entsprach, kann ich nicht beschwören. Doch muss es wohl so gewesen sein, denn ihre Wege trennten sich, bis auf die der Kriegsjahre, weder vorher noch jemals wieder danach.

Ihre gemeinsame Zukunft stand unter keinem guten Stern. Zum einen war da der Standesdünkel, den es zu überwinden galt. Nur unter Protest und der Drohung, mit meiner Mutter durchzubrennen und der Familie den Rücken zu kehren, gelang es meinem Vater, dass man der Verbindung zustimmte. Zum anderen stand der 2. Weltkrieg unmittelbar vor Europas Türen – unruhige Zeiten, die nichts Gutes versprachen. Dennoch glaubten sie an eine gemeinsame Zukunft. In aller Eile absolvierte mein Vater sein Lehramtsstudium. Meine Mutter konnte – hier sei dem bevorstehenden Krieg doch ein leiser und wirklich nur stiller Dank gesagt – eine Ausbildung zur Krankenpflegerin beim Roten Kreuz machen. Geheiratet wurde, nachdem mein Vater zum Dienst an der Waffe, für Gott und Vaterland, einberufen worden war. Es soll eine schlichte und den Zeiten angemessene Feier gewesen sein. An eine Hochzeitsreise war damals nicht zu denken.

Die nächsten Jahre verbrachte er als Soldat an der Ostfront. Als er 1942 in russische Gefangenschaft geriet, galt er als verschollen. Niemand wusste genau, wo die Russen ihre Gefangenen hinbrachten. Meine Mutter hingegen war als Lazarettschwester auf ein Gut nach Ostpreußen verfrachtet worden. Beide sahen es als ihre Pflicht an, zu dienen und zu gehorchen. Sich dagegen zu entscheiden, das politische System in Frage zu stellen, war ihnen nicht in den Sinn gekommen.

Ob sie es Jahre später, nach erlittenem Leid, nach all den schrecklichen Entbehrungen und nach dem Wissen um die Verbrechen und Gräueltaten, getan hätten, kann ich nicht sagen. Wir sprachen selten über diese Jahre. Meine Mutter tat ihren Dienst, ohne sich große Fragen zu stellen. Dennoch saß ihr wohl ständig die Angst im Nacken, eines Tages unter den Verwundeten meinen Vater zu entdecken. Gottlob blieb ihr das erspart.

Mit dem Einmarsch der Russen und deren Rückeroberung ihrer Gebiete im Osten 1944 begriff sie, was es heißt, überleben zu wollen. Mit einem der letzten Wintertransporte kehrte sie über Pillau nach Schleswig Holstein zurück, um hier, wo mein Vater geboren und aufgewachsen war, im Hause seiner Eltern auf seine Rückkehr zu warten. Dass das noch Jahre dauern sollte, ahnte niemand – und dass er vielleicht den Krieg nicht überlebt haben könnte, war ein Gedanke, den sich meine Mutter von vornherein verbot. Für sie stand fest, dass er wiederkommen würde. Es ist gut, wenn man etwas hat, woran man glauben kann. Vielleicht wäre sie – und mit ihr Millionen anderer Frauen – sonst am Leben verzweifelt.

Mit den Heimgekehrten 1947 stand er ausgemergelt, vom Krieg gezeichnet, eines Tages vor der Tür. »Anders war er!«, sagte sie, wenn man danach fragte. Doch mehr erwähnte sie nie. Der Krieg hatte beide verändert und nachhaltig geprägt. Doch wirklich darüber gesprochen oder sich beklagt haben sie sich nie. Es war, als hätten sie dieses Kapitel aus ihrem Leben verbannt. Ich glaube nicht, dass sie so etwas Prägendes und Grausames wie einen Krieg vergessen konnten. Aber die Erinnerungen daran waren wohl zu schmerzlich, als dass man sich gerne an sie erinnern wollte; und ich fragte auch nie mehr als unbedingt nötig.

Ich nahm es hin, dass mein Vater ein wortkarger und nachdenklicher Mann war; und dass sich meine Mutter an manchen Tagen stiller als sonst verhielt und ihm gegenüber eine fürsorgliche Nachsicht entgegenbrachte, war ganz normal. Nie gab es zwischen ihnen böse Worte, und an Streitigkeiten kann ich mich nicht erinnern, eher daran, dass sie sich still, ohne viele Worte, verstanden. Die Liebe, die sie zueinander empfanden, fragte nie nach Opfern, verzieh alles und war so stark, dass sie gemeinsam alles ertrugen, was das Leben ihnen aufbürdete. Man tat füreinander das, was man tun musste. Warum meine Eltern dennoch als einziges Kind nur mich hatten, habe ich als Kind nie gefragt. Es war einfach so, und ich lebte ganz gut damit. Erst später verstand ich, dass es ihre Lebensumstände nicht anders ermöglichten.

Meine Eltern lebten ihr Leben lang in dem Dorf, in dem ich geboren wurde. Ein Ort, der ihre ganze Welt darstellte. Sie unternahmen keine Reisen, suchten selten fremde Städte auf und teilten in aller Beschaulichkeit ihr gemeinsames Leben, so gut es ging. Sie setzten sich nie für eine Sache ein, waren aber auch nie gegen eine. Was sie dachten, und wofür sie standen, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht wurden sie mir daher mehr und mehr zu Fremden. Das Einzige, was ich wusste, und das, solange ich bei ihnen lebte, war ihre ungeteilte Liebe zu mir. Insofern war ich dann wohl doch ihr größtes Glück, ihr Sonnenstrahl nach langen und düsteren Jahren …

… auch als ihnen klarer wurde, dass ich mehr einem glimmenden Licht als einem hell leuchtenden Strahl ähnelte. An manchen Tagen war ich so still, dass man glaubte, es würde mich gar nicht geben. Aber wenn man, wie ich, ohne Geschwister, allein unter Erwachsenen aufwächst, fällt es schwer, die Welt mit kindlicher Leichtigkeit zu betrachten. Ich glaube nicht einmal, dass ich verlernt hatte, ein impulsives und fröhliches Kind zu sein. Ich war es einfach nicht!

Mein Vater hatte wegen seiner Herkunft das Privileg, über eine gute Ausbildung zu verfügen. Er erhielt, nachdem er als gebrochener Mann und mit steifem Arm aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, die Stelle des Dorflehrers. Er war froh, dass man ihn überhaupt noch brauchte. Was für ihn mit den Jahren dann zur Berufung wurde, war für mich eine Last, ein beschwerliches Hindernis auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Ich war der Sohn des Mannes, der in dem Ort, der für mich Heimat und Zufluchtsort war, Wissen, aber auch Regeln und Ordnung lehrte. Darum war ich ständig auf der Hut und musste auch besser sein als alle anderen Kinder. Die Gelegenheiten für dummes Zeug und Streiche habe ich ausgelassen. Ich hatte keine Angst vor Strafen, eher davor, was mein Vater über mich denken würde und ob seine Würde und sein Respekt, den er genoss, dadurch einen Makel erlitten hätte. Denn als Respektsperson habe ich ihn immer gesehen.

Als ich älter wurde, stellte ich mir die Frage, ob der Charakter und die Wesensart eines Menschen das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung ist – oder, so fragte ich mich, ob man selbst – oder andere – durch Erziehung und Vorleben darauf Einfluss nehmen könnte. Eine zufriedenstellende Antwort habe ich nie darauf gefunden. Zumindest trugen die Erziehung meiner Eltern und die meiner Großtante Elsa, die mit uns gemeinsam lebte, dazu bei, dass ich lernte, Anstandsregeln zu befolgen.

Ich benahm mich anderen gegenüber höflich und aß alles auf, was auf meinem Teller lag. Letzteres beherzigte ich schon wegen meiner Großtante. Sie hatte, ebenso wie alle anderen, Hunger und Leid in den Kriegsjahren erlitten. Und darum bestand sie darauf, dass ich mich zu jeder Zeit meines Lebens auch an die erinnerte, die weniger hatten. Meine Großtante Elsa, so alt sie mir auch damals erschien, war wohl die wichtigste Person in meinem Leben. Ihr habe ich all die Lebensweisheiten meiner Kindheit zu verdanken. Zeit ihres Lebens war sie der festen Überzeugung, dass der Weg eines jeden, vom Tag der Geburt an, vorherbestimmt ist. »Jeder hat sein Schicksal zu tragen und ist so, wie Gott es vorgesehen hat«, pflegte sie zu sagen.

In meinen Erinnerungen sehe ich sie noch heute am Küchenherd stehen. Sie trug meist eine Küchenschürze, deren Blumenmuster schon so vergilbt war, dass man Mühe hatte, das Muster zu erkennen. Beflissen lauschte ich ihren Geschichten und Weisheiten, während sie das Gemüse schnitt und eifrig im Kochtopf rührte. Manchmal hörte ich ihr kaum richtig zu, weil der Duft des frisch zubereiteten Essens in meiner Nase hochkroch und mich daran erinnerte, dass ich Hunger hatte. Wenn sie gute Laune hatte, und die hatte sie öfter, nahm sie die Keksdose vom Schrank. Lächelnd legte sie mir dann zwei dieser herrlich duftenden, selbstgebackenen Nusskekse auf den Küchentisch. Gierig vor Hunger stopfte ich sie mir dann immer gleich in den Mund. Im Winter kam es sogar vor, dass sie sich hinreißen ließ und mir noch vor dem Essen ein Zuckerbrötchen in den Ofen schob. An den Geschmack und Geruch erinnere ich mich noch heute.

Ich weiß, dass ich als Kind oft dachte, wozu sich anstrengen, wenn doch sowieso alles vorbestimmt ist. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich mich nie ganz auf das Leben eingelassen habe. Am glücklichsten war ich, wenn man mich in Ruhe ließ. Meine schönsten Stunden waren die, wenn ich andere beobachten konnte. Manchmal fand ich auch größte Zufriedenheit darin, wenn ich stundenlang auf dem Dachboden saß und meine Nase hinter einem Buch verstecken konnte. Und wenn ich über andere Länder, Kulturen und abenteuerliche Geschichten las, erfüllte es mich auf ganz besondere Weise. Es waren meine Schätze, und sie machten mein bescheidenes Leben schöner und reicher.

Meine Mutter beklagte oft, man müsse mir schon jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, um überhaupt etwas von mir zu hören. Mein Vater war der Ansicht, dass die düstere Stimmung am Tag meiner Geburt auf mich abgefärbt hatte. Er kannte kein anderes Kind, das so gerne mit sich alleine war. Wobei – ein wirklicher Einzelgänger war ich nicht. Ich hatte meine Freunde, aber mehr als zwei oder drei waren es dann doch nie. Sie reichten aber, um mein Dasein perfekt sein zu lassen. Die Gesellschaft in der großen Masse suchte ich selten. Das änderte sich auch nicht, als ich erwachsen wurde. Für die Meisten blieb ich wohl immer so etwas wie ein merkwürdiger Kauz. Als ich mit 19 mein Abitur bestand, klopfte mein Vater mir mit stolzgeschwellter Brust auf die Schulter und sagte: »Junge, jetzt fängt dein Leben erst so richtig an. Mach was draus.« Was er darunter verstand, blieb er mir als Antwort schuldig.

Natürlich hatte ich mir Gedanken gemacht, wie meine Zukunft aussehen sollte. Doch bis auf die Tatsache, dass ich studieren wollte, stand eigentlich rein gar nichts fest. Dabei standen mir – mein Abitur war eines der besten meines Jahrganges – Tür und Tor offen. Vom Wehrdienst war ich freigestellt. Eine alte und noch immer nicht ausgeheilte Erkrankung aus Kindertagen hatte mich für den Dienst untauglich gemacht.

Anfänglich dachte ich daran, in die Forschung zu gehen. Doch dann, eines Abends, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Schon immer hatten mich Menschen fasziniert. Warum also nicht ein Studium in dieser Richtung? Und so schrieb ich im Frühling 1968 verschiedene Universitäten an und erhielt kurz darauf eine Zusage der Universität Freiburg. Von nun an war ich also Student der Geistes- und Sozialwissenschaft. Dass ich auch hier bald als Sonderling galt, störte mich wenig. Dennoch lud man mich hin und wieder zu einer dieser völlig verrückten Studentenpartys ein. Zwar hielt ich mich nach wie vor von allem zurück, was auch nur im Entferntesten mit späteren Unannehmlichkeiten hätte verbunden sein können. Auch vermied ich es, allzu viel über mich zu erzählen. Doch irgendwie genoss ich diese Zeit und fand Gefallen daran.

Auf einer dieser Feiern lernte ich dann meine spätere Frau kennen. »Mein Gott, wie schön sie ist!«, war alles, woran ich dachte, als sie mit ihren braunen langen Haaren, mit scheinbar nie enden wollenden Beinen, vor mir stand und mich ansprach. Ich, der Tagträumer und Sonderling, schien ihr Interesse geweckt zu haben. Kaum konnte ich es fassen. Ehe ich mich versah, war ich verliebt bis über beide Ohren. Wer den Film »Love Story« kennt, kann sich in etwa vorstellen, wie es zwischen ihr und mir war.

Doch unser Schicksal war ein anderes. Anfänglich schien die Sache mit uns beiden zu funktionieren. Kurz vor unserem Examen – ich in Sozialpsychologie und sie als Lehrerin für Deutsch und Geschichte – zogen wir in unsere erste gemeinsame Wohnung. Lange blieben wir jedoch nicht in Freiburg. Schon im darauffolgenden Sommer erhielt ich die Möglichkeit, an einer wissenschaftlichen Studie in Hamburg mitzuarbeiten. Für sie fand sich dort eine Stelle als Referendarin. Wir zogen also um, und ich lebe seit diesem Umzug in Hamburg. Das ist in gewisser Weise eine Kontinuität in meinem Leben. Wenig später heirateten meine Freundin und ich, wir fühlten uns vom Glück unendlich reich beschenkt.

Waren wir wirklich glücklich? Von meiner Seite aus gesehen sicherlich, denn ich hatte ja alles, was ich brauchte. Mein Verhältnis zu anderen Menschen, vor allen Dingen jedoch zu mir selber, hatte sich nicht grundlegend geändert. Doch mit den Jahren lernte ich, damit zu leben. Mit stoischer Gelassenheit ließ ich die Abende mit Freunden, die allesamt mehr Freunde von ihr als von mir waren, über mich ergehen. Ich sah sie mehr als Übungszwecke für meine Studien als eine Bereicherung für mein Leben. Über mich, worüber ich nachdachte, welche Sehnsüchte und Träume ich besaß, darüber sprach ich nie. Nicht einmal meiner Frau gegenüber konnte ich mich öffnen und blieb ihr gegenüber ein verschlossener Mensch

Wenn ich ehrlich bin, galt mein einziges Interesse meiner Arbeit. Kaum nahm ich wahr, wie sich meine Ehe und die Frau, die ich doch liebte, veränderten. Ich sah nicht, dass ich meiner Arbeit mehr Zeit und Beachtung schenkte als unseren Bedürfnissen. Böse Zungen würden behaupten, ich sei ein selbstgefälliger Egoist. Mag sein, dass ich das war oder noch heute bin. Doch es änderte nichts daran, dass ich weder ihr noch mir die Aufmerksamkeit schenkte, die wir gebraucht hätten, um wirklich glücklich zu sein. Eines Tages erhielt ich dafür die Quittung. Das Leben gewann das Spiel, und ich wurde mit einem Zug schachmatt gesetzt.

Nach vielen gemeinsamen – und dennoch für sie einsamen – Jahren verließ mich meine Frau von einem Tag auf den anderen. Doch anstatt mein Leben, nein: mich zu ändern, machte ich weiter wie bisher und füllte meine Tage mit dem Einzigen, was mir geblieben war. Meine Arbeit wurde zu meinem Lebensmittelpunkt und mit der Zeit zur einzigen Geliebten, die ich hatte.

Um zu wissen, wer man ist und zu wem man geworden ist, reicht es nicht aus, nur auf sein vergangenes Leben zurückzublicken. Man muss, um wirklich Änderungen herbeizuführen, sich selbst und die Dinge, die man getan oder unterlassen hat, in Frage stellen.

Das hatte ich nie getan. Heute weiß ich, dass meine Tante mit ihrem Glauben irrte. Es stimmt nicht, dass einem das Leben vorbestimmt ist. Es gibt keine Macht, die das steuert; und noch viel weniger können andere Menschen maßgeblich etwas an einem verändern, solange man nicht selber bereit ist, deren Hilfe anzunehmen. Der Einzige, der wirklich in der Lage ist, sein Leben zu ändern, ist man selbst.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, gab es viele Menschen in meinem Leben, die es gut mit mir meinten. Und doch habe ich jede Kritik und jeden noch so gut gemeinten Ratschlag ausgeschlagen, habe ebenso viele gute Gelegenheiten zur Änderung unnütz verstreichen lassen. Stur zog ich meine Bahnen wie ein einsamer Vogel. Ich glaubte, mit meiner Art, in der ich mich anderen gegenüber verhielt, im Recht zu sein. Ich machte es mir zum Prinzip, von anderen alles zu erfahren, behielt aber all das, was mich betraf, für mich. Ja, ich gab mir nicht einmal die Mühe, mich selber zu verstehen.

Ich bin in meinem Leben vielen Menschen begegnet. Manche, bei denen ich das Vergnügen hatte, sie zu treffen, haben mich schockiert, ja beinahe geängstigt, weil mir ihr Denken und Handeln zuwider war. Zu einigen Menschen fühlte ich mich gleich hingezogen. Bei anderen entwickelte sich meine Sympathie erst nach langem und vorsichtigem Abtasten. Manche Begegnungen ereigneten sich rein zufällig. Andere fanden erst nach reiflicher und sorgfältiger Überlegung statt. Die einen hinterließen nur einen schwachen Eindruck, andere brachten es nicht einmal fertig, mich überhaupt zu berühren, ja, sie streiften nicht einmal meinen Horizont und waren ebenso rasch wieder verschwunden, wie sie in mein Leben getreten waren. Doch so unterschiedlich sie auch alle waren, hatten sie dennoch am Ende eines gemeinsam. Keinem hatte ich Einlass in mein Seelenleben gewährt, weder denen, für die ich Liebe und Freundschaft empfand, noch denen, für die ich nur Verachtung und Abscheu übrig hatte. Ja, selbst mir blieb über Jahrzehnte die Tür zu meiner Seele verschlossen.

Erst der Begegnung mit einer ebenso schönen wie auch geheimnisvollen Frau habe ich es zu verdanken, dass ich zum ersten Mal anfing, über mich nachzudenken. Erst die Bekanntschaft dieser Frau gab meinem Leben eine andere Wendung. Susan streifte nicht nur meine Oberfläche. Sie kroch tief in mich hinein und hinterließ fühlbare Spuren. Diese Spuren spürte ich in mir, egal wo ich mich auch befand oder was ich auch tat, über viele Monate hinweg. Durch Susan durchlebte ich größte Qualen, aber letztendlich führte sie mich zu einem befriedigenden und wundervollen Glücksgefühl. Sie brachte es fertig, dass ich unter meine Schale sah und mein Inneres nach außen kehrte. Sie ist die Frau, die zu treffen mein größtes Glück und zugleich mein größtes Unglück war, und durch die seltsame Geschichte, von der ich hier erzählen möchte, fand ich den Mut, ein neues Leben zu beginnen.

Die Sklavin im Zug

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