Читать книгу Die polyglotten Liebhaber - Lina Wolff - Страница 4

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Dass ich mal im Internet nach dem Richtigen suchen würde, hätte ich nie gedacht. Mir war das immer so kommerziell vorgekommen, und außerdem hatte ich noch nie eine Kontaktanzeige oder so was geschrieben, ich wusste also gar nicht, wie man sich schriftlich verkauft. Meine Freunde waren immer ganz gewöhnliche Jungs aus dem Dorf gewesen. Der erste zum Beispiel hieß Johnny, und eigentlich wirkte er völlig normal, aber dann entpuppte er sich als totaler Psycho. Wir gingen in dieselbe Klasse, und alles fing damit an, dass er mich fragte: »Gibt es irgendwas, was du dir schon immer von einem Mann gewünscht hast?«

Ich schätze, er hatte das aus irgendeinem Film, und offensichtlich hielt er sich allen Ernstes schon damals für einen Mann. Außerdem schätze ich, dass er eine ganz andere Antwort erwartet hatte. Etwas wie: »Ja, ich wünsche mir nichts sehnlicher als einen Mann, bei dem ich im Bett alle Hemmungen verliere.« Oder zumindest irgendeinen konkreten Wunsch, der ihm auf die Sprünge helfen würde. Stattdessen sagte ich: »Ich wollte schon immer lernen, wie man sich so richtig prügelt.«

Weil er nicht so blöd glotzte, wie ich erwartet hatte, fügte ich noch hinzu: »Wie man sich richtig krass prügelt.«

Johnny nickte langsam, spuckte auf den Boden und sagte: »Wenn es das ist, was du willst, Schnecke, dann zeig ich’s dir.«

Noch am selben Abend nahm er mich mit in den sogenannten »Kampfclub«. Dahinter steckten ein paar Leute, die Fight Club gesehen und sich davon hatten inspirieren lassen, doch im Gegensatz zu den Figuren im Film beherrschten sie tatsächlich einige Kampfsportarten und trafen sich dreimal die Woche, um miteinander zu kämpfen. Jeder gegen jeden. Man ging durch eine Tür im Untergeschoss einer Schule und weiter in den Keller. Die Wände waren von oben bis unten mit orange-braunen Fliesen gekachelt, die sonderbar matt waren und im Gegensatz zu gewöhnlichen Fliesen alle Geräusche verschluckten. Ein Gang führte tief in den Keller hinein. Keiner sagte etwas, alle waren barfuß und trugen ihre Sporttaschen geschultert. Außer der Lüftung war nichts zu hören. Irgendwann kam eine Turnhalle, und dort waren sie, die Leute aus unserem Dorf, die sich prügeln wollten. Als Erstes wurde ein provisorischer Ringrichter ernannt, dann gab es ein gemeinsames Warm-up. Alle waren gelenkig, selbst die Jungs, und keiner schämte sich für einen Quer- oder Seitspagat. Ließ jemand einen fahren, durfte man unter keinen Umständen lachen, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Dann wurde gekämpft. Ich war die einzige Anfängerin, aber ich hatte etwas, was die anderen nicht hatten, nämlich Todesangst. »Angst verschafft dir einen Vorteil«, erklärte Johnny. Hat man so eine richtige Scheißangst, meinte er, gewinnt man die Oberhand, weil der Körper cleverer ist, als man glaubt, man muss einfach auf Autopilot schalten, dann ist man zu nahezu allem imstande. Man darf nur nicht den Moment verpassen, in dem man die Kontrolle wieder übernehmen muss.

»Die meisten Menschen werden nicht wütend, weil sie angegriffen werden«, sagte Johnny, »sondern weil sie nicht wissen, wie sie sich verteidigen sollen.«

Johnny konnte sich nicht nur prügeln, er konnte auch schießen, und manchmal fuhren wir zu einem Schießstand an der Straße zwischen unserem und dem nächsten Dorf. Wir setzten uns orangefarbene Ohrenschützer auf und drehten eine Runde, guckten uns erst die Leute mit den Pistolen an, dann die mit den Gewehren. Johnny zeigte mir, wie man sich breitbeinig hinstellte, die Büchse hob und auf Tontauben schoss. Erst an einem Simulator, dann in echt. Eines Tages erklärte er, jetzt könne er mich zum Jagen mitnehmen. Er redete ständig von der Jagd, dass man mitten in der Nacht los und sein Nachtsichtvermögen schärfen müsse und keinen Mucks von sich geben dürfe.

Als ich zum Jagen mitfuhr, fiel nur ein einziger Schuss, auf ein Wildschwein. Der Knall bohrte sich durch die Stille, wir hörten, wie das Schwein weiterlief, schwerfälliger als zuvor, ringsherum knackten die Zweige, und irgendwann klang es, als schleppte sich das Vieh mühsam durchs Dickicht, ängstlich, weil es wusste, dass es jetzt sterben würde. Als wir vorgingen, richtete Johnny seine Taschenlampe nach oben. Ich sah, wie die Buchen ihre kahlen Zweige zum Himmel reckten wie lange, dunkle Knochen. Johnny nahm meine Hand, klemmte die Taschenlampe zwischen die Knie und fuhr sich mit der freien Hand über den kahlen Schädel, immer und immer wieder, und ich wollte ihn fragen, was das solle, hielt aber die Klappe. Gerade als er mir etwas ins Ohr flüstern wollte, es kam mir so vor, als würde es etwas Großes sein, etwas, was mit uns zu tun hatte, rief einer der anderen Jäger, er habe das Schwein gefunden. Er leuchtete mit einer Taschenlampe drauf. Perfekter Blattschuss, Blut pumpte aus der Wunde und rann über die schwarzen Borsten. Die Sau war so groß, dass wir sie mit vereinten Kräften an einer Stange festgebunden zum Pick-up schleppen mussten. Am nächsten Tag sollte sie auf dem Hof von Johnnys Kumpel zerteilt werden. Wir fuhren nach dem Frühstück hin, und als wir ankamen, war alles voller Blut und Schweineborsten, weil keiner wusste, wie man ein Wildschwein zerlegte. Alle stachen wie wild auf die Sau ein, und die ganze Zeit hieß es, wir müssten uns beeilen. Ich fuhr nie wieder mit zum Wildern.

Eines Abends sagte ich zu Johnny, wenn er bereit sei, sei ich es auch. Er lächelte mich an, und da merkte ich zum ersten Mal, wie groß und weiß seine Zähne waren, wie perfekt in den Mund geklebte Zuckerwürfel, ein seltsamer Kontrast zu seinem restlichen Gesicht, das uneben war, voller Aknenarben. Wir fickten auf der Ladefläche seines Pick-ups, und die Jacke, die er mir unter den Hintern schob, war hinterher klebrig von Blut.

»Normalerweise bluten Mädchen heutzutage nicht mehr«, hatte die Schulkrankenschwester uns in Sexualkunde erklärt. »Sie reiten, fahren Fahrrad, hüpfen und hopsen herum und haben deshalb kein Jungfernhäutchen mehr.«

Offenbar war meine Jugend ungewöhnlich ruhig verlaufen, denn mein Jungfernhäutchen war definitiv noch da. Johnny schien sich vor dem Blut nicht zu ekeln, im Gegenteil, er kam nach ein paar Sekunden. Als er fertig war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Schon da war mir klar, dass man sich vor Johnny in Acht nehmen musste. Natürlich neigte er wie die meisten Jungs in unserer Gegend zu Gewalt, war ungebildet und notgeil und würde es immer bleiben. Aber da war noch mehr.

»Ich wusste nicht, dass du noch Jungfrau warst«, sagte er.

»Und du?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete er, »ich auch.«

Dann schaute er auf seine eingesaute Jacke und sagte: »Na ja. Irgendwo muss man ja anfangen.«

Beim nächsten Mal klappte es schon besser. Ganz zu schweigen vom dritten, vierten, fünften Mal. Da meinte Johnny, wir würden ficken wie Pornostars.

Mit sechzehn brach ich Johnny mit dem Handrücken die Nase. Nicht mit Absicht, ich hatte es nicht darauf angelegt oder so, mein Arm war einfach reflexartig nach vorn geschossen, mit Kampfsport hatte das überhaupt nichts zu tun. Es gab jedenfalls ein Riesentamtam, wir gingen ja noch aufs Gymnasium, alle bekamen prompt Wind von der Sache, die Lehrer, die Schulkrankenschwester, Johnnys und meine Eltern.

Johnnys Mutter sagte: »Ich will nicht, dass du dieses Mädchen noch mal wiedersiehst.«

Wir standen auf dem Schulhof, das Blut strömte aus Johnnys Nase. Seine Mutter war sofort hergekommen, als sie von der Sache erfahren hatte, und jetzt stand sie vor mir und sah mich giftig an.

»Mama, Ellinor ist kein Mädchen«, entgegnete Johnny. »Sie ist eine Dame. Und was für eine.«

Er lächelte mir zu, sein Pony hing ihm in die Augen.

»Und was für eine Dame«, wiederholte er und lächelte noch breiter mit seinen Zuckerwürfeln.

Ich hatte Lust, ihm zu sagen: Grins nicht so blöd, weißt du noch, wie du dich an meinem Blut aufgegeilt hast? Du bist ein Psycho, Johnny, und was für einer. All das wollte ich ihm sagen, aber stattdessen überkam mich plötzlich ein anderes Gefühl, wahrscheinlich wegen seiner blutigen Nase, ich ging jedenfalls zu ihm hin und nahm ihn in den Arm. Eine ziemlich ungewöhnliche Geste für uns. Wir machten alles zusammen. Halfen uns mit den Jagdgewehren und anderen Waffen, kämpften, vögelten, aber in den Arm nahmen wir uns nie. Doch jetzt taten wir es, und ich spürte, wie sein warmes Blut auf meinen Hals tropfte.

»Jetzt kannst du alles, was ich dir beibringen wollte«, sagte er. Und wenn ich das, was er mir beigebracht hatte, noch einmal gegen ihn einsetzte, sagte er, würde er keine Sekunde lang zögern, mich zusammenzuschlagen.

»Wenn du’s schaffst«, erwiderte ich.

»Stell mich nicht auf die Probe«, sagte er, und sein Blick wurde finster.

Bald wurde unser Sex routiniert, wobei, vielleicht war routiniert damals noch nicht das richtige Wort.

»Wir fahren zu mir«, sagte er dann zum Beispiel lakonisch, während er mir die Hand zwischen die Beine schob.

Zu ihm, das hieß in die Jagdhütte seines Vaters, wo wir ganz für uns waren. Eine kleine Hütte mit hölzernen Wandpaneelen und knallgelben, weiß abgesetzten Vorhängen, die wahrscheinlich seine Mutter dort aufgehängt hatte. Es gab zwei kleine Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Kamin.

Als wir in eins der Schlafzimmer gingen, sagte er: »Zieh dich aus und leg dich aufs Bett.«

Ich tat es, während Johnny in die Küche ging und Kaffee kochte. Dann kam er mit einem Kaffeebecher zurück, zog einen Stuhl vors Bett, trank und guckte mich an, wie ich mit gespreizten Beinen auf dem Rücken dalag. Ich hatte das Gefühl, er könnte direkt in mich reinschauen, in mein Innerstes, wenn man das so sagen kann, als gäbe es da drinnen einen dunklen Kanal, dem man folgen konnte, ohne zu wissen, wo man wieder rauskam.

»Musst du mich so anstarren?«, fragte ich.

»Denk an die Pornostars. Die haben kein Problem damit, sich so zu zeigen.«

»Denk dran, dass ich dir mal die Nase gebrochen habe«, antwortete ich.

»Du bist echt zum Anbeißen«, sagte er und hob seinen Kaffeebecher, als wollte er mir zuprosten.

Dann saß er einfach nur da und trank seinen Kaffee. Als der Becher leer war, stellte er ihn auf ein Bücherregal und knöpfte sich die Hose auf.

»Wann kann ich dich mal in den Po ficken?«, stöhnte er eines Tages, als wir gerade vögelten.

»Wäre ich ein Lastwagenfahrer«, antwortete ich, »würde ich meinen Wagen nie in der Kanalisation parken, wenn es obendrüber eine schöne, bequeme Garage gibt.« Johnny lachte und fragte mich nie wieder danach.

Irgendwann legte ich ein paar Kilo zu. Ich wurde nie richtig dick, aber dick genug, dass Johnny mich nicht mehr attraktiv fand. Wir trafen uns immer seltener, und irgendwann meldete er sich überhaupt nicht mehr. Eines Tages fasste ich mir ein Herz und rief ihn an.

»Sollen wir mal wieder zum Schießen fahren?«, fragte ich. »Oder uns prügeln gehen?«

Da rückte er damit heraus, dass er eine andere kennengelernt hatte. Später sah ich ihn mit ihr im Dorf. Sie war sportlich und schlank und hatte langes dunkles Haar, das ihr in einem Pferdeschwanz über den Rücken fiel. Ich überlegte, wie es wohl bei den beiden im Bett lief, ob er kaffeetrinkend am Fußende hockte und sie anglotzte, und wenn ja, was sie davon hielt.

Auch danach ging ich weiter in den Kampfclub. Während andere Leute Bridge spielen, im Chor singen oder ein paar Abende in der Woche tanzen gehen, um sich darüber hinwegzutrösten, dass sie älter werden, um sich an etwas festzuklammern oder weil es zumindest die Symptome des Älterwerdens ein bisschen abmildert, ging ich zu den Leuten im Keller. Das Kämpfen tat gut, und je älter ich wurde, desto besser wurde ich. Beim Kämpfen kann sich keiner was auf seine Jugend oder Schönheit einbilden, beim Kämpfen kriegst du nichts geschenkt, du musst dir alles hart erarbeiten. Als ich mich später mit Leuten anfreundete, die nicht aus dem Dorf kamen, fehlte ihnen jedes Verständnis, warum ich meine Zeit so verbrachte, wo ich doch stattdessen ein gutes Buch hätte lesen, mich mit netten Leuten treffen oder ein Glas Wein trinken können.

»Es gibt kaum was Besseres im Leben, als sich zu prügeln«, erwiderte ich dann.

Mir war klar, wie das in ihren Ohren klingen musste, trotzdem halte ich es nach wie vor für wahr. Nie bin ich einem anderen Menschen so nah gewesen wie damals im Keller. Es hängt mit der Konzentration zusammen, damit, wie man in den Augen seines Gegners liest. Beim Sex ist das anders. Es gibt Menschen, die sich mit zusammengekniffenen Augen durchs Leben wichsen, die es sich mal selbst besorgen, mal einem anderen, ohne dass in ihren Köpfen irgendwas passiert. Stehst du dagegen vor deinem Gegner, schaust du in gewissen Momenten geradewegs in ihn hinein und erkennst, wer er oder sie ist. Außerdem, und das hab ich auch meinen Freunden gesagt, ist man nicht wirklich alt, solange man jemandem, der größer ist als man selbst, eins aufs Maul geben kann.

Hin und wieder musste ich an Johnny denken, und was für ein Psycho er war. Damals wurde mir klar, dass es nicht darauf ankommt, bei Verstand zu bleiben. Es kommt darauf an, nicht einsam zu sein.

Die polyglotten Liebhaber

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