Читать книгу Die polyglotten Liebhaber - Lina Wolff - Страница 6
ОглавлениеAuf der Dating-Seite schickten die Leute häufig Bilder von sich. Manche von Autos und Segelbooten und den riesigen Flachbildfernsehern, die sie im Wohnzimmer hatten. Andere von ihren Geschlechtsteilen. Ich bekam viele Komplimente für mein Profilbild. Dass ich solche Schmeicheleien nicht gewohnt war, machte mich natürlich besonders anfällig. Ich saß da, lächelte in mich hinein und dachte, vielleicht sehe ich ja doch gar nicht so schlecht aus. Andererseits wusste ich, dass ich keinen Grund hatte, mich geschmeichelt zu fühlen. Hier ging es um etwas anderes, das überhaupt nichts mit mir zu tun hatte. Einem der Männer antwortete ich:
Danke für Deine Antwort, aber mach Dir bitte keine falschen Hoffnungen. Ich bin sechsunddreißig, und das Bild wurde bei Kerzenschein geknipst … Hier hast Du ein richtiges.
Ich machte ein Foto von mir in Slip und BH bei Tageslicht (den Kopf retuschierte ich weg) und schickte es ihm. Ich will nicht ins Detail gehen, aber vorteilhaft war das Bild bestimmt nicht, und als ich mir vorstellte, wie es den Mann abturnen würde, musste ich lachen. Doch ein paar Minuten später antwortete er:
Mal abgesehen davon, dass wir aufgrund Deines Alters hochinteressante Gespräche führen könnten und Du bestimmt in der Lage bist, ein exquisites Abendessen zuzubereiten (den Wein wähle ich aus), nehme ich an, dass Dein Körper, an dem sich vermutlich schon viele erfreut haben, unzählige Möglichkeiten birgt. Dein Unterleib ist sicher ein Reservoir schmutziger Aktivitäten, an denen auch ich mich erfreuen könnte.
Du Bastard!, antwortete ich postwendend.
Trotzdem blieb ich vor dem Computer sitzen. Um ehrlich zu sein: Ich war neugierig. Neugierig auf den Mann, aber auch auf die Männer im Allgemeinen. Je besser man sie kennenlernt, desto weniger versteht man sie, und trotzdem lässt man sich auf sie ein. Und ich meine nicht nur sexuell. Ich zog jedenfalls in Betracht, die Unterhaltung fortzusetzen. Was der Mann schrieb, deutete ohne Zweifel darauf hin, dass er durch und durch hässlich war, und trotzdem schien er sich für nichts zu schämen. So ein Abenteuer in der dunklen Jahreszeit täte mir sicher gut, dachte ich, denn im Winter zieht die Dunkelheit mich immer so runter.
Wann können wir uns treffen?, schrieb ich.
In drei Wochen, antwortete er.
Wie heißt Du und wo wohnst Du?, fragte ich.
Calisto, ich wohne in Stockholm, antwortete er.
Calisto?, fragte ich.
Meine Mutter war Katholikin, schrieb er, aber ich kapierte nicht, was das erklären sollte.
Dein Name erinnert mich an irgendwas, schrieb ich zurück, bekam aber keine Antwort.
Ich buche Zugtickets und ein Hotelzimmer, fuhr ich fort.
Du kannst gern bei mir wohnen, antwortete er, aber ich lehnte dankend ab.
Ende Januar kam der Tag, an dem ich zu Calisto fahren sollte. Im Wetterbericht war ein Schneesturm vorhergesagt worden. Er sollte von Süden kommen, wie ein Besen übers Land hinwegfegen und alles mit sich reißen, sodass die Tannen wie Mikadostäbchen auf die Hochspannungsleitungen fallen würden. Sagten sie jedenfalls im Fernsehen. Die Leute auf dem Land würden tage-, vielleicht wochenlang ohne Strom auskommen müssen. Ich glich meine Reiseverbindung mit der Wettervorhersage ab. Wenn ich wie geplant um die Mittagszeit Richtung Norden fuhr, würde ich dem Unwetter vielleicht zuvorkommen. Wenn der Sturm Stockholm erreichte, säße ich längst in irgendeiner Kneipe. Wahrscheinlich wäre ich schon ein bisschen beschwipst, und wahrscheinlich würde Calisto mir Gesellschaft leisten.
Also machte ich mich wie geplant auf den Weg. Zuerst fuhr ich mit dem Bus nach Malmö. Ich bin schon immer gern gereist. Wenn der Bus unser Dorf hinter sich gelassen hat und an den Äckern vorbei Richtung Lund fährt, scheint plötzlich alles möglich, als wäre ich ein Trichter, in den nun unzählige Möglichkeiten hineingekippt werden. Der Zug rollte aus dem Bahnhof und fuhr quer durch Schonen. Die Laubwälder wichen Tannen und Kiefern, die immer wieder den Blick auf längliche, dunkle Seen entlang der Gleise freigaben. Es war ganz still im Zug. Ich saß auf meinem Platz und fragte mich, was nach meiner Ankunft wohl passieren würde. Wie Calisto aussah, was er arbeitete, ob wir Sex haben würden und wenn ja, was für einen. Ich war nervös, beschloss aber, das zu tun, was ich immer tat, wenn ich mich unsicher fühlte: Ich würde einfach die Klappe halten, bis ich genau wusste, wo der Hase langlief. Ich bin schon immer der Meinung gewesen, dass der Mann die Initiative ergreifen muss. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die in die Offensive gehen und die Männer scharfmachen. Für mich ist der anstrengendste Teil der, bevor man sich auszieht, ist das erledigt, bin ich eigentlich ganz locker.
Ich schlief ein und wachte erst auf, als wir durch die Tunnel südlich von Stockholm fuhren. Plötzlich hatte ich Druck auf den Ohren, und nur wenige Dezimeter vor dem Fenster zogen in schwindelerregender Geschwindigkeit die Felswände vorbei. Dann rollten wir aus dem Berg heraus und in die Stadt hinein. Ich war noch nie in Stockholm gewesen und wusste nicht, was mich dort erwartete. Im Waggon war es immer noch still, ich sah mich um, und alle anderen Passagiere blickten nach draußen. Es dämmerte, und der Himmel war in Orange- und Blautöne getaucht. Wir fuhren über Brücken, waren umgeben von Wasser, Felsen und Gebäuden mit Kupferdächern. Das Wasser breitete sich in alle Richtungen aus, hier und da von Eis bedeckt, und in einiger Entfernung ließ sich das offene Meer erahnen. Bestimmt sind die Menschen hier glücklich, dachte ich. Wer hier wohnt, ist gesund und munter. Bestimmt sitzen die Leute hinter großen Fensterfronten und trinken teuren Kaffee. Sie lassen den Blick über die Hügel, das Meer und die Stadt schweifen, die eine für den Rest der Welt völlig surreale Kombination bilden. Als ich aus dem Zug stieg, kamen mir die Leute verbissen und perfekt vor, wie Klone in einem Horrorfilm. Ich bekam schlechte Laune. Und Heimweh. Ich sehnte mich nach meinem Heimatdorf oder wenigstens nach Kopenhagen. In Kopenhagen schnurren gleich neben dem Bahnhof die Riesenräder des Tivoli, und in der Luft liegt der Geruch von Urin, Rauch und Waffeln.
Ich checkte in meinem Hotel im Stadtzentrum ein. Mein Zimmer lag im Keller und hatte kein Fenster, aber immerhin gab es auf derselben Etage eine Sauna. Dort saß ich lange, duschte abwechselnd warm und kalt, ging zurück in mein Zimmer, krabbelte ins Bett und schlief ein. Als ich aufwachte, war es neun Uhr abends und mein fensterloses Zimmer stockduster. Ich stand auf, ging ins Bad, das immer noch unter Wasser stand, und schminkte mich. Ich trug reichlich Make-up auf, bis mir einfiel, dass stark geschminkte Frauen schnell unsicher wirken, also griff ich nach einem Stück feuchtem Toilettenpapier und wischte ein bisschen vom Make-up weg. Dann schrieb ich Calisto, ich sei gut angekommen, hätte gerade geduscht und könne ihn jetzt treffen.
Wir treffen uns im Pharmarium, antwortete er ein paar Minuten später. Setz Dich an die Bar und tu so, als wärst Du käuflich, dann finde ich Dich.
Ich erkundigte mich an der Rezeption nach diesem Pharmarium. Nachdem ich eine Wegbeschreibung bekommen hatte, wickelte ich mir einen Schal um den Kopf und ging los.
Während ich in der Sauna gesessen und mein Schläfchen gehalten hatte, war ein kräftiger Sturm aufgezogen. Die Winter in Stockholm sind eisig kalt, und draußen vor dem Hoteleingang kam es mir so vor, als würde der Wind über den Boden kriechen, um sich dann ruckartig in die Höhe zu schrauben und ein paar Handvoll Pulverschnee in die Luft zu schleudern. Ich ging über eine Brücke und kam auf eine andere Insel. Dort gab es hohe Gebäude mit Backsteinfassaden und grünspanüberzogenen Dächern. Der Anblick war Respekt einflößend und idyllisch zugleich. Trotz Schnee und Kälte spazierten ein paar Leute einfach so umher. Ich kam zu einem Platz mit einer Kirche. Drumherum lagen vier Kneipen oder Bars, und eine davon war das Pharmarium. Der Eingang sah nicht besonders einladend aus, doch als ich meinen Kopf zur Tür hineinsteckte, stellte ich fest, dass der Laden ganz nach meinem Geschmack war. Die Decke war niedrig, und es war angenehm warm. Die Menschen saßen in Grüppchen an langen Tischen, und an den Wänden hingen bunte Tücher. Ansonsten erinnerte das Lokal an eine altmodische Apotheke mit Schubladenschränken aus dunklem Holz, die der Einrichtung einen alchemistischen Touch verliehen.
Setz Dich an die Bar und tu so, als wärst Du käuflich, dann finde ich Dich, hatte Calisto geschrieben. Ich zog den Mantel aus, nahm den Schal ab und setzte mich an die Bar. Bestellte einen Drink beim Bartender, sagte, ich wolle »seine Spezialität«, und bekam ein starkes, saures Zeug, das ich hastig kippte, um meine Nervosität zu vertreiben. Nach zehn Minuten kam ein Mann auf mich zu und stellte sich als Calisto vor.
»Bist du Ellinor?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich.
»Ich bin Calisto.«
»Hallo«, sagte ich.
Calisto hatte Übergewicht, fettige Haare und war offensichtlich betrunken.
»Du hast wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ich so dick bin«, sagte er nach einer Weile.
»Nein«, antwortete ich.
»Bist du enttäuscht?«, fragte er.
»Ich hab noch nie Probleme mit Fett gehabt.«
»Gut«, sagte Calisto und bestellte ein Bier.
Während er trank, schwiegen wir.
»Kommst du mit zu mir?«, fragte er dann.
Mein fensterloses Hotelzimmer konnte ich ihm natürlich nicht vorschlagen, und obwohl ich mir vorgestellt hatte, wir würden irgendwo zu Abend essen, bevor unser Treffen in die nächste Phase überging, willigte ich ein. Wir schlenderten durch die Gassen, und als wir eine große Straße erreichten, hielt Calisto ein Taxi an. Die Fahrt war lang, wir fuhren zuerst aus der Innenstadt raus und dann eine breite Straße am Meer entlang, bis wir eine Gegend mit großen Einfamilienhäusern auf Felsabsätzen am Wasser erreichten.
»Nicht übel«, sagte ich. »Hier wohnst du? Wie heißt die Gegend?«
»Saltsjöbaden«, antwortete Calisto.
»Bist du reich?«
»Reich?«, fragte er, als würde er das Wort nicht kennen.
»Na, die Gegend sieht ziemlich schnieke aus«, sagte ich.
»Schnieke?«, fragte Calisto und schaute aus dem Fenster. »Ich dachte, das Wort benutzt keiner mehr.«
Seine Stimme hatte einen neuen Ton angenommen, es klang, als hätte sich ihm der Hals zugeschnürt. Vielleicht gefiel ich ihm doch nicht so gut, wie er es sich erhofft hatte. Er gefiel mir ja auch nicht so gut wie erhofft, und die ganze Situation erinnerte mich daran, wie mich als junges Mädchen mal ein Typ dazu überredet hatte, mir mit Telefonsex etwas dazuzuverdienen.
Er war aus Malmö gewesen und überzeugt, er habe die »Idee des Jahrhunderts«. Die Menschen sind so furchtbar einsam, sagte er beim Bewerbungsgespräch. Sie sitzen allein in ihren Wohnungen und kaum jemand geht noch vor die Tür, obwohl sich alle nach der großen Liebe sehnen. Alle wollen Sex, sagte er, aber niemand hat Lust, sich fit zu halten, und die Dusche lassen die meisten auch gern mal ausfallen. Mein erster Kunde war ein Fernsehkoch. Dass eine Anfängerin wie ich einen Promi, eine richtige Kulturpersönlichkeit abbekam, war ziemlich ungewöhnlich. Der Koch hatte sich ein Mädchen gewünscht, das noch keine Routine hatte und das Ganze zum ersten Mal machte, so wie er auch. Ich weiß noch genau, wie es sich anhörte, wenn er kam. Er schrie dann immer laut, und der Schrei hallte in seiner Wohnung wider. Auch im Hörer hallte es einen Moment lang nach, als würde sich der Schrei festkrallen, erst in seiner Wohnung, dann im Telefonhörer. Das Echo ließ ihn noch einsamer wirken, und es kam mir so vor, als würde ich die Einsamkeit mit ihm teilen, aber diese Art von Einsamkeit verschwand nicht, wenn man sie mit jemandem teilte, im Gegenteil, sie verdoppelte sich, es war, als würde seine Einsamkeit größer, nur weil wir miteinander sprachen. Wir machten mit den Telefonaten weiter, und nach ein paar Wochen bat er mich, ihn zu dominieren. Ich antwortete, ich hätte das noch nie gemacht und wisse nicht, wie das gehe. »Behandel mich wie einen Hund«, sagte er da. »Ich hab nie einen Hund gehabt«, antwortete ich, »aber wenn ich einen hätte, wäre ich sicher gut zu ihm, besser als zu mir selbst. Ich kann kein Tier leiden sehen«, sagte ich, und da riss sein Geduldsfaden. »Behandel mich wie ein Stück Scheiße«, befahl er. »Du hast doch bestimmt schon mal jemanden wie ein Stück Scheiße behandelt?« Für einen Moment saß ich still da und grübelte, dann atmete ich tief durch und sagte mit zitternder Stimme: »Halt die Fresse und tu, was ich sage!« Einen Augenblick lang war es still in der Leitung, dann verwandelte er sich in die Unterwürfigkeit in Person. Ich will nicht näher ins Detail gehen, denn obwohl es schon ewig her ist, ist mir immer noch unangenehm, wie seine Persönlichkeit plötzlich kippte. Außerdem wusste ich damals noch nicht, ob ich das Ganze ziemlich abgefahren oder ziemlich abstoßend finden sollte. Mir wurde jedenfalls klar, dass es verschiedene Arten gibt, jemanden zu unterwerfen, und eine ist, den anderen wie ein Stück Scheiße zu behandeln. Wenn dir das gelingt, hast du die Kontrolle über ihn, du musst nur dafür sorgen, dass sein allergrößter Wunsch darin besteht, dir zu gehorchen, dann kannst du dir nicht nur deine eigene, sondern auch seine Energie zunutze machen. Als würde man auf einem Laufband stehen, das sich in dieselbe Richtung bewegt, in die man läuft, was einem ungeahnte Kräfte verleiht, ohne dass man sich anstrengen muss. Ich fühlte mich anders, nachdem ich ihn dominiert hatte, falls man überhaupt von dominieren sprechen kann, wenn sich alles nur am Telefon abspielt. Ich kam mir größer vor und irgendwie männlich. So fühlt es sich also an, Mann zu sein, dachte ich. Ganz schön anders, so viel stand fest. Danach habe ich beim Training besser gekämpft, glaube ich, ist schwer zu erklären. Und eines Tages sah ich ihn dann im Fernsehen, beim Kuchenbacken. Er stand da und scheuchte die Leute herum: »Schau in den Ofen! Pass auf, dass der Teig nicht zu fest wird!« Ich legte meine Füße auf den Tisch, lehnte mich im Sofa zurück und lachte über die Kuchen, die so durch und durch perfekt waren, ganz anders als seine Persönlichkeit. Manchmal lächelte er in die Kamera. In diesen Momenten fragte ich mich, ob er an mich dachte. Und daran, dass irgendwo da draußen jemand auf dem Sofa saß und geradewegs in sein Inneres sah wie niemand sonst, jemand, der wusste, wer er war, und dass die Kuchen und Kameras bloß Knallfolie, Füllmaterial oder Polster waren, die ein Verlangen umhüllten, das er niemandem offenbaren durfte.
Als ich mit Calisto im Taxi saß, schaute ich jedenfalls aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehenden Häuser, die protzig und irgendwie speziell wirkten, als würden sie mit ihren großen Fenstern aufs Wasser stieren. Dann bog das Taxi in eine schmale Straße ein und fuhr, jetzt langsamer, durch einen Wald, während Calisto und ich wortlos auf dem Rücksitz saßen. Ich musste an seine Nachrichten denken, an die Selbstsicherheit, die er ausgestrahlt hatte und von der jetzt nichts mehr übrig war. Hatte er mir bloß etwas vorgemacht? Ich warf einen Blick aufs Taxameter, um das Calisto sich nicht im geringsten zu kümmern schien. Schließlich hielt das Taxi an, und Calisto bezahlte mit Karte. Wir stiegen aus, er kramte einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss ein Tor auf. Dahinter lag ein Haus mit einer Fassade aus dunklem Holz. Abgesehen von der schwachen Gartenbeleuchtung war es stockfinster. Das Grundstück war von hohen, dunklen Tannen umgeben, und plötzlich kam mir das Meer unendlich weit weg vor, obwohl es direkt hinterm Haus sein musste.
»Hast du’s dir anders überlegt?«, fragte Calisto.
»Nein«, antwortete ich.
»Was, wenn ich ein kaltblütiger Killer bin?«, fragte er lachend.
»Der Barmann hat gesehen, wie wir zusammen weggegangen sind«, sagte ich.
»Die sehen jede Menge Leute«, entgegnete er. »Wenn’s drauf ankommt, erinnern die sich an nichts.«
Ich grinste ihn an, denn Calisto war so ein Mensch, bei dem es unvorstellbar schien, dass er auch nur einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Wir gingen ins Haus, zogen die Schuhe aus, und dann führte er mich rum. Sein Übergewicht erschwerte ihm sichtlich jede Bewegung. Die Zimmer waren spärlich möbliert, die Wände weiß gestrichen. Jedes Mal, wenn wir einen Raum verließen, knipste Calisto das Licht aus. Ob er wohl eine Frau hatte oder mal verheiratet gewesen war?, überlegte ich. Nicht dass das eine Rolle gespielt hätte, und eigentlich hätte ich ihn ja bloß zu fragen brauchen, aber irgendwie schien das unmöglich, als wir durchs Haus gingen, denn er und das Haus schienen von allen Besuchern Respekt und Diskretion zu erwarten. Als hätte man Calistos Revier betreten, und nur er könnte sich hier zurechtfinden. Im Wohnzimmer verkündete er, es sei an der Zeit für ein bisschen Alkohol, er öffnete eine Flasche Hochprozentigen und schenkte uns davon ein. Dann sagte er, es sei »ein bisschen frisch«, woraufhin er Feuer im Kamin machte. Er legte ein Fell davor und zeigte darauf.
»Du kannst dich ausziehen und auf dem Fell auf mich warten.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Zieh dich aus und leg dich aufs Fell. Ich bin gleich wieder da.«
Ich lachte. »Denkst du etwa, ich bin eine Hure?«
»Nein«, sagte er. »Das nicht. Aber wir wissen doch beide, was gleich passiert. Ich bin nicht der Typ für ein langes Vorspiel.«
Als eine Windböe gegen das Fenster peitschte, fuhren wir beide herum und blickten hinaus. Draußen war es so dunkel, dass wir im Fenster nur unser Spiegelbild sahen. Ich musste lachen.
»Wie klein wir aussehen«, sagte ich.
»Ja«, antwortete er. »Ziehst du dich jetzt aus?«
Ich tat es und legte mich aufs Fell. Calisto sah mir mit verschränkten Armen zu. Als ich dachte, er würde sich jetzt neben mich legen, drehte er sich um und verschwand in den Flur. Ich hörte, wie er die Badezimmertür abschloss, und kurz darauf rauschte es in den Rohren. Dann war es eine Weile mucksmäuschenstill. Ich lag da und starrte zur Decke, rollte mich schließlich auf die Seite und beobachtete die Fellhärchen, die sich im Rhythmus meiner Atemzüge bewegten. Plötzlich fiel mir ein, warum mir sein Name so komisch vorkam. Es gab ein Eis, das Calisto hieß. Ich lag da, dachte an das Eis und an Calisto. Daran, wie alt er wohl gewesen war, als das Eis auf den Markt kam. Ob sich Leute, die mehr Durchblick hatten als ich, über seinen Namen lustig machten.
Von der Wärme ganz dösig, dämmerte ich weg, und als ich wach wurde, stand Calisto vor mir, nackt. Zu meinen Füßen, wie ein Berg, und seine Arme hingen schlaff am Körper herunter.
»Ich muss dir etwas beichten«, sagte er und starrte mich an. »Vielleicht hätte ich das gleich sagen sollen, aber ich hatte Angst, dass du mir dann einen Korb gibst.«
»Was denn?«, fragte ich.
»In den letzten Jahren hatte ich ausschließlich Sex, für den ich bezahlt hab.«
»Was?«, fragte ich.
»Es ist schon ewig her, dass jemand aus freien Stücken mit mir zusammen sein wollte. Guck mich doch an! Und es liegt nicht nur an meiner Körperfülle, es liegt an allem.«
Beschämt ließ er eine Hand über den Körper gleiten, und plötzlich sah er ganz klein aus, trotz seines Gewichts. Klein und impotent.
»Ich weiß gar nicht mehr, wie es ist, mit jemandem zusammen zu sein, der einen tatsächlich begehrt«, sagte er und blickte mich entschuldigend an.
Ich wünschte, er hätte nicht davon angefangen. Ich kannte ihn zu wenig, um Mitleid zu haben, und was wir vorhatten, setzte eine gewisse Unbeschwertheit voraus, die von so einem Geständnis vollkommen zunichtegemacht wird. Calisto dagegen schien allmählich seine Hemmungen zu verlieren, und einen Augenblick später legte er sich neben mich. Ich nahm seinen Körpergeruch wahr. Er war mir zwar fremd, aber nicht zuwider.
»Können wir einfach so liegen bleiben?«, fragte er. »Uns erst mal an die Situation gewöhnen?«
Wir lagen da, auf dem Bauch, mit den Füßen zum Feuer. Die Wärme kroch meine Beine hoch, bis in meinen Unterleib, und das Gefühl war ein angenehmer Kontrast zu dem Hagel, der wie Dünung gegen die großen Fenster peitschte. Ich fragte, was er beruflich mache.
»Ich bin Literaturkritiker«, antwortete er.
»Ah«, sagte ich.
Aber hoffentlich nicht so ein dröger Intellektueller, dachte ich. Ich hatte keine Lust, mich vor dem Sex über Literatur zu unterhalten, auf so eine Erfahrung war ich bestimmt nicht aus gewesen. Aber bevor ich ihm das sagen konnte, begann Calisto von einer Sache zu erzählen, die ihm neulich passiert war. Wie die meisten Menschen, die beruflich mit Literatur zu tun hatten, erklärte er, habe er schon als junger Mann einen bestimmten Schriftsteller verehrt. Dieser Schriftsteller sei für ihn immer eine Art treibende Kraft gewesen, im literarischen wie auch im richtigen Leben. Aber jetzt, mit über vierzig, spürte Calisto seit einiger Zeit, dass er mit besagtem Schriftsteller fertig war. Er entdeckte in seinen Texten nichts Neues, konnte keine neuen Erfahrungen sammeln, keine unbekannten Dimensionen betreten. Und Calisto wollte neue Dinge entdecken, er sei so ein Mensch, sagte er, dem ein Leben ohne Weiterentwicklung unerträglich wäre. Er würde mit allem fertig, nur nicht mit Stagnation. Er wollte jung sein in seinem Entdecken. Jung und naiv.
»Verstehst du, was ich meine?«
»Ja«, sagte ich.
Die Naivität, erzählte er weiter, gebe einem das Gefühl, als würde man zum ersten Mal einen Wald betreten, die Tannen sehen, die Luft atmen.
»Wie bei Neruda«, erklärte er. »Verstehst du?«
Um das Ganze abzukürzen: Er brauchte einen neuen Schriftsteller, den er bewundern konnte. Und er hatte jede Menge gelesen, aber schon nach wenigen Seiten war er immer völlig entnervt. Alles kam ihm belanglos und dumm vor. Vor ein paar Wochen war er dann zu einem Empfang eingeladen worden, zu dem auch der Schriftsteller kam, den er früher so verehrt hatte. Eigentlich ließ der sich so gut wie nie in der Öffentlichkeit blicken, und Calisto war ihm deshalb noch nie persönlich begegnet. Aber jetzt stand er vor ihm, mitten im Trubel, hielt lässig ein Glas in der Hand und plauderte wie ein geselliger Mensch, so als wären die Wunden und finsteren Abgründe, die beim Lesen seiner Bücher offensichtlich wurden, nur Fassade. Und ebenso unerwartet kam der Schriftsteller geradewegs auf Calisto zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:
Sie sind Calisto, nicht wahr? Ich bewundere Ihre Artikel. Sie sind einer der wenigen Feuilletonjournalisten, die etwas zu sagen haben.
In dem Moment konnte Calisto sich an keinen Artikel erinnern, den er je geschrieben hatte. Ihm sei bloß ein Text über abgebrannte Häuser in Västmanland eingefallen, erzählte er mir damals auf dem Fell und sah vollkommen verwirrt aus, denn als er vor dem Schriftsteller gestanden habe, sei ihm beim besten Willen nicht eingefallen, was er mit abgebrannten Häusern zu schaffen hatte, aber er hatte weiter geplappert, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, und das, meinte Calisto, sei ein deutliches Indiz für die Begeisterung gewesen, die ihn in diesem Moment gepackt habe. Mit hochrotem Gesicht hatte er vor sich hin gestammelt und dem Schriftsteller seine Bewunderung bekundet. Der hatte bloß mit seinem Glas in der Hand dagestanden und ihn mitleidig angeblickt. Aber fünf Minuten später hatten sie Freundschaft geschlossen. Und zehn Minuten später hatte der Schriftsteller Calisto gebeten, ein Manuskript zu lesen, das er vor kurzem fertiggestellt hatte, und jetzt wäre er dankbar, wenn jemand mit klugen, unvoreingenommenen Augen einen Blick darauf werfen würde.
»Manchmal kommt man dem Geheimnis durch Zufall näher«, sagte Calisto, als wir auf dem Fell lagen. »Manchmal öffnen sich die Türen von selbst.«
»Hast du das Manuskript gelesen?«, fragte ich.
»Die Hälfte«, antwortete er. Seine Stimme zitterte. »Du kannst es dir anschauen. Komm mit.«
Ich verstand, dass jetzt etwas Großes passieren würde, wie ich es höchstens schon einmal erlebt hatte, als ich mit Johnny beim Jagen gewesen war. In solchen Momenten scheint die Welt plötzlich stillzustehen, als wäre man dazu bestimmt, genau dort zu sein, wo man ist, ohne dass man den Grund kennt, die Dinge liegen vor einem wie kunstvoll gesponnene Fäden, die einen an ein Ziel führen, aber nicht unbedingt zu etwas Gutem. Wir standen auf. Calisto zündete eine Kerze an, und dann folgte ich ihm durch das dunkle Haus bis in sein Arbeitszimmer, das ebenfalls sehr sauber und aufgeräumt war. Hinter dem Schreibtisch war noch ein Kamin, und aus dem Schornstein drang ein sonderbarer Laut.
»Das ist der Wind«, sagte Calisto.
»Ja«, antwortete ich.
Auf dem sonst leeren Schreibtisch lagen zwei unordentliche Papierstapel. Manche Blätter waren gefaltet, und eine Seite sah aus, als hätte sie jemand zusammengeknüllt und dann wieder glatt gestrichen.
»Da ist es«, sagte Calisto.
Er stellte die Kerze auf den Schreibtisch.
»Ich traue mich kaum weiterzulesen«, fuhr er fort und legte eine Hand auf einen der Stapel. »Ich habe Angst, der Zauber geht verloren.«
»Welcher Zauber?«, fragte ich.
»Manchmal«, sagte er und strich mit der Hand übers Papier, »mag ich kaum weiterlesen, weil der Text dann mit so etwas Banalem wie meinen Händen in Berührung kommt.«
»Aha«, sagte ich.
»Es gibt nur dieses eine Exemplar«, erklärte er. »Der Schriftsteller schreibt auf der Schreibmaschine, und er hat keine Kopien gemacht. Das ist die einzige Fassung.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil … der Grund ist …«, setzte Calisto an.
»Was?«, fragte ich.
»Schwer zu erklären«, sagte Calisto. »Es geht um Respekt. Und um Material. Um eine Kombination aus beidem. Um das Zusammenspiel von Respekt und Material. Man muss Respekt haben vor dem, was man tut, vor der Substanz.«
»Ich kapier kein Wort.«
»Respekt«, wiederholte er.
»Respekt wovor?«
»Dem Unnachahmlichen.«
Ich trat einen Schritt vor und las das oberste Blatt.
Der männliche Wahnsinn, stand da, ist fast immer auf Demenz oder Genialität zurückzuführen. Zudem weist er Spuren einer Anmaßung auf, die oftmals in Eitelkeit gründet und zur Monotonie neigt. Der weibliche Wahnsinn funktioniert anders. Er ist vielfältig und scheint unterschiedlichste Gestalten annehmen zu können. Er ist dehnbar, dehnbar wie der weibliche Körper per se. Die Düsternis, welche Frauen zuweilen überfällt, ist ungleich intensiver denn die Düsternis, die sich der Männer bemächtigt. Viele Frauen scheinen diese Finsternis regelrecht gebären zu wollen! Ich vermute, es besteht ein Zusammenhang mit den ekstatischen Aspekten einer Niederkunft. Das weibliche Fleisch weiß, welch Freude das Leid zu gebären vermag, weshalb Frauen empfänglicher für Grenzerfahrungen sind als Männer. Es ist, als bauten sie auf die positive Kraft des Leidens. Ich finde den weiblichen Wahnsinn unerhört faszinierend. Er könnte mit einer »weiblichen Sprache« zusammenhängen. Bei Luce Irigaray heißt es, da es keinen weiblichen Gott gebe, könne es auch keine weibliche Sprache geben. Für Frauen sei alles ein Kompromiss – mündet das nicht zwangsläufig in ultimative Unterwerfung? Jung schreibt, er habe stets die Sprache seiner Patientinnen gesprochen. Waren sie hysterisch, sprach er die Sprache der Hysterie, waren sie neurotisch, bediente er sich einer neurotischen Sprache. Wie gern hätte ich Jung die Sprache der Hysterie sprechen hören! Wie gern hätte ich miterlebt, wie Jung mit weißem Haar und gefasster Miene die Sprache der Hysterie spricht! Hysterie und Intuition, die Kennzeichen der Weiblichkeit! Die Hysterie und die Intuition. Die Intuition, o die Intuition … Es gibt für alles eine Erklärung. Doch in unserer Zeit ist die Erklärung der Intuition ein unerreichbares Ziel.
»Ich versteh kein Wort«, sagte ich.
»Er interessiert sich für Frauen«, erklärte Calisto.
»Tun das nicht alle Männer?«
»Nicht so wie er«, erwiderte er. »Er versucht, sie wahrhaftig zu verstehen. Sich in sie hineinzuversetzen.«
»Und wie macht er das?«
»Er geht bis zum Äußersten. Und trotzdem scheitert er.«
»Wird er verrückt?«
»Das weiß ich nicht. Weiter bin ich noch nicht«, Calisto wedelte mit dem Papier herum, »aber es nimmt kein gutes Ende, fürchte ich.«
»Warum?«
»Weil gute Bücher nie ein gutes Ende nehmen. Komm, lass uns zurückgehen. Willst du noch was trinken?«
Mit aufgefüllten Gläsern kehrten wir ins Wohnzimmer zurück. Ich ging vor ihm her und spürte, wie er mich betrachtete, wie sein Blick an meinem Körper hinauf und hinab wanderte, wie er die Befriedigung genoss, die ich ihm verschaffte, und dass er Kräfte sammelte für das, was nun kommen würde.
»Nichts gegen das Manuskript«, sagte ich, als wir wieder vor dem Kamin angekommen waren. »Aber ich bin nicht hier, um mich über Literatur zu unterhalten.«
»Wie recht du hast«, sagte Calisto und legte sich auf das Fell. »Ich will, dass du dich auf mich setzt.«
Ich tat es, war aber angespannt, denn die Geschichte mit dem Manuskript hatte mich nicht unbedingt scharf gemacht. Ich musste daran denken, was dort über Frauen und Leid gestanden hatte, und das kam mir alles so ekelhaft vor. Calisto war offensichtlich anderer Meinung, oder er hatte das Ganze schon wieder vergessen, jedenfalls flüsterte er: »Sag, du bist meine Hure. Ich will es hören, sag es.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht sagen, dass ich seine Hure war. Nicht, dass ich etwas gegen solche Spielchen hätte, aber für Calisto war das mehr als ein Spiel, das wusste ich. Ich beugte mich hinunter und küsste ihn. Calistos Lippen öffneten sich ein wenig, aber dann stieß er mich weg.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Ich hab mal einen Film gesehen«, antwortete er. »Einen italienischen. Darin sagt eine Frau zu ihrem Mann: Sodomizzami. Sodomisier mich. Und der Mann will nichts lieber als das, er träumt schon seit einer halben Ewigkeit davon, aber er versteht nicht, was sie sagt. Er ist zu ungebildet. Er kapiert’s nicht, kapierst du?«
Wir sahen einander an und lachten ein bisschen. So läuft das also, wenn Intellektuelle miteinander ins Bett gehen, dachte ich. Piekfein und stocksteif, wie wenn jemand kerzengerade dasitzt und Muscheln mit Besteck isst, über Filme spricht und dieses und jenes in verschiedenen Sprachen zitiert, obwohl man weiß, dass ein Untergang bevorsteht, eine Flutwelle, die bald über einen hinwegschwemmt und etwas in einem zerstört, eine Art Flutwelle des Fleischs. Plötzlich hatte die Situation ihren Reiz verloren.
»Weißt du, dass ich kämpfen kann?«, fragte ich und rappelte mich hoch.
»Kämpfen?«
Calisto stand ebenfalls auf.
»Pussy tricks, oder was?«
»Das auch. Ich kann dir deine Augen ausquetschen, flink wie ein Wiesel, wenn du am wenigsten damit rechnest.«
»Wo hast du das gelernt?«
»In einem Keller.«
»Gefällt mir«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. »In dir steckt mehr, als man auf den ersten Blick ahnt.«
Inzwischen waren wir ziemlich angetrunken, aber irgendwie hatte die Sache Fahrt aufgenommen und war nicht mehr zu stoppen.
»Das gefällt mir sogar sehr«, sagte er und kam einen Schritt auf mich zu. »Du irritierst mich, aber positiv. Reiß mir ein Auge raus. Komm schon.«
»Ich kann dir doch kein verfluchtes Auge ausquetschen«, erwiderte ich und drehte mich um.
»Komm schon. Tu’s einfach. Spielen wir pussy tricks gegen payback time.«
»Ich glaub, ich muss zurück ins Hotel«, sagte ich.
»Wieso?«, fragte er.
»Weil du … keine Ahnung. Ehrlich gesagt, ekel ich mich vor dir.«
»Du ekelst dich vor mir? Weil ich fett bin?«
»Nein, aber dein zermatschtes Auge will ich trotzdem nicht an den Fingern kleben haben.«
Das sollte ihn zum Lachen bringen, aber ich hatte wohl eine empfindliche Stelle getroffen, denn sein Blick veränderte sich. Auf halbem Weg zu meinem Kleiderhaufen registrierte ich aus dem Augenwinkel, wie sich sein Körper in Bewegung setzte, er nahm Anlauf und warf sich einen Augenblick später auf mich. Er flog auf mich zu, und ich konnte gerade noch ausweichen, aber angetrunken, wie ich war, stolperte ich, knallte erst gegen einen Tisch und dann gegen einen Spiegel an der Wand. Das hier passiert nicht wirklich, dachte ich noch im Fall, so kann das nicht enden. Der Spiegel krachte zu Boden, große Splitter wirbelten um uns herum durch die Luft. In der Zwischenzeit war auch Calisto gegen irgendwas gestoßen, vermutlich mit dem großen Zeh, zumindest war er vor Schmerz und Zorn so rot im Gesicht, wie ein Mensch, der sich gerade den großen Zeh gestoßen hat. Das Ganze war so lächerlich, dass ich versuchte zu lachen, aber es wurde eher ein Schnauben, und im selben Moment wandte sich Calisto wie in Zeitlupe um und kam wieder auf mich zu. Ich weiß noch, wie mir durch den Kopf ging, dass er aussah wie ein Walross, das sich gerade auf ein anderes Walross stürzt. Außerdem ging mir durch den Kopf, dass ich nicht rechtzeitig auf die Beine kommen würde, und wie bescheuert es war, dass einen beim Kampftraining nie jemand über den Rauschfaktor aufklärt. Gleichzeitig fiel mir etwas ein, was der Sensei mal gesagt hatte (ja, in so einem Sekundenbruchteil schwirren einem die verrücktesten Dinge im Kopf herum), nämlich dass alles gelaufen ist, wenn man als Frau erst mal am Boden liegt. Deshalb sollten Frauen statt Judo lieber Karate lernen, denn unter einem Hundertkiloklops liegend spielt es keine Rolle, wie schnell oder beweglich man ist, hundert Kilo sind hundert Kilo, und die Schwerkraft außer Kraft zu setzen, ist bislang noch niemandem gelungen. Ich spürte einen Glassplitter im Rücken, dann Calistos Körper, der auf mir landete. Den entsetzlichen Schmerz, als der Splitter sich in mich hineinbohrte. Gleich macht eine Niere schlapp, dachte ich. In manchen Situationen ist es wichtig, ganz still dazuliegen, nichts zu tun, egal wie groß der Schmerz ist. Still im Boot zu sitzen. Aber irgendwie war Calisto und mir die Situation bereits entglitten, der Schmerz ließ mich reflexartig meine Zähne in Calistos Schulter rammen, gleichzeitig packte ich ihn am Haar, riss seinen Kopf nach hinten und tastete mit dem Daumen nach seinem Auge, spürte unter der Fingerkuppe aber nur den harten Stirnknochen. Der Biss machte Calisto fuchsteufelswild. Er brüllte mir ins Ohr, und da ließ ich alles los. Er verströmte einen beißenden Schweißgeruch, während unsere Körper lustlos aufeinander zuglitten. Er verdrehte mir die Arme, und dann stellte sich eine Art Ruhe ein, wir lagen da und blickten einander in die Augen, wie um darin zu lesen. Wir stanken, waren schweißnass und blutüberströmt, und Calisto lächelte schief.
»Na also«, sagte er. »Dann kann’s ja losgehen.«
Ich werde nicht sagen, er hätte mich vergewaltigt, denn eine Frau wie ich wird nicht vergewaltigt. So sieht’s aus, so ist es immer gewesen, schließlich habe ich nicht gelernt, wie man kämpft, um dann als Opfer zu enden. Irgendwann und irgendwo muss ich tief in mich gegangen und zu der Erkenntnis gekommen sein, dass man die Initiative ergreifen muss, wenn man etwas ändern will. Und dann hatte Johnny gesagt, die Menschen würden nicht wütend, weil sie angegriffen werden, sondern weil sie sich nicht verteidigen können, was ziemlich klug gewesen war, vielleicht war es sogar das Klügste, das je jemand aus unserem Dorf gesagt hatte. Außerdem hatte ich in diesem Keller trainiert. Wäre ich tatsächlich vergewaltigt worden, hätte ich nie im Leben jemandem davon erzählt. Ich hätte das Geheimnis in mir eingeschlossen, es in meinem Innern erstickt, und dann, an einem stocknüchternen Abend, an dem ich meine schwarzen Turnschuhe, meine schwarze Schlabberhose und meine schwarze Michelinmännchenjacke getragen hätte, wären Johnny und ich losgefahren, hätten den Bastard ausfindig gemacht, ihn von hinten mit einem Gürtel erdrosselt und in Einzelteile zerlegt, die wir dann rings um den Möwenteich verbuddelt hätten. Also nein, ich kann nicht genau erklären, was an jenem Abend im Haus am Meer geschehen ist, aber mir war schon damals klar, dass es so nicht enden konnte, dass etwas begonnen hatte oder in Gang gesetzt worden war, eine Kette von Ereignissen, die uns gegeneinander ausspielen und in gewisser Weise auch miteinander vereinen würde.
Es dauerte ungefähr fünf Minuten. Dann rollte er von mir runter und schlief ein. Ich drehte mich um und übergab mich auf den Fußboden. Danach schlief ich ebenfalls ein. Nach etwa einer halben Stunde wurden wir beide wach. Calisto setzte sich auf und schaute nervös auf die Scherben, das Erbrochene und das Blut.
»Verdammt«, sagte er und sah mich nervös an. »So eine Scheiße …«
Er zog sich an und ging ins Badezimmer. Wenig später kam er mit einem Kulturbeutel zurück, aus dem er eine Pinzette nahm. Er bat mich, mich aufs Sofa zu setzen, und dann pulte er die Glassplitter aus meinen Wunden, jedenfalls sagte er das, um sie anschließend zu desinfizieren. Die Blutflecke auf dem Sofa schienen ihm egal zu sein. Ich betrachtete ihn, als er so vor mir saß, sein verschwitztes, aufgeschwemmtes rotes Gesicht. Hin und wieder sah er schuldbewusst zu mir hoch. Ich muss mich an ihm rächen, dachte ich, aber wie?
»Ich habe was gutzumachen«, sagte er.
Ich lachte, aber Calisto schien das Lachen falsch zu deuten und begann ebenfalls zu lachen.
»Ich muss vollkommen die Beherrschung verloren haben«, sagte er kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich sollte ich mal mit jemandem reden.«
»Schon möglich«, sagte ich.
»Ja«, bekräftigte er. »Ich muss vollkommen den Verstand verloren haben, ich verspreche dir … und natürlich bezahl ich dein Taxi. Allerdings wirst du warten müssen, bis die Straßen geräumt sind, vorher kommt kein Taxi hier raus. Wir müssen schauen, ob die Wunden nicht zu tief sind … aber ich glaube … es sind bloß Kratzer, mehr nicht.«
Ich sah ihn an, er wich meinem Blick aus.
Später saßen wir vor dem Kamin. Calisto hatte eine Flasche Mineralwasser geöffnet und einen Salat gemacht, den wir direkt aus der Schüssel aßen. Wir hatten uns beide gewaschen, und Calisto hatte einen weißen Überwurf über das vollgekleckerte Sofa gelegt. Das Haus war von einer tiefen Ruhe erfüllt, als wären hier bloß friedliche, langweilige Dinge passiert. Ich hatte mir ein Pyjamaoberteil von ihm geborgt, das mir bis zu den Fußknöcheln reichte. Irgendwann schlief Calisto ein. Sein massiger Körper lag ausgebreitet auf dem Fell. Nicht, dass ich auf einen Schlafenden losgehen würde, aber trotzdem stellte ich mir vor, wie ich aufstand und auf ihn eintrat. Ein harter, kräftiger Tritt, direkt in den Bauch. Mein Fuß, der in seinem Fett versank. Sollte er die Augen öffnen, würde ich das Bein anheben und ihm meine Ferse geradewegs in die Fresse rammen und meinen Zorn herausschreien, bis er von den weißen Wänden widerhallte. In solchen Fällen gilt es, schnell zu handeln. Der Zorn ist eine Frischware, die man schleunigst loswerden muss, sonst schleppt man sie mit sich rum, als wäre man auf einer Party und hätte die ganze Zeit Hundekacke unterm Schuh. Die Menschen um einen herum riechen es, man selbst auch, und Hundekacke ist kein Geruch, der verfliegt, wenn man ihm lange genug ausgesetzt wird, im Gegenteil.
Aber dann fiel mir ein, wie ich Calisto viel besser schaden konnte. Ich stand auf, ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, und ging in sein Arbeitszimmer. Ich knipste das Licht an. Da lag es, das Manuskript. Wie Juwelen in einem Tempel. Ich stand da, die Kerze in der Hand, und las mir noch einmal die Passage über den Wahnsinn durch. Dann schaute ich mich um und begriff: In Calistos Arbeitszimmer vor dem Manuskript des Schriftstellers zu stehen, das war, wie mit einer Zange in der Hand in Calistos Herz zu stehen. Hier konnte ich jede Ader abknipsen, frei nach Belieben. Ich lachte in mich hinein. Als ich die beiden Stapel übereinanderlegte, fiel mir der Titel des Manuskripts ins Auge, Die polyglotten Liebhaber. Was heißt polyglott?, überlegte ich. Die Blätter waren zerknittert, gewellt und mit Flecken bekleckst, als hätten sie erst eine Weile draußen im Regen gelegen und dann wäre noch eine Tasse Kaffee darübergekippt worden. Ich nahm den Stapel mit ins Wohnzimmer. Das Feuer war fast aus, ich musste es erst noch einmal anfachen. Dann verbrannte ich das Manuskript. Eine Seite nach der anderen ließ ich in die Flammen hinabsegeln, angefangen mit dem Ende, für den Fall, dass Calisto aufwachen und sich schützend über das Manuskript werfen würde. Die Flammen fauchten vor sich hin, als hätten sie Appetit auf mehr. Ich warf immer mehr Seiten hinein und sah, dass nicht alles auf Schwedisch geschrieben war, es gab auch andere Sprachen, die ich nicht alle kannte. Manchmal tummelten sich verschiedene Sprachen auf ein und derselben Seite, ein Satz begann in der einen und ging dann in eine andere Sprache über, um schließlich in die ursprüngliche zurückzukehren. Es sah lustig aus, wenn zwischendrin schwedische Wörter auftauchten oder fremde Wörter in den Sätzen auf Schwedisch. Aber für solche Gedanken hatte ich keine Zeit. Ich machte weiter, bis alles verbrannt war und bloß noch eine satte, zufriedene Glut in der Asche glomm. Hinter mir lag Calisto, und sein Bauch wabbelte vor sich hin wie das Gelbe beim Spiegelei. Sein Mund war halb geöffnet, ein bisschen Speichel rann ihm übers Kinn. Jetzt sind wir quitt, dachte ich. Jetzt ist alles im Gleichgewicht. Jetzt kann ich zurück in mein fensterloses Hotelzimmer.
Ich legte mich neben Calisto und sah eine Weile zu den großen, dunklen Fenstern rüber. Dann schlief ich ein. Ein paar Stunden später wachte ich auf, als Calisto sich bewegte. Er zog mich an sich. Ich nahm seinen Geruch wahr, spürte seinen warmen Atem im Nacken.
»Du wolltest mich, ohne Geld dafür zu kriegen«, flüsterte er. »Das ist total unglaublich. Und ich hab dir wehgetan. Kannst du mir verzeihen, Ellinor?«
»Schnee von gestern«, sagte ich.
Ich schlief wieder ein. In der Nacht wachte ich mehrmals auf und hörte den Sturm ums Haus heulen. Die ganze Zeit hatte Calisto seinen Arm um mich gelegt und atmete mir in den Nacken. Sogar im Schlaf zog er mich dicht an sich heran.
Gegen sieben weckte mich ein neues Geräusch. Ein Knistern und Klirren, und das Zimmer war in ein graues, leicht diesiges Licht getaucht.
»Das Eis bricht auf«, murmelte Calisto.
Bevor ich wieder wegdämmerte, sah ich vor meinem geistigen Auge lange, dunkle Risse draußen im Meer. Sie zogen sich rasch durch die Eisdecke und liefen auf die perfekte Stadt zu.
Als ich das nächste Mal aufwachte, war es schon fast zehn. Calisto stand da und blickte finster auf mich herab.
»Wo ist das Manuskript?«, fragte er.
»Welches Manuskript?«, fragte ich zurück.
»Ich war im Arbeitszimmer, das Manuskript ist weg. Sag mir sofort, wo es ist. Sag mir, wo das Manuskript ist.«
»Ich hab’s verbrannt«, antwortete ich. »Als Rache für die Scherben.«
Calisto starrte mich an. Seine Augen waren gerötet, und die Haare hingen ihm feucht ins Gesicht.
»Was hast du gerade gesagt?«, fragte er, fast keuchend. »Hast du gesagt, du hast es …?«
»Ja«, sagte ich. »Ich hab’s verbrannt. Es ist weg.«
»Zum Teufel … hast du den Verstand verloren?«
Ich rappelte mich hoch und wich seinem finsteren Blick aus.
»Beruhig dich«, sagte ich. »War doch bloß ein Manuskript.«
»Du bist komplett verrückt«, japste Calisto. »Scheiße, du …«
Ich hob die Hand. »Ich versteh schon, was du sagen willst. Ich hab überlegt, dich für das, was du mit mir gemacht hast, totzutreten, aber dann hab ich lieber den Papierhaufen verbrannt.«
»Den Papierhaufen? Du nennst das Manuskript Papierhaufen?«
Calisto ließ sich auf einen Stuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Er wird mich hassen«, sagte er.
»Das ist mir ehrlich gesagt scheißegal«, erwiderte ich.
Für einen flüchtigen Moment empfand ich fast so etwas wie Mitleid. Ich glaube, ich sah Calisto, wie er tatsächlich war: Calisto in seinem großen Haus. Calisto in seinem sterilen Büro, wie er das Manuskript las. Calisto, der für Sex bezahlen musste, der seine Kilos durchs Haus schleppte und nicht wusste, wie er ganz ohne Gefühle so lange hatte vor sich hin leben können. Calisto, der einzige Mensch in dieser kalten, perfekten Stadt, der nicht perfekt war. So wie ich. Genauso einsam und fehlerhaft, nur auf andere Weise.
Ich stand auf und zog mich an. Calisto sah mich unverwandt an, rührte sich aber nicht vom Fleck. Erst als ich in die Küche ging, um ein Glas Wasser zu trinken, folgte er mir. Dann zog ich meine Schuhe an, griff nach meiner Tasche und dachte, tja, jetzt krieg ich wohl doch kein Taxigeld, aber was soll’s, irgendwo gibt’s bestimmt eine Bushaltestelle. Ich öffnete die Tür. Der Sturm hatte sich gelegt, und rund um das Haus ragten die hohen Bäume kerzengerade in den Himmel. Jetzt wirft Calisto mich raus und zieht die Tür hinter mir zu, dachte ich, aber es kam alles anders.