Читать книгу Die polyglotten Liebhaber - Lina Wolff - Страница 7

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Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn ich mal einen Mann finde, dann wäre er aus derselben Gegend wie ich. So ein Mann, mit dem man freitags ins Sommerhaus rausfährt, und dann schmeißt man den Kamin an und bereitet das Abendessen vor. Ungefähr so. Wir würden in der Hütte am Tisch sitzen, im Kamin würde ein Feuer prasseln, und wir wären umgeben von einem stillen Wald mit hohen Bäumen. Die ganze Zeit würden wir wissen, dass wir essen, Wein trinken, miteinander vögeln und schlafen werden und dass am Ende alles gut wird, denn genau so soll das Leben sein, solange alles bleibt, wie es ist, wird am Ende alles gut. Ich hab dann immer Johnny vor mir gesehen. Aber als ich Calisto traf, war Johnny schon seit ein paar Jahren verheiratet und lebte auf einem Hof in der Nähe vom Dorf, mit einer Frau, die sich nach der Geburt ihrer drei gemeinsamen Kinder die Lippen, die Brüste und den Unterleib hatte operieren lassen. Ich war mit ihr auf Facebook befreundet, und jedes Mal, wenn ich ihr Profilbild sah, musste ich an eine Gans denken, aber eine glückliche Gans, was bestimmt zumindest teilweise Johnnys Verdienst war.

Wir blieben im Flur stehen, Calisto und ich, am Morgen danach. Ich in meinen Stiefeln und mit der Tasche in der Hand. Calistos Gesicht sah verkrampft aus, verkrampft und finster. Weil ich nicht wusste, was man in so einer Situation sagt, sagte ich einfach: »Ganz schön kalt hier oben. In Stockholm, meine ich.«

»Ja«, antwortete er. »Willst du nicht noch ein bisschen bleiben? Zumindest bis es nicht mehr so kalt ist?«

»Nach allem was passiert ist?«, fragte ich. »Nach der Sache mit dem Manuskript?«

»Ich hab dich verletzt«, antwortete er, »und du hast mich verletzt. Alles folgt einer natürlichen Logik. Das hast du doch selbst gesagt: Wir sind quitt. Ich muss mir nur noch einfallen lassen, wie ich ihm das Ganze erkläre. Eine Ausrede, oder ich sag ihm einfach, das Manuskript sei verschwunden.«

Er zuckte mit den Schultern. Ich blickte aus dem Fenster.

»Bleib doch wenigstens, bis es nicht mehr ganz so kalt ist«, sagte Calisto. »Dann kannst du immer noch fahren.«

Während er meine Tasche ins Schlafzimmer trug, hängte ich meinen Mantel auf denselben Bügel, auf dem er zuvor gehangen hatte, und stellte meine Stiefel ordentlich vor die Tür. Calisto holte ein Paar weiße Wollsocken, die mir zu klein waren. Ich wollte ihn fragen, wem sie gehörten. Seiner Frau vielleicht? Oder gab er die Socken den Frauen, die er für Sex bezahlte? Aber bevor ich ihn fragen konnte, runzelte er die Stirn und ging mit den Socken ins Schlafzimmer. Als er zurückkam, reichte er mir ein Paar seiner eigenen Socken.

»Nimm die«, sagte er.

»Ich werde nicht lange bleiben«, sagte ich.

Aber die Kälte war hartnäckig. Die Temperaturen sanken und sanken, und aus dem Fernseher im Wohnzimmer hallten die Nachrichten über den Kälterekord durchs ganze Haus. Über dem Sofa lag der weiße Überwurf, der die Blutflecken verdeckte. Durch die großen Fenster sah man in einen wolkenlosen Himmel. Hinter den Tannen auf der Rückseite von Calistos Haus erstreckte sich das zugefrorene Meer, doch hier und da waren Löcher im Eis, halbgeöffnete, eiskalte Münder in der weißen Fläche.

Wir aßen zu Mittag, dann zu Abend. In der Nacht schliefen wir und hatten keinen Sex. So vergingen zwei Tage, drei Tage, und plötzlich war das ganze Wochenende rum.

»Ellinor«, sagte Calisto am Montag. »Wenn jemand vorbeikommt, hältst du dich im Hintergrund, ja?«

»Wer kommt denn?«, fragte ich.

Calisto zuckte die Achseln. »Niemand Besonderes. Bloß Freunde, Bekannte. Leute, die ich kenne.«

»Ich soll mich verstecken?«, fragte ich.

»Nein, nein, aber vielleicht könntest du einfach in ein anderes Zimmer gehen.«

»Bist du verheiratet?«, fragte ich.

»Verheiratet?«, fragte Calisto, als hätte er die Frage nicht verstanden.

»Ja«, sagte ich. »Oder arbeitest du beim Fernsehen, und jeder kennt dich?«

Calisto schüttelte den Kopf. »Nein, ich arbeite nicht beim Fernsehen. Aber es soll nicht so aussehen, als ob ich mich mit jeder x-Beliebigen einlasse. Wir kennen uns ja von einem –«

»Von einem Dating-Portal«, sagte ich.

»Bitte«, sagte er und machte eine abwehrende Handbewegung, »benutz nicht dieses Wort.«

»Was denn?«, fragte ich. »Heute lernen sich doch fast alle so kennen. Und außerdem wird man dort aufgrund verschiedener Daten miteinander gematcht. Das kann man nicht gerade behaupten, wenn man sich zufällig in einer Bar begegnet.«

»So ist das aber überhaupt nicht«, widersprach mir Calisto.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich hab mit einem Typen gesprochen, der bei der Seite arbeitet. Er hat mir erzählt, dass auf solchen Portalen alle bunt durcheinandergewürfelt werden, die einzigen Filter sind Alter und Körpergröße.«

»Was hat er noch erzählt?«

»Worüber?«

»Über das Dating-Portal.«

Calisto zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Nur dass er sich in alle Profile einloggen kann, und manchmal liest er, was die Leute sich so schreiben. Er sagt, ihn ziehe das total runter, er sei danach immer vollkommen fertig. Sein Herz fühle sich an wie eine Kreuzung aus einem Backblech und einem Trauerkloß. Lese man sich die ganzen verzweifelten Nachrichten durch, meint er, sei der Tag gelaufen, dann könne man sich nachher kaum noch aufrecht halten. Jemand schreibt verschiedene Leute an, immer und immer wieder, und wird runtergemacht und abserviert; und dann so verzweifelte Hilferufe wie: Warum bist du nicht zu unserem Treffen gekommen?, oder: Was muss ich tun, um endlich jemanden zu finden? Wenn die Leute sich zum ersten Mal begegnen, wissen sie sofort Bescheid, hat der Typ gesagt. Sie müssen sich bloß in die Augen blicken, dann ist alles klar. Man merkt, ob der andere zu hübsch und man selbst zu hässlich ist, ob man sich das frische Hemd ganz umsonst angezogen hat, ob der Duft des Rasierwassers den Gestank einer Schrumpfleber übertüncht, ob eine Fettwulst unter der Bluse hervorquillt, ob das Foto zu viel versprochen hat. Die meisten laden zehn Jahre alte Bilder hoch. Idioten. Und dann das ganze Geld, das sie für die Seite rauswerfen. Verdammt erbärmlich, hat der Typ gesagt. Verdammt erbärmlich. Wie eine Art Unterholz, ein ganzer Wald aus Frustration und Einsamkeit, der alles unterläuft.«

Ich wollte wissen, ob der Typ auch unsere Nachrichten gelesen hatte, aber das wusste Calisto nicht.

»Aber verstehst du’s jetzt, Ellinor?«, fragte er dann. »Halt dich einfach im Hintergrund, wenn jemand kommt.«

Ich hätte ihm einen Tritt verpassen sollen. Erst einen und noch ein paar Tritte mehr, bis er am Boden gelegen und seine Milz ausgekotzt hätte. Danach hätte ich meine Stiefel angezogen und wäre nach draußen gegangen. Hätte in den Schnee geblinzelt, dem Wind getrotzt und den Zug zurück nach Schonen genommen. Merkt man, dass etwas faul ist, muss man seine Hand auf der Stelle zurückziehen, sonst steckt man sich an und fault ebenfalls, und dann ist alles gelaufen.

Aber ich blieb. Man könnte sagen, mein Verstand war zu schwach, um sich meinem Körper zu widersetzen. Aus einem sonderbaren, durchgeknallten Wunsch heraus wollte mein Fleisch mehr über Calisto wissen, und auch wenn mein Fleisch aussieht, als könnte es jeden Moment kapitulieren, ist es stärker, als man meint. Es ist stark und störrisch wie ein Ameisenhaufen voller Knotenameisen, die herausquellen, sobald man hineinsticht. Wenn man sich querstellt, ist alles viel schwerer zu ertragen, als wenn man einfach nachgibt. Aber keiner schafft es, einfach still dazuliegen und sich auffressen zu lassen. Der Körper wird von Instinkten geleitet, das weiß jedes Kind, das ist das Reptil in uns.

Die erste Woche war noch nicht vorbei, aber so langsam stellte sich eine Routine ein. Am nächsten Morgen ging Calisto um sieben aus dem Haus, drehte sich im Türrahmen noch einmal um und rief: »Tschüss, Ellinor«, und darauf ich: »Tschüss, Calisto«, als wäre ich sein reizendes Weibchen oder würde zumindest versuchen, eins zu sein. Anschließend ging ich durchs Haus und guckte mir Calistos Bücher an.

Im ganzen Haus gab es nur ein einziges Bücherregal, in Calistos Schlafzimmer, gleich neben dem Bett. Ein schmales, ordentlich sortiertes Bücherregal, das überhaupt nicht aussah, wie man es bei jemandem, der beruflich mit Literatur zu tun hat, erwartet. Die meisten Titel sagten mir nichts. Am ersten Tag zog ich ein Buch heraus, blätterte ein bisschen darin, und als ich es zurückstellte, entdeckte ich hinter der ersten Bücherreihe noch eine weitere. Ich kletterte auf einen Stuhl und tatsächlich: In jedem Fach gab es hinter der ersten Bücherreihe eine genauso ordentlich sortierte zweite. Die Bücher aus der zweiten Reihe stammten alle von demselben Autor: Michel Houellebecq. Ich kannte den Namen nicht, aber jedes Buch war zweimal vorhanden, einmal auf Französisch, einmal auf Schwedisch. Ich zog eins der Bücher aus dem Regal und setzte mich damit im großen, lichtdurchfluteten Wohnzimmer aufs Sofa. Obwohl ich sonst keine Bücher lese, war mir sofort klar, dass diese irgendwie besonders sein mussten, sonst hätten sie ja nicht in Calistos Haus gestanden, in einer eigenen Reihe, versteckt hinter anderen Büchern. Ich schlug das Buch auf und las die erste Seite. Nachdem ich sie dreimal gelesen hatte, stand ich auf und stellte das Buch zurück. Dann ging ich wieder zum Sofa und blickte lange aus dem Fenster. Vereinzelte Schneeflocken fielen vom Himmel. Das Licht schuf messerscharfe Kontraste, und die Tannen, das Tor und der hohe Zaun hoben sich schwarz von der Umgebung ab. Ich musste an das Dating-Portal denken. An den Typen, der dort arbeitete und alle Nachrichten las. Ich überlegte, ob wohl zu Hause irgendwas Besonderes vorgefallen war und wenn ja, wie ich das herausfinden könnte. Ich war hergekommen, um den Richtigen zu finden, dachte ich. Manchmal, wenn die Sonne an einem bestimmten Punkt stand, brach sich das Licht in den Eiszapfen, und wenn ich zu lange hinsah, tanzten gelbe Pünktchen in meinem Blickfeld. Manchmal hörte ich eine Kohlmeise, und ab und zu kam sie angehüpft, krallte sich am Fensterbrett fest und beobachtete mich durch die Fensterscheibe, wohlmeinend und mit schiefgelegtem Kopf, als würde sie versuchen, etwas Unfassbares zu begreifen. In diesen Momenten wurde mir manchmal schlagartig übel. Keine Ahnung, warum, aber wenn es draußen kalt ist, habe ich oft das Gefühl zu sterben.

In den nächsten Tagen packte ich meine Tasche vollständig aus und verstaute meine Sachen in einer Schublade, die Calisto für mich freigeräumt hatte. Ich hatte Unterwäsche für vier Tage dabei, inklusive der, die ich anhatte. Abends wusch ich meine Sachen. Auch Calisto schmiss jeden Abend eine Maschine für die Hemden und die Unterwäsche an, die er tagsüber getragen hatte. Ich hatte keine Lust zu duschen und wusch mich bloß morgens und abends mit kaltem Wasser unter den Armen, im Schritt und im Gesicht. Als würden das fremde Haus und die Kälte, die nur durch einen halben Zentimeter Fensterglas ausgesperrt wurde, mich an dem festhalten lassen, was mir ganz allein gehörte, und das war mein Körpergeruch. Calisto hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, er war regelrecht davon besessen, meine Körperflüssigkeiten und Gerüche in sich aufzunehmen, was mich ganz verlegen machte. Johnny war auf seine Weise animalisch gewesen, und ich glaube, im tiefsten Innern sind das alle Männer, aber manche eher wie Igel oder Katzenjunge. Und Johnny hatte recht gehabt, als er mal gesagt hatte, Körper saugen alle Eindrücke in sich auf und speichern sie dann. Ich wusste zum Beispiel immer noch, wie Klaus Bjerres Kopfkissen gerochen hatte. Calisto hatte jedenfalls keine Probleme mit meinem Körpergeruch. Seine Zunge setzte er auf jede erdenkliche Weise ein, und wenn ich schrie, er solle aufhören, sagte er, er mache das nicht für mich, sondern für sich selbst. Manchmal kam er schon, wenn er nur daran dachte, wie er mir seine Zunge reinschob. Das heißt doch was! Viele Männer glauben, sie wären so, aber die wenigsten haben es wirklich drauf. Als Frau versteht man das erst, wenn man mal mit jemandem wie Calisto zusammen gewesen ist, und danach scheint alles andere vollkommen unmöglich. Einerseits wegen der anderen Männer, andererseits weil etwas in einem kaputtgegangen ist. Bei Männern wie Calisto muss man aufpassen. Sie nehmen alles, was man ihnen gibt, machen es sich zu eigen und bringen es zum Wachsen. Sie werden selbstsicherer, nehmen ab. Legen sich einen Kurzhaarschnitt zu. Bringen noch eine Frau zu Fall, und dann noch eine. Und irgendwann meinen sie, sie wären jetzt ein neuer Mensch, hätten die Qual der Wahl und lassen dich fallen. Und du stehtst dann dumm da. Du hast den Mann erschaffen, aber trotzdem bist du es, die am Ende ums Überleben kämpft.

Bei einem Abendessen kam Calisto auf das Manuskript zu sprechen:

»Wer Bücher verbrennt, verbrennt irgendwann auch Menschen«, sagte er.

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich einen Menschen verbrennen würde«, gab ich zurück.

»Man kann sich nicht immer alles vorstellen«, erwiderte Calisto, »und die Dinge brennen nicht immer so, wie man glaubt.«

»Hast du Schiss vor dem Schriftsteller?«, fragte ich.

»Er hat ein paarmal versucht, mich zu erreichen, aber wenn ich seine Nummer sehe, gehe ich nicht ran.«

»Er fragt sich sicher, was los ist.«

»Wenn er herkommt, musst du dir was einfallen lassen«, sagte Calisto. »Immerhin warst du es, die …«

Der Satz blieb in der Luft hängen.

»Bleib locker«, sagte ich und dachte, dass ich ohnehin bald zurück nach Schonen fahren würde. Das Manuskript konnte mir also herzlich egal sein.

Aber so ganz ließ mir die Sache dann doch keine Ruhe, denn als Calisto am nächsten Tag bei der Arbeit war, klingelte das Telefon. Mehrere lange Signaltöne durchschnitten die Stille. Ich stand nur eine Armlänge vom Telefon entfernt, und nach dem siebten Klingeln ging ich ran und sagte: »Ja, bitte?«

Kein Wort, ich hörte nur jemanden atmen.

»Ja, bitte?«, wiederholte ich. »Wer ist da?«

Die Person am anderen Ende schwieg immer noch, aber die Atemzüge waren deutlich zu hören. Einen Moment später machte es klick, und dann tutete es in der Leitung.

Von da an musste ich immer öfter an das Manuskript denken. Einmal wollte ich in Calistos Arbeitszimmer gehen, mir einfach nur den Schreibtisch ansehen, auf dem es gelegen hatte, in meiner Erinnerung war er goldgelb, mit einer durch die Farbe hindurchschimmernden Maserung. Doch als ich die Klinke runterdrückte, war die Tür abgeschlossen. Ich stand da, die Klinke in der Hand, und fragte mich, wieso Calisto abgeschlossen hatte. Am Abend wollte ich ihn danach fragen, aber es war wie immer mit Calisto, in seiner Abwesenheit nahm ich mir vor, ihm zig Fragen zu stellen. Wo seine Eltern wohnten, was für eine Ausbildung er hatte, ob seine Beziehungen eher kurz oder lang gewesen waren, ob er Kinder wollte, Sachen, die man halt so fragt, wenn man mit jemandem zusammen ist, aber wenn ich ihm dann gegenübersaß, kamen mir diese Fragen nicht über die Lippen. Es war, als hätte er einen stählernen Panzer um sich. Mir wurde klar, dass es nur eine Möglichkeit gab, etwas über Calisto herauszufinden, ich musste ihm nachspionieren. Aber ich hatte noch nie jemandem nachspioniert. Klar, ich hatte in meinem Leben schon ein paar hässliche Dinge getan, aber jemandem nachspioniert hatte ich noch nie.

Am nächsten Tag klingelte das Telefon wieder. Und am übernächsten und überübernächsten. Erst ging ich noch ran, und jedes Mal waren am anderen Ende die gleichen Atemzüge zu hören. Aber irgendwann ließ ich es einfach klingeln. Später zog ich den Stecker und stöpselte ihn erst wieder ein, bevor Calisto abends nach Hause kam.

Die polyglotten Liebhaber

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