Читать книгу Liebe, gut gekühlt - Linda Große - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеSchwarzfahren, während seiner Studentenzeit war das ein Sport gewesen, verbunden mit einer linksliberalen Abneigung gegen das Establishment. Zu mehr Abneigung war er, im Gegensatz zu anderen Kommilitonen nicht fähig und nicht willens gewesen. Jetzt war es zu einer bloßen Überlebensstrategie mutiert. Und es war schwieriger geworden. Die Kontrolleure waren mittlerweile nur noch für das geübte Auge erkennbar, wenn überhaupt. BVG-Leute undercover.
Froh, wieder nicht erwischt worden zu sein, näherte sich Theo dem Hotel auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vor einem Schaufenster blieb er stehen, musterte die Auslage ohne sie wirklich wahrzunehmen, wandte sich dann langsam auf dem Absatz um und musterte das mehrfarbige, nostalgisch wirkende Schild über dem Eingang. Haus & Hof in Schreibschrift, darunter in Druckbuchstaben Hotel & Bistro.
Er überquerte die Straße. Die Eingangstür stand auf, daneben hing eine schwarze Tafel. Mit weißer Kreide in schwungvoller Schrift stand die Mitteilung, dass der Biergarten geöffnet sei. Schmerzhaft wurde sich Theo seines leeren Portemonnaies erneut bewusst. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen indem er sich auf seinen selbst erteilten Auftrag konzentrierte. Zielstrebig näherte er sich dem Empfang, hinter dem eine aparte junge Frau stand. Sie lächelte ihm freundlich entgegen, was bei Theo die typische Kette von Gesten in Gang setzte, die für attraktive Frauen reserviert war. Er straffte seine Haltung, zog unbewusst den Bauch ein und fuhr mit einer lässigen Handbewegung durch seine graumelierte Lockenmähne, wobei er den Kopf leicht nach hinten warf. Seine Haare waren im Nacken kurz geschnitten, doch die Vorderpartie war so lang, das sie fast bis ans Kinn reichte. Als er den Tresen erreichte, nickte er der Schönen mit einem einnehmenden Lächeln zu, wobei eine breite Haarsträhne nach vorne rutschte, was er beabsichtigt hatte. Erneut strich er sie mit einer wohlgeformten Hand zurück. Die Frauen liebten seine Hände.
Er ließ ihr Zeit, ihn zu begutachten, während er eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche, einem edlen Lederstück aus besseren Zeiten, zog und sie ihr mit einem freundlichen „Guten Tag“ überreichte. Sie warf lediglich einen kurzen Blick darauf, behielt sie aber in der Hand, was ein gutes Zeichen war.
Eine Mondfrau, dachte er. Dunkel und geheimnisvoll. Sein gesamtes vergangenes Leben war bevölkert gewesen von diesem Typus Frau. Brünett, mit einer starken erotischen Ausstrahlung. Für solche wie sie hatte er sein Geld mit vollen Händen ausgegeben. Nein, er bereute es nicht. Das Bedauern in seiner Seele rührte vielmehr von seinem Alter her. Er war zu alt für dieses Weib, viel zu alt. Und vor allem viel zu arm. Er würde sie zu gerne zum Essen einladen. Einfach so, ohne übertriebene Erwartungen. Es würde schön sein, sich mit ihr zu unterhalten, das wusste er.
„Was kann ich für sie tun, Herr Emmerich?“, eröffnete sie leicht amüsiert die Konversation.
Er erklärte den Grund seiner Nachforschungen. Natürlich erinnerte sie sich an die verschwundene junge Frau aus Aachen.
„Sie ist aber nicht aus unserem Hotel verschwunden“, korrigierte sie ihn. „Sie hat ganz normal ausgecheckt.“
„Verzeihen sie einem alten Herrn“, entschuldigte er sich, mit seinem Alter kokettierend. Zu seiner Freude ging sie auf das Spiel ein.
„Wenn sie ein alter Herr sind, bin ich eine Frau in mittleren Jahren!“
Sie flirtete tatsächlich mit ihm. Wenn er doch bloß Geld hätte, um sie zum Essen einzuladen. Sollte er dafür seine Prinzipien aufgeben und zum ersten Mal seinen Bruder anpumpen, den ehrenwerten Dr. Emmerich? Oder doch lieber wieder Frau Krygier? In der Regel ließ die sich das Geld nicht zurückgeben, sondern in Form von kleinen Dienstleistungen, meistens handwerklicher Art, abarbeiten. Doch um diese Klassefrau auszuführen benötigte er mindestens einen Hunderter, und um solch eine Summe hatte er seine Nachbarin bisher noch nie angepumpt.
„Ich kann ihnen leider gar nichts dazu sagen. Ich arbeite hier nur ab und an als Aushilfe. Ich habe diese vermisste Frau gar nicht zu Gesicht bekommen.“
„Oh, sie sind sicher die Hoteldirektorin“, mutmaßte er und ärgerte sich schon, als es noch nicht ganz ausgesprochen war. Viel zu plumpes Kompliment für so ein Rasseweib. Er versuchte, die fatale Wirkung durch ein kurzes Auflachen abzumildern. Doch sie zierte sich kein bisschen.
„Ich habe ganz andere Ziele, studiere an der TU. Ich werde mal den Nobelpreis bekommen.“
Soviel unverkrampfte, jugendlich naive und überzeugte Zielstrebigkeit schwemmte bei Theo die letzten Hemmungen fort.
„Ich würde sie gerne zum Essen einladen.“
„Warum gerade mich? Ich kann ihnen doch bei ihren Ermittlungen nicht weiter helfen!“, entgegnete sie mit kühler Logik.
Theo suchte blitzschnell nach einem überzeugenden Argument. Logik war schließlich sein ureigenstes Spezialfach!
„Die verschwundene Frau ist 24 Jahre alt, seit 6 Jahren mit einem Künstler verheiratet, der Mitte Vierzig ist. Ich denke, Sie sind etwa im gleichen Alter wie diese Frau. Weshalb ist sie verschwunden? Entführt, verschleppt, gar ermordet? Oder hat sie einfach ihren Gatten sitzen gelassen? Darüber würde ich liebend gern mit ihnen ein wenig philosophieren. Vielleicht hilft mir das irgendwie weiter. Die Polizei hat jedenfalls bis jetzt nichts herausgefunden. Ich brauche irgendeinen Ansatzpunkt. Inspiration wäre da nicht schlecht.“
Sie dachte einen Moment darüber nach, dann lachte sie ein kleines, amüsiertes Lachen: „Einen Privatdetektiv inspirieren. Sowas erlebt man wirklich nicht jeden Tag. Okay. Aber heute geht nicht. Wie wäre es mit morgen Abend?“
Nachdem sie einen Treffpunkt ausgemacht hatten, ging Theo hoch erfreut davon. Wieder einmal war er für die, von seiner rumänischen Mutter ererbte Begeisterungsfähigkeit dankbar. Trotzdem überraschte ihn die Wirkung heute: Das bei solch einer Traumfrau, die doch seine Tochter sein könnte. Nun musste er nur noch seine Nachbarin davon überzeugen, ihm einen Hunderter zu leihen. Oder sollte er doch seinen kleinen Bruder bitten? Angeboten hatte der ihm das schon mehrfach. Ach, verfluchter Stolz, dachte er. Ich werde Victor anpumpen. Und nicht bloß um einen Hunderter, mindestens zwei!
Theos Tatendrang wuchsen Flügel durch das Date mit Tanja. Ach was Flügel, Schwingen! Die Schwingen eines Adlers. „Sagen Sie ruhig Tanja zu mir, alle nennen mich hier Tanja.“ Tanja und Theo, Theo und Tanja. Morgen würde er mit ihr essen gehen. Das Blatt wendete sich, seine Pechsträhne versickerte, blieb in der Zeit stecken. Wurde festgehalten von der Vergangenheit!
Im Treppenhaus hing der schwere Geruch von gekochtem Basmatireis. Erinnerte Theo irgendwie an Schweißfußsocken, denn er mochte keinen Reis. Er war ein ausgesprochener Kartoffelfreak: Pommes, Pellkartoffeln, Stampfkartoffeln, Kartoffelgratins aller Art, Bechamelkartoffeln, nur keine Salzkartoffeln. Sein beflügeltes Gehirn setzte die Visionen prompt um, trotz Reisgeruch schoss ihm das Wasser in den Mund.
Aber erst der unangenehme Teil. Victor anrufen. Es war kurz nach Halbdrei. Da war die Praxis noch geschlossen. Also Handynummer wählen.
Victor freute sich richtig über den Anruf.
„Du treulose Tomate! Wann kommst du mal wieder? Wie wär’s heute Abend? Marianne ist mit ihrer Gymgruppe unterwegs. Haben wir sturmfreie Bude. Ich koch uns was Feines!“
„Nicht schlecht. Aber eigentlich rufe ich an, weil ich dringend Geld brauche. Arbeite gerade an einem Fall, aber ohne Vorschuss…..“
„Wie viel brauchst du?“, unterbrach Viktor ihn.
„Zwei Hunderter mindestens“, erklärte er, ermutigt durch die positive Reaktion seines Bruders.
„Kein Problem. Heute Abend, 20°° Uhr bei mir. Bring Zeit mit! Nach dem Essen können wir meinen neuen Whisky verkosten.“
„Neu? Nicht mehr Glenfiddich?“
„Seit ich in einem Roman gelesen habe, dass Glenfiddich für den wahren Whiskykenner nur Spülwasser ist, bin ich umgestiegen. Allerdings konnte ich mich bisher nicht für eine Sorte entscheiden, entweder Bruichladdich oder Glenlivet.“
„Spülwasser, das darf doch nicht wahr sein! Sag mal, haben die Leute von Glenfiddich denn nicht den Verlag verklagt, der sowas druckt?“
„Keine Ahnung“, lachte Victor, „aber ich habe noch eine angebrochene Flasche, kannst du gerne haben! Auf jeden Fall brauchen wir eine gute Grundlage, also bring Hunger mit!“
Noch eine Verabredung zum Essen, nicht schlecht. Victor kochte sehr lecker, so wie Mama, viel Butter und Sahne. Deswegen ließ Marianne ihn so ungern an den Kochtopf. Sie hatte mal gesagt, Victor suche vergebens nach einem Ernährungsratgeber, der Fritten mit Majo sowie Schokolade für gesund erklärt. Und das als Facharzt für Inneres. Metabolismus oder ‘Metabeulismus‘, das war die entscheidende Frage. Trotz Geldmangel neige ich im Moment mehr zum ‘Metabeulismus‘, dachte Theo und schaute an sich hinunter. Sein Bauch wölbte sich unübersehbar nach außen, trotzdem knurrte sein Magen jetzt vernehmlich. Automatisch öffnete er die Kühlschranktür, obwohl er wusste, was ihn erwarten würde: gähnende Leere.
Aber im Küchenschrank musste es noch Tütensuppen geben, die Notration. Einen Kanten Brot gab es auch noch im Steintopf, in dem er sein Brot aufbewahrte. Damit würde er bis heute Abend durchhalten können.
Während die Suppe köchelte, kramte er unter seinem Bett nach den Hanteln. Eingesponnen in einer, von Staubfäden durchzogenen, grauen Schicht, wirkten sie wie die Requisiten eines Horrorfilms. Er hielt sie unter den laufenden Wasserhahn, trocknete sie dann sorgfältig mit seinem Frotteehandtuch ab und begann mit Armbeugen für den Bizeps.
Die Suppe machte ihn erst richtig hungrig. Da half nur noch Ablenkung. Er schob den leeren Teller von sich, sprang auf und flüchtete vor dem Essensgeruch ins Büro. Automatisch drückte er auf den Knopf für den Anrufbeantworter. Überraschend erklang die Stimme einer unbekannten Anruferin. Eine Frau Müller-Schlomkat bat dringend um Rückruf.
Solch ein hochherrschaftliches Treppenhaus hatte Theo schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Gewienerter Parkettboden, nur der altmodisch vertraute Geruch von Bohnerwachs fehlte. Farbige Sisalläufer zogen sich durch die Flure und die Treppen hinunter. Eine Menge Arbeit für die Reinigungsfirma, dachte er. Zweite Etage hatte sie durch die Sprechanlage gesagt. Die Tür mit dem großen stumpfen Messingschild war noch geschlossen. Anscheinend rechnete sie damit, dass er den alten, mit schmiedeeisernem Blattwerk verzierten Fahrstuhl benutzen würde. Prof. Dr. Dr. Müller-Schlomkat stand auf dem schwarz angelaufenen Schild. Ihr Mann hatte also auch schon diesen Doppelnamen getragen. Ziemlich ungewöhnlich. Gerade als er auf die Klingel drücken wollte, öffnete sich die Tür.
Eine korpulente kleine, sehr energisch wirkende Frau. Die weißen Haare lagen in akkuraten Dauerwellen angeordnet um ihren greisenhaften Schädel. Bevor sie die Tür weiter öffnete, um ihn einzulassen, musterte sie ihn mit wachen, erstaunlich dunklen Augen.
Sie ging vor ihm her durch den langen Flur. Ihre Bewegungen waren überraschend flüssig, schienen weder zu ihrem Alter noch zu ihrem Übergewicht zu passen. Sie führte Theo in das geräumige Wohnzimmer, das nur durch einen breiten Durchgang vom Esszimmer getrennt war. Beide Räume zusammen schätzte er auf mindestens 80 Quadratmeter. Alte dunkle Eichenmöbel mit gedrechselten Säulen verliehen dem Raum einen nostalgischen Charme, da Frau Müller-Schlomkat interessanterweise weiß gestrichene Raufasertapeten favorisierte. Englische Polstermöbel in weinrotem, abgestepptem Leder ruhten behäbig auf einem sicherlich echten, sehr teuren Perserteppich. Auf dem Couchtisch standen zwei Kaffeetassen bereit.
„Sie trinken doch einen Kaffee mit?“, fragte sie ihn, während sie mit einer Hand auf den Sessel wies. Theo setzte sich brav und nahm ihr Angebot an. Sie entschuldigte sich und verschwand, wahrscheinlich in Richtung Küche.
Er lehnte sich in dem erstaunlich gemütlichen Sessel zurück und fing gerade an den Raum mit den Augen zu inspizieren, als sie schon wieder auftauchte, in der Hand eine Porzellankanne, umhüllt von einer museumsreifen, wattierten Haube zum Warmhalten. Trotzdem schmeckte der Kaffee ausgezeichnet.
„Ich gebe immer eine Prise Salz und einen gestrichenen Teelöffel Kakao hinzu“, erwiderte sie sein Kompliment.
Dann herrschte wieder Stille. Sie ließ sich Zeit, nippte an ihrer Tasse mit einem verhaltenen Schlürfgeräusch. Theo spiegelte ihr Verhalten wider, das erzeugte Vertrauen. Wie sie führte er die Tasse mit beiden Händen zum Mund, nahm nur kleine Schlückchen und erzeugte zarte Töne des Behagens. Es wirkte.
„Rauchen Sie gern Zigarren? Möchten Sie eine? Mein Mann war Zigarrenraucher. Ich mag den Duft so gern.“
Erfreut nahm Theo dieses unverhoffte Angebot war. Die alte Dame wurde ihm immer sympathischer.
Während der gesamten zeremoniellen Prozedur bis zum Anzünden der Zigarre beobachtete sie ihn schweigend. Nach dem ersten Zug lehnte sich Theo entspannt zurück, schlug die Beine übereinander und blies einen fast perfekten Rauchkringel in die Luft. Seine Gastgeberin blieb weiter stumm. Die geruhsame Stille, in der die Zeit stehen zu bleiben schien, verstärkte das bisher nicht wahrgenommene leise Ticken eines mechanischen Uhrwerks und unbewusst fing er an mit den Augen nach der Quelle des Geräuschs zu suchen.
„…… meiner Nichte.“ Mühsam zog sich Theo aus seiner Wohlfühltrance heraus. Frau Müller-Schlomkat hatte angefangen zu erzählen, was ihr auf dem Herzen lag. Er unterbrach sie nicht, obwohl ihm der Anfang entgangen war.
„Sie ist meine einzige Verwandte, mein Mann und ich haben keine Kinder. Ulrike ist die Alleinerbin meines nicht unbeträchtlichen Vermögens. Sie ist 38 Jahre alt, lernt einen Mann kennen, der macht ihr bereits nach vier Wochen einen Heiratsantrag und das im 21. Jahrhundert! Da stimmt doch was nicht!“
„Kennen Sie ihn?“
Meine Nichte kommt jeden Sonntag zum Essen. Sie hat ihn nach dem Antrag eingeladen. Natürlich mit meiner Zustimmung. Er war nur ein einziges Mal dabei. Die letzten beiden Sonntage war er jedes Mal verhindert. Das ist doch kein Zufall! Der Kerl gefällt mir nicht!“
Zu Theos Fragen lieferte sie leider keine nennenswerten Einzelheiten und er fragte sich, ob sie sich vielleicht mehr Sorgen um ihr Geld machte als um ihre Nichte. Er verdrängte diesen Gedanken jedoch sofort wieder und ließ sich die Informationen geben, die er benötigte um die erwünschten Nachforschungen anzustellen. Dann stellte sie ihm die Frage nach dem wie viel.
„200 pro Tag, plus Spesen.“
„Wie lange werden Sie brauchen?“
„Normalerweise nur ein paar Tage.“
Sie zückte ihr bereitliegendes Scheckbuch, schrieb den Scheck aus und überreichte ihn Theo.
„Sechshundert fürs erste. Falls ich recht habe, ist mir das eine Erfolgsprämie wert.“
Beglückt verstaute Theo den üppigen Scheck in seiner Brieftasche. Da hätte ich Victor gar nicht anpumpen müssen, dachte er. Während er mit wohligem Behagen die Zigarre rauchte, fing die alte Dame an von ihrem verstorbenen Gatten zu erzählen. Als Theo sich eine halbe Stunde später verabschiedete, tätschelte sie seine Hand als wären sie alte Freunde.