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Kapitel 7
ОглавлениеDie Reste eines Tiefs hingen als Filzdecke über Aachen. Diese übliche homogene Wolkenmasse, die nicht den kleinsten Sonnenstrahl hindurch ließ, lediglich eine diffuse Helligkeit. Max Rahn war gebürtiger Aachener, er liebte seine Stadt. Alles an ihr, bis auf das Wetter und den Karneval. Wenn irgend möglich verbrachte er die Tage von Fettdonnerstag bis Aschermittwoch außerhalb der Stadt. Leider war das Wetter im Gegensatz zum Karneval ganzjährig. Wie oft hatte er es erlebt, wenn er die Autobahn Richtung Heimat fuhr, überall blauer Himmel und Sonnenschein, auch noch in Köln. Aber hinter Frechen sah man dann diese Wolkenmatte am Nordrand der Eifel festhängen, ganz Aachen überschattend. Er erinnerte sich an den Sommer, als zwei Monate lang, Juni und Juli dieser Filzhimmel über Aachen klebte, der nicht mal ahnen ließ, wo die Sonne stand. Kein Tropfen Regen in diesen langen Wochen, aber auch kein Sonnenstrahl, während sich ganz Deutschland über einen Jahrhundertsommer freute. Und trotzdem, er wollte nirgendwo anders leben. Er hatte geglaubt, auch Jeanne liebe Aachen, zumal es so nahe bei ihrer ursprünglichen Heimat in Limburg lag.
Der Schmerz um ihr Verschwinden zuckte in seinem Bewusstsein. Doch er wollte nicht daran erinnert werden, nicht jetzt, nicht heute, am liebsten gar nicht mehr. Seit dieser Detektiv aus Berlin angerufen hatte, fiel ihm das Verdrängen wieder schwer. Alle diese Gefühle und Zweifel. Irgendetwas sagte ihm, das sie einfach abgehauen war, verschwunden aus einem Leben, das sie zusehends langweilte. Es war schließlich nicht das erste Mal. Ihren Eltern hatte sie mit fünfzehn Jahren dasselbe zugemutet. Trotzdem verschwieg er seine Vermutungen, lieber lebte er mit dem Mitleid in seinem Freundeskreis als mit der Verachtung. Niemand hatte ein Problem mit Frauen, die verlassen wurden, sowas passierte halt, doch ein Mann, den seine Ehefrau hat sitzen lassen, das war ein willkommener Anlass negative Sichtweisen zu manifestieren. Bachman und Hanni würden zu ihm stehen, davon war er überzeugt. Aber seine anderen Bekannten, da hegte er heftige Zweifel. Die wenigstens Künstler die er persönlich kannte waren verheiratet, das passte einfach nicht in ihre Vorstellung von einer Lebensweise, die nur von ihrer Kunst bestimmt wurde.
Max löste sich vom Fenster. Das Wetter machte ihn heute sehr melancholisch. Dabei freute er sich auf die Einladung bei seinen persischen Freunden. Hanni würde sein Lieblingsgericht Imam Bayildi kochen: Das Essen bei dem der Imam in Ohnmacht fiel. Irgendwo lag das Rezept herum. Sie hatte es eines Tages für Jeanne aufgeschrieben. Jeanne kochte gerne und gut. Sehr gerne. Das erste, was sie damals in der Provence für ihn gekocht hatte, war algerisches Couscous gewesen. Er wollte nicht an Jeanne denken! Warum war der Imam in Ohnmacht gefallen? Er versuchte, sich an Hannis Erklärung zu erinnern. Eine Legende besagte, er habe das Bewusstsein verloren, als ihm der Wohlgeruch der gefüllten, geschmorten Auberginen in die Nase stieg. Eine weniger feine Version behauptete, er habe sich an dem Leckerbissen völlig würdelos bis zum Kollaps überfressen. Nach der dritten Legende sollen ihn die Sinne verlassen haben, weil ihm sein Lieblingsgericht aus irgendwelchen Gründen verweigert wurde.
Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Auch nicht gerade aufmunternd. Er musste irgendetwas tun um sich abzulenken. Es waren noch einige Stunden bis zu der Einladung. Unschlüssig trat er an seine Staffelei, nahm einen Pinsel zur Hand, starrte auf das angefangene Bild und legte nach kurzem Zögern den Pinsel wieder ab. Nein, seit Jeannes Verschwinden musste er selbst beim malen an sie denken. In seinem ruhelosen Zustand wäre ein ausgiebiger Spaziergang wahrscheinlich das Beste. Er ging entschlossen in den Flur, suchte seine bequemen Segelschuhe in den Schuhkippern, überlegte einen Moment, ob er sicherheitshalber einen Regenschirm mitnehmen sollte und verließ die Wohnung.
Wohlüberlegt ging er nicht Richtung Stadtmitte, Aachen war einfach zu klein, dort traf man unweigerlich Bekannte. Und er wollte jetzt niemanden treffen. Das Selbstmitleid zerrte zu sehr an seiner Selbstbeherrschung. Wer auch immer ihm heute über den Weg lief, es bestand die Gefahr, dass er sich als verlassener Ehemann outen würde!
Als Max den Elleterberg hinaufstieg geriet er außer Atem und lehnte sich keuchend gegen einen Baumstamm. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er das Gillesbachtal weit hinter sich gelassen hatte, ohne es überhaupt wahrzunehmen. Er konnte sich auch nicht daran erinnern die Adenauerallee und die Monschauer Straße überquert zu haben. Jeanne hatte ihn voll im Griff! Seine Gedanken kreisten ausschließlich um sie und sein Gehirn ließ die Erinnerungen als Film vor seinem inneren Auge abspulen.
Dieser aufregende, lange Sommer in der Provence. Er war mit dem Zelt unterwegs gewesen. Das Ende einer langjährigen Beziehung weckte in ihm wieder Abenteuerlust und Erlebnishunger. Er war damals mit seiner alten Campingausrüstung ins Auto gestiegen und Richtung französische Mittelmeerküste gefahren, ohne ein bestimmtes Ziel. Hinter Lyon übernachtete er das erste Mal bei Weinbauern, Camping a la ferme. Das Ehepaar war in seinem Alter, Mitte Dreißig und sie verbrachten einen feuchtfröhlichen Abend in der Scheune. Sein Französisch reichte aus für ein Gespräch über die Tücken der Weinherstellung. Sie ließen ihn sogar ihren größten Flop verkosten und gaben ihm einen ganzen Karton mit auf den Weg, weil er ihn gar nicht so schlecht fand. Danach wechselten sie zu den besseren Sorten und hörten auf, Striche auf dem Rechnungsblock zu machen. Er erzählte ein wenig von seiner Kunst und kritzelte ein paar Karikaturen in seinem Skizzenblock für die beiden. Im Laufe des Abends trudelten noch einige Leute aus der Nachbarschaft ein und die deutsch-französische Völkerverständigung endete mit dem Versprechen, zur Weinlese wieder zu kommen. Er hatte das wirklich ernst gemeint, zumal sie ihn überreden wollten noch ein paar Tage zu bleiben. Aber ihn trieb es nach Süden, denn über den Weinbergen hing ein nicht weichen wollender Nieselregen. Fast wie Aachener Wetter. Seine zweite Zwischenstation lag in der Provence, St. Remy du Provence.
Jeanne lief ihm schon beim einchecken über den Weg. Oder besser gesagt, saß vor ihm, hinter dem Tresen der Rezeption. Eine braungebrannte, faszinierende blonde Schönheit. Botticellis Venus. Er hätte sie am liebsten sofort gemalt. Von Anfang an blieb er ihretwillen länger auf dem Campingplatz. Es wurden fast zwei Monate daraus. Das Mittelmeer lief ja nicht davon. Aber bei solch einer Frau konnte man nie wissen. Dabei hatte er fürs erste die Nase voll von festen Beziehungen. Trotzdem fuhr er am Ende mit einem Heiratsversprechen nach Aachen zurück.
Sie war ein frühreifes Früchtchen, ohne Hemmungen verführte sie ihn und war so abgebrüht, nicht zu verhehlen, welchen Spaß ihr das machte. Wie der sprichwörtliche Stier, der zur Schlachtung geführt wurde, ging er ihr in die Falle und war noch glücklich dabei.
Dieser warme Abend, die Zikaden zersägten unermüdlich die abendliche Ruhe, nur in regelmäßigen Abständen übertönt von dem klopfenden Ruf eines Käuzchens, das nach einem Partner suchte. Er saß auf einem der Plastikstühle neben dem Swimmingpool des Campingplatzes. Mareike und Wim, die Besitzer, betrieben gleichzeitig ein kleines Restaurant. Und meistens kochte Jeanne. Der Duft des Lammragouts waberte durch die Eingangstür und umwehte die Tische. Er war an diesem Abend der einzige Gast, es war ein Montagabend. Sonntag hatte sich der Campingplatz deutlich geleert, noch waren keine Sommerferien in Frankreich.
„Riecht lecker, nicht wahr?“, fragte Wim und setzte sich an den Nachbartisch.
„Himmlisch! Dauert es noch lange?“
„Na, halbe Stunde.“
„Rutsch doch rüber, ich lade dich zu einem Pastis ein.“
Bis Jeanne das Couscous servierte, waren die beiden Männer schon sehr entspannt vom Alkohol. Jeannes Mutter deckte den Tisch nebenan für vier Leute und dann zelebrierte Jeanne gekonnt ihr algerisches Ragout. Es war umwerfend lecker, Max aß zum ersten Mal Kichererbsen und stellte fest, er habe sich den Geschmack ganz anders vorgestellt.
„Jeanne hat sich mit einer algerischen Familie angefreundet. Sie haben eine Tochter in ihrem Alter. Da hat sie dieses leckere Rezept her.“
Mareike und Wim waren unübersehbar stolz auf ihre Tochter. Und Max nutzte das, um Jeanne ausgiebig zu loben.
Nach dem Essen fragte er sie, wie eine holländische Familie zu einem Campingplatz in der Provence käme.
„Wir sind Aussteiger!“, beantwortete Wim seine Frage kurz und knapp. Mareike lachte und erklärte: „Sehr langsame Aussteiger! Wir haben Jahre dafür gebraucht. Wir haben viele Jahre auf diesem Campingplatz Urlaub gemacht. Wir sind richtige Frankreichfans.“
„Deshalb habe ich auch einen französischen Namen. Jeanette. Grässlich!“, beschwerte sich Jeanne.
„Sie hat sich selbst umbenannt, als sie sich in der Schule mit Jeanne d’Arc beschäftigt haben. Von da an durften wir nicht mehr Jeanette zu ihr sagen.“
„Jedenfalls hatten wir uns mit dem Ehepaar angefreundet, dem der Platz gehörte“, erzählte Mareike weiter.
„Und ich hatte nicht den Wunsch, mein Leben lang Plastiktüten herzustellen“, unterbrach Wim sie. „Wir hatten eine Fabrik, ein Haus mit einem Park und Limburger Wetter. Und das ein Leben lang, nein, das wollte ich nicht.“
„Das mit dem Wetter kann ich nachvollziehen“, meinte Max. „Ist genau dasselbe Wetter wie in Aachen. Aber eine Plastiktütenfabrik fände ich nicht schlecht. So neben der Kunst als Einkommensquelle.“
„Leider kannten wir dich da nicht, sonst hätten wir sie dir verkauft. Auf Raten natürlich!“
„Oh, danke. Du bist ein wahrer Freund!“
„Noch ein Pastis?“
„Wie ich sehe, seid ihr Männer wunschlos glücklich!“, stellte Mareike fest und fing an den Tisch abzuräumen. Jeanne blieb sitzen und als ihre Mutter mit dem Geschirr Richtung Küche verschwunden war, nutzte sie die Abwesenheit ihrer Mutter, ihren Vater anzubetteln, noch mal in die Stadt zu dürfen. Alle ihre Freunde trafen sich abends auf dem Marktplatz in St. Remy. Nur sie durfte nie hin um diese Uhrzeit. Max nutzte die Gunst der Stunde und bot sich als Begleitschutz an, da er inzwischen erfahren hatte, dass sie noch nicht ganz 17 war.
Unter diesen Umständen stimmte auch Jeannes Mutter zu und das Mädchen verschwand um sich umzuziehen. Als sie wieder auftauchte wirkte sie in Max Augen geradezu atemberaubend. Sie trug eine hautenge Jeans und dazu eine taillierte Bluse, die aber brav zugeknöpft war. Als sie später, in einem Straßencafe saßen, waren plötzlich mehrere Knöpfe geöffnet und gewährten einen tiefen Einblick auf ihren push up BH, der ihre Brüste zu prallen Kugeln trimmte.
Jeannes Freunde waren nirgendwo zu sehen und sie nutzte die Gelegenheit ihn heiß zu machen sehr gekonnt. Trotzdem vermied er es, sie zu berühren, obwohl sie auch auf dem Rückweg wie selbstverständlich nach seiner Hand griff. Da er die Angewohnheit hatte, beim Reden mit den Händen zu gestikulieren, nutzte er das wiederholt um sich aus der Umklammerung ihrer Finger zu lösen.
Auf dem Campingplatz war es dunkel und still. Er lieferte Jeanne an der Eingangstür zum Wohnhaus ab, das an die Rezeption grenzte. Danach schlenderte er zu seinem Zelt, holte seine Kulturtasche und wanderte zum Waschhaus. Jetzt konnte er eine kalte Dusche gebrauchen. Eine halbe Stunde später zog er, in jeder Hinsicht abgekühlt, den Reißverschluss zu seinem Zelt auf und war sprachlos, Jeanne in seinem Schlafsack liegen zu sehen. Immerhin trug sie Shorts und ein T-Shirt. Trotzdem konnte er ihr dieses Mal nicht wiederstehen. Die Tatsache, dass sie offensichtlich keine Jungfrau mehr war, nahm ihm seine kurz aufkeimenden Gewissensbisse. Sie liebten sich wild und hungrig und Jeanne verschwand erst aus seinem Zelt als die Sonne aufging.
Sie hatte ihn heftig ausgetrickst. Sie wollte weg vom Campingplatz, sie wollte weg von Frankreich, sie wollte weg von ihren Eltern. Und sie wusste, wie man einen Mann ködert, der gerade von seiner langjährigen Freundin verlassen worden war. Sie baute ganz gezielt sein Selbstbewusstsein auf. „Nimm mich mit nach Aachen. Ich liebe dich.“ Unentwegt lag sie ihm damit in den Ohren, wie einst Delila ihrem Samson. Doch man konnte nicht einfach so eine Siebzehnjährige mitnehmen. Auf seine Argumente reagierte sie mit schmollen, weinen und Bestrafung. Immer in dieser Reihenfolge, nur wurde ihm das damals nicht bewusst. Bestrafung hieß, sie tauchte Nächtelang nicht in seinem Zelt auf, dann erst wieder kurz vor Sonnenaufgang um ihn erneut anzubetteln, sie mit nach Aachen zu nehmen und sofort wieder zu verschwinden, weil er nur zögernd auf ihr Drängen reagierte. Auf diese Art kochte sie ihn beharrlich weich.
Natürlich war all das ihren Eltern nicht entgangen. Wim füllte ihn eines Abends am Swimmingpool mit Pastis ab und erzählte Max einiges über seine Tochter. Seine Adoptivtochter. Sie war bei der Adoption bereits fast sieben Jahre alt gewesen, scheinbar ein hoffnungsloser Fall. Sämtliche Adoptionsversuche davor waren gescheitert. Aber Mareike hatte sich richtig verliebt in dieses quirlige, wunderschöne kleine Mädchen. Ihre Geduld wurde dann allerdings wirklich auf eine harte Probe gestellt.
„Wir sind wegen Jeanne nicht früher ausgestiegen aus unserem Leben in den Niederlanden. Auch wenn der Anfang mit ihr schwer war, aber danach war es wunderbar mit ihr. Wirklich so, wie Mareike und ich es uns vorgestellt haben mit einer Tochter. Und wir wollten, dass Jeanne ihre Schulausbildung beendet und auch nicht von ihren Schulfreunden getrennt wird. Natürlich wusste sie von unseren Plänen und fand die Idee, einen Campingplatz in der Provence zu haben ganz toll. Sie hat uns dann förmlich dazu überredet, die Sache früher anzugehen, als die Vorbesitzer sich nach einem Käufer umsahen. Sie war fünfzehn und wollte die letzten Schuljahre bei ihrer heißgeliebten Oma wohnen. Meine Mutter besitzt eine große Wohnung in Brunssum, Nicht weit von Jeannes Gymnasium. Und in den Ferien konnte sie uns ja besuchen. Außerdem kauften wir eine kleine Eigentumswohnung in Brunssum. Von Anfang Dezember an sind wir jedes Jahr für drei Monate dort. Das war gleich so geplant.“
Max konnte sich noch genau erinnern, wie Wim plötzlich aufhörte zu reden und sein Pastisglas auf dem Tisch hin und her schob. Er wusste nicht, weshalb der Mann ihm all das erzählte und sagte lieber nichts dazu. Das Schweigen zog sich für ihn unangenehm in die Länge und er war erleichtert, als Jeannes Vater die Erzählung erneut aufnahm.
„Wir waren keine zwei Wochen weg, da rief meine Mutter an, total in Panik. Jeanne war verschwunden. Nur ein kleiner Zettel lag auf dem Tisch in ihrem Zimmer: Omilein, ich habe dich sehr lieb. Mach dir keine Sorgen um mich. Na, und wie wir uns Sorgen gemacht haben. Es hat fast drei Monate gedauert bis sie hier aufgetaucht ist. Mareike war glücklich, ihre Ängste mit einem Schlag wieder los zu sein. Jeanne hat uns nie erzählt, wo sie gewesen ist, was sie gemacht hat … Tja, und jetzt will sie wieder weg: Sie hat gesagt, du willst sie heiraten.“
Max war wie vom Donner gerührt, das war also der Grund für die lange Ansprache. Es lag wohl an dem vielen Pastis, dass er die unausgesprochene Frage mit ja beantwortete. Damit war Wim seine Sorgen los, aber für ihn selbst begannen sie.
Keuchend blieb er stehen, der Anstieg am Elleterberg nahm ihm die Luft und erinnerte ihn an die ständigen Ermahnungen seiner Physiotherapeutin Inga, bei der er seit einem Autounfall in Behandlung war, endlich etwas für seine Fitness zu tun. Seit Jeannes Verschwinden schob er es vor sich her, bei seinem Arzt ein neues Rezept für die nächsten sechs Anwendungen zu holen. Inga war unübersehbar scharf auf ihn und witterte ihre große Chance, sich ihn jetzt zu angeln. Max witterte dagegen den Alkohol in ihrem Atem, wenn sie sich bei der Massage seiner Schultergelenke über ihn beugte, trotz Pfefferminz, vermischt mit Wolken von Parfüm. Sie war eine Spiegeltrinkerin, niemals würde man sie betrunken erleben. Max hatte sie als Alkoholikerin erkannt, als er eines Tages den ersten Termin am Morgen zur Behandlung bei ihr wahrnahm. Er war nach der Betätigung des Türöffners wohl schneller die vier Treppen hochgestiegen, als sie von ihm erwartet hatte. Blitzschnell ließ sie das kleine Fläschchen verschwinden, dessen Inhalt sie in ihre Kaffeetasse geschüttet hatte.
Das kannte er von Onkel Erich, dem Lebensgefährten einer seiner verwitweten Tanten. Onkel Erich startete den Tag genau wie Inga mit Schnaps im Kaffee. Er war ebenfalls Spiegeltrinker, trotzdem kletterte er mit seinen siebzig Jahren sicher die Leiter rauf und runter, als er in Max Atelier den mit Heftpflaster verbundenen Klingeldraht durch richtige Elektroleitungen ersetzt hatte. Den Staub, den das Aufstemmen der Wände erzeugte, spülte er mit einer ganzen Kiste Bier herunter. Die mitgebrachten Proviantpakete verspeiste der alte Mann mit großem Appetit, was wiederum jedes Mal ein Verdauungsschnäpschen nötig machte. Im Gegensatz zu Inga spielte Onkel Erich nicht Versteck, sondern soff fröhlich und mit Überzeugung. Auf einen ahnungslosen Menschen wirkte er stocknüchtern. Wie Inga auch.
Max schaute auf seine Armbanduhr. Es wurde Zeit umzukehren, wenn er nicht verspätet bei Hanni und Bachman auftauchen wollte.
Es roch schon im Treppenhaus fantastisch lecker. Leider erzeugte der appetitliche Geruch bei Max erneut die depressive Stimmung. Er vermisste Jeanne. Er vermisste sie, obwohl sie in letzter Zeit ständig unzufrieden gewesen war, über alles mögliche nörgelte, sogar über Dinge, die sie früher schön fand oder sogar aufregend. Aufgemotzt Vernissagen besuchen, die Aufmerksamkeit der Besucher durch schrille Klamotten auf sich ziehen, all das machte ihr mit einem Mal keinen Spaß mehr!
Ich muss mich zusammenreißen, dachte er, auch wenn Hanni und Bachman wirklich Freunde sind, ich will kein Mitleid. Sie müssen nicht wissen, dass ich glaube, nein, davon überzeugt bin, Jeanne ist einfach abgehauen, auf und davon, wie ein Zugvogel.
„Wo ist Jeanne?“, fragte Parvis, drängelte sich an den Beinen seines Vaters vorbei und schaute die Treppe hinunter. „Wo ist Jeanne? Wir wollen doch Mensch ärgere dich nicht spielen!“
Es war Jeanne gewesen, die dem kleinen Sohn von Bachman und Hanni mit einer, für sie ungewöhnlichen Geduld dieses Spiel beigebracht hatte. Parvis verzog weinerlich das Gesicht, als sein Vater ihm erklärte, Jeanne wäre in Berlin und könne heute nicht kommen.
„Warum denn nicht?“, jammerte er lautstark immer wieder, bis Max sich aufraffte, ihn mit dem Versprechen auf den Arm zu nehmen, nach dem Essen mit ihm zu spielen.
Der Junge vermisst Jeanne wirklich sehr, dachte Max. Ich vermisse sie auch sehr. Ich will sie zurück haben! Morgen werde ich diesen Detektiv in Berlin anrufen. Ich will meine Frau, ich brauche sie. Ohne sie ist mein Leben langweilig.