Читать книгу LaPax - Linda Kieser - Страница 6

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Das System

Das Bett war weich und kuschelig. Die weißen Bezüge glänzten im Mondlicht, das durch das Fenster fiel. Auf der Station war alles ruhig und friedlich und trotzdem konnte Ma nicht schlafen. Zum bestimmt 50sten Mal seit dem kleinen Eingriff, berührte sie ihre rechte Schläfe, doch sie konnte dort gar nichts ertasten. Sie wusste, dass sie einen Fremdkörper eingepflanzt bekommen hatte, doch er schien gar nicht da zu sein. Ihr Körper fühlte sich an wie immer, außer einem leichten Rauschen in den Ohren, das sie auf die Operation schob. Und doch wurde sie die innere Unruhe nicht los. Nun war sie untrennbar mit dem System verbunden.

Nach der Arbeit waren die Assistenten am Tor gestanden und hatten die Nummern aufgerufen, die sich zur Implantierung melden sollten. Seit Wochen, nein seit Monaten, hatte Ma damit gerechnet ihre Nummer zu hören, doch sie war immer verschont geblieben. Jeden Tag hatten sich ihre Kinder aufs Neue gefreut, wenn sie nach Hause gekommen war und irgendwann hatten sie sich wieder daran gewöhnt, dass nichts weiter passierte. Alles war wie immer. Bis gestern.

»MA538970S! Das sind doch Sie, oder? Warum folgen Sie nicht Ihrem Aufruf?«, hatte der Assistent sie wütend angebrüllt und am Arm gepackt.

»Entschuldigung. Ich habe Sie nicht gehört«, log Ma. Sie hatte ihre Nummer zwar bereits beim ersten Mal genau gehört, aber sie wollte es nicht wahrhaben, dass ausgerechnet heute der Tag sein sollte, an dem sie das Implantat des Systems bekommen sollte. Sie war einfach weiter in Richtung Fließband gegangen, das sie nach Hause bringen konnte, obwohl sie wusste, dass sie damit nicht durchkommen würde.

»Dann werden die Mediziner gleich mal ihre Ohren auf Verluste kontrollieren. Das wird dann schnell behoben sein«, antwortete der Assistent.

Der aktuellen Assistenten-Mode entsprechend trug der Mann eine hellblaue Uniform, die sein bleiches Gesicht nur noch blasser wirken ließ. Im Kontrast dazu hatte er kräftige schwarze Augenbrauen, die wahrscheinlich durch eine leicht unkontrollierte Genzusammenstellung hervorgerufen worden waren. Sein Alter konnte Ma schwer schätzen, doch er sah aus, als müsste er normalerweise bereits zum Überwacher aufgestiegen sein. »Tr0ja31« stand auf seinem Assistenten-Aufnäher. Vielleicht wurde er wegen seiner kleinen genetischen Auffälligkeit noch nicht zu Höherem erwählt. Ihm schien das jedoch nichts auszumachen, denn nach seinem anfänglichen Ausbruch war er nun sehr freundlich und führte Ma zu der kleinen Gruppe aus Assistenten und Nummern, die sich gerade am Fahrband zum Krankenhaus sammelten. Die meisten der Nummern tippten auf ihren portablen Bildschirmen herum, die fast alle Nummern besaßen. Die Natürlichen konnten sich meist keine eigenen leisten und hatten nur die nötigen Bildschirme in ihren Häusern. Vermutlich spielten die Wartenden eines der neuesten RealLife-Programme, erlebten Abenteuer, zogen in den Krieg oder sahen Sexprogramme.

Ma schüttelte unbewusst ihren Kopf und dachte an ihre reale Familie. Wie gerne hätte sie jetzt so einen verbindungsfähigen Bildschirm, von dem ihre Schwiegermutter öfter erzählt hatte. Scheinbar konnten die Natürlichen früher auf bestimmten Frequenzen Kontakt mittels ihrer Bildschirme aufnehmen. Gerade jetzt fiel Ma auf, dass so etwas tatsächlich hin und wieder sinnvoll wäre. Doch das System hatte all diese alten Frequenzen abgestellt, da sie ohnehin niemand mehr brauchte. Im System ging es um das Glück des Einzelnen. Wer brauchte da schon Verbindung zu anderen?

Leise stand Ma aus ihrem Bett auf und schaute aus dem Fenster. »Wenn die Fahrbänder um diese Zeit fahren würden, wäre ich raus hier«, dachte sie und schaute auf die leeren Straßen. »Ob Mini eingeschlafen ist?« fragte sie sich.

Plötzlich zuckte sie zusammen, denn sie hörte eine Stimme in ihrem Kopf. »Können Sie nicht schlafen?«

Es war das Implantat. Das System konnte nun auf diese Weise mit ihr in Verbindung treten. Konnte es auch ihre Gedanken lesen? Sie hoffte nicht, denn das würde sicher zu unnötigen Problemen führen und die Familie gefährden.

»Sie können im Gang eine Schlaftablette in Empfang nehmen«, informierte sie die Stimme als Nächstes.

Ma ging an den schlafenden Nummern vorbei in den Flur. Dort kam auch schon eine hellgrau gekleidete Assistentin mit einem Tablett angelaufen.

»Guten Abend«, sagte sie. »Ich wurde informiert, dass Sie …«, sie überprüfte mit einem Kennerblick Mas Nummer, »…eine Schlaftablette benötigen. Hier, bitte sehr. Darüber hinaus wird Ihnen eine kleine Sonderration Wasser zugestanden, zur Beruhigung.«

Unsicher griff Ma nach der Tablette und dem Becher auf dem Tablett. »Danke«, sagte sie und nahm die unscheinbare Pille mit dem Wasser.

»Ist schon in Ordnung«, meinte die Assistentin gönnerhaft und fuhr beschwingt fort. »Wir wissen ja, dass die Nummern, die viel mit den Natürlichen zu tun haben, manchmal etwas labiler sind. Das wird schon wieder. Sobald sie das Implantat eine Weile drin haben, wird es Ihnen viel leichter fallen, sich wieder unter die anderen Nummern einzugliedern.« Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand im Assistentenraum. Ihre Schritte hallten ungewöhnlich laut in den Gängen nach.

Ma ging benommen zurück ins Zimmer und legte sich auf ihr Bett. Hätte sie die Tablette nur nicht gleich genommen! Nach diesen Worten der Assistentin würde sie nie wieder etwas zu sich nehmen, was ihr das System anbot. Doch die Pille wirkte schnell und was immer sie enthielt, Ma schlief auf der Stelle ein.

»So, das Implantat wäre dann drin«, verkündete der Mediziner. In seinem feinen weißen Anzug saß er am Bildschirm und bediente den Doktor, einen Spezialroboter, der die eigentlichen Arbeitsschritte durchführte. Zuletzt wurde die kleine Wunde an der rechten Schläfe mit dem Heilungsspray verschlossen und der Doktor führte eine Selbst-Desinfizierung durch. »Warum läuft das Fließband nicht weiter? Ich habe schon gedrückt«, beschwerte sich der Mediziner.

»Bei dieser Nummer müssen wir noch die Ohren überprüfen. Assistent Tr0ja31 hat da eine ›Unregelmäßigkeit‹ angegeben«, erklärte eine Überwacherin aus dem Nebenraum. »Außerdem hat sie Natürliche geboren«, fügte sie angewidert hinzu.

Der Mediziner nickte und führte eine Spezialsonde in das Ohr ein. Laut Analyse gab es keinerlei Hörverluste. Dennoch platzierte er einen winzigen Chip in beiden Ohren. »So, das Hörproblem wäre dann behoben. Wir werden sehen, was es mit der Unregelmäßigkeit auf sich hat.« Hämisch grinsend drückte er wieder den Knopf und das Fließband brachte den nächsten Patienten vor den Doktor.

»Vorsicht, Mini! Pass auf! Bleib stehen!«

»Aber Mama, ich renne doch so gerne. Schau nur, wie schön es hier ist!«

»Mini, Stopp! Da vorne kommt ein …!«

»Aaaaahhhhh! Mamaaaaaaa!« Während Ma zusehen musste, wie ihr kleiner Sohn in den Abgrund stürzte, drang schließlich doch die Morgensirene zu ihr durch.

Schweißgebadet wachte Ma auf. Ihre Kleidung und ihr Arbeitskittel lagen neben ihrem Bett auf einem Stuhl, als würden sie warten, dass MA538970S endlich wieder in ihren Arbeitsalltag zurückkehrte. Die meisten anderen Frauen aus ihrem Zimmer hatten sich bereits zur Dampfstrahldusche begeben. Auch Ma rappelte sich aus ihrem Bett auf. Abgesehen von dem furchtbaren Traum fühlte sie sich erstaunlich frisch. War sie wirklich erst gestern Abend implantiert worden?

»Guten Morgen«, begrüßte sie die Stimme des Systems in ihrem Kopf.

»Ja, das Implantat tut seine Arbeit«, dachte Ma. Glücklicherweise schien es nicht wirklich mit ihren Gedanken zu kommunizieren, sondern lediglich ihre Hirnströme im Wachzustand erkennen zu können.

Ma ging zur Dusche. Der kurze heiße Dampfstrahl, der über ihren ganzen Körper hinwegging, war ihr mittlerweile so vertraut, dass sie die hohe Temperatur völlig normal fand. In Nullkommanichts war sie sauber und brauchte dabei kaum Wasser. Auch in 89573 hatten die verschiedenen Wohngruppen solche Duschen. In ihrem alten Haus gab es sie freilich nicht, deshalb mussten die Natürlichen regelmäßig die Duschen in ihren altersentsprechenden Wohngruppen im Dorf aufsuchen.

Während Ma sich anzog, dachte sie an die vergangene Nacht. Was hatte die Assistentin gesagt? Die Erinnerung an das Gespräch war durch die Wirkung der Tablette etwas verschwommen. Aber Ma wusste noch, dass sie etwas Ähnliches gesagt hatte wie: »Wer aus dem System länger mit den Natürlichen zu tun hat, wird labil«, und dass das Implantat irgendwie positiven Einfluss darauf habe. Hatte die Frau nur einen blöden Spruch gemacht, weil sie wusste, dass Ma zu den Natürlichen gehörte oder war ihr wirklich eine Information herausgerutscht, die sie, Ma, eigentlich nicht wissen sollte? Auf einmal schien es ihr, als könnte das Implantat ganz böse Folgen für ihren Familienzusammenhalt haben.

Zwei Frauen aus ihrem Zimmer schienen jedoch der System-Propaganda zu trauen. Die eine der beiden, Ma schätzte sie auf gerade mal 16 Jahre, war eigentlich noch ein Mädchen und sie schwärmte von den Vorzügen des Implantats:

»Ich wollte das Implantat schon seit ich 14 bin. Aber sie haben mich so lange warten lassen.«

»Vielleicht gab es andere, wie mich, die schon gefährdeter sind und die es als Erstes bekommen sollten?«, erwiderte die ältere Frau. »Ich habe mich als Assistentin beworben und brauche dafür unbedingt das Implantat. Jetzt endlich kann meine Karriere weitergehen. Ich bin so gespannt, ob ich bald die Erwählungsnachricht auf meinem Bildschirm bekomme.«

»Es ist wirklich toll, dass wir jetzt vor all den Gefahren geschützt sind, die in der Natur lauern. Das System kann uns ab sofort immer finden, wenn es eine Katastrophe gibt.«

»Ja das ist gut, aber noch wichtiger ist – und das wirst du auch noch merken, wenn du älter wirst – dass das System jetzt jede Krankheit, die sich in dir vielleicht entwickelt, sofort ausfindig machen kann. Dann kannst du in kürzester Zeit von den Medizinern behandelt werden.«

»Ach!«, seufzte das Mädchen erleichtert. »Ich fühle mich jetzt viel sicherer. Es ist, als hätte ich ein neues Leben bekommen!«

Von allen Seiten erhielt sie zustimmendes Nicken auf diese Aussage und verschiedene Frauen sagten:

»Ja genau! Richtig!«

»Endlich haben wir Sicherheit und Gesundheit.«

»Was will man mehr!«

Nur Ma dachte, sie wäre mitten in einer Werbefilmproduktion des Systems gelandet. Aber sie musste aufpassen, denn sie erhielt schon wieder schräge Blicke von manchen Frauen, weil sie nicht mitgenickt hatte. Sie lächelte freundlich und tat, als wäre sie noch beschäftigt ihre Arbeitskleidung zurechtzurücken.

Die meisten Nummern hatten sich wegen der hervorragend gemachten Werbung längst freiwillig zur Implantierung gemeldet und so wurde nach und nach die gesamte Bevölkerung mit Implantaten versorgt. Erst vor einem Jahr war die verpflichtende Implantierung für Nummern im Alter zwischen 16 und 60 Jahren eingeführt worden, und Ma und ihre Familie hatten sich je länger je mehr gewundert, warum Ma nicht schon längst behandelt worden war. Bis letzte Nacht hatte Ma sich keine Sorgen wegen des Implantats gemacht. Sie war zwar nie besonders erpicht darauf gewesen, eines zu erhalten, hatte aber auch keine wirklichen Bedenken dagegen gehabt, anders als ihre Schwiegermutter. Doch nun war sie völlig verunsichert. War das Implantat wirklich nur zu ihrem Besten? Wie konnte es dazu beitragen, dass sie sich besser ins System eingliedern ließ?

Ma trat mit den anderen in den Aufzug. Irgendwie war ihr die Mischung aus dem Geplapper der anderen Frauen und der Aufzugmusik heute besonders unangenehm in den Ohren, aber sie schob es auf ihren etwas verwirrten Gedankenzustand.

Seit einigen Jahren hatte das System angefangen, bereits die Babys in den Kliniken von Anfang an zu implantieren. Die Jugendlichen schienen derzeit noch die einzige größere unimplantierte Gruppe zu sein. Sie waren als Babys noch nicht implantiert worden und waren noch nicht alt genug für die Pflichtimplantierung. Natürlich ließen sich die meisten von ihnen nun auch freiwillig implantieren, allerdings schien das System nicht hinterherzukommen, nachdem was das Mädchen vorher erzählt hatte. Wenn es also noch Menschen ohne Implantat gab, dann musste man vermutlich unter den Jugendlichen suchen. Ma dachte an Seven. Bald würde auch er schon 16 werden.

»Er würde das Krankenhaus hassen«, dachte seine Mutter. »So wie ich.«

Dann folgte Ma den anderen Nummern erleichtert aus dem Krankenhaus hinaus. Am Ausgang meinte sie, einen leisen Piepton zu hören. Sie vermutete, dass sie gescannt worden war, sodass das System wusste, dass Nummer MA538970S nun das Krankenhaus verlassen hatte. Sie lief zu den Fahrbändern und fuhr zu ihrer Arbeitsstelle.

Ma arbeitete in einer Fabrik, in der Glukose hergestellt wurde. Es war ein großer quadratischer Bau mit vielen Fenstern in den oberen Etagen, wo die Überwacher und Assistenten arbeiteten, und wenigen Lichtschächten im unteren Bereich. Dort standen die Maschinen, die die Stärke in Glukose umwandelten. Diese wurde für die Herstellung des Nährpulvers gebraucht, von dem die ganze Bevölkerung lebte. Als Ma ihr Beruf zugeordnet worden war, hatte man ihr gesagt:

»MA538970S, Sie können stolz sein, in der Produktion eines unserer wichtigsten Nahrungsanteile zu arbeiten. Herzlichen Glückwunsch!«

Im unteren Bereich bei den Maschinen arbeitete Ma mit vielen anderen Arbeitern, die für die unterschiedlichen Maschinen zuständig waren. Eines Tages, sie hatte gerade erst angefangen in dieser Stadt zu arbeiten, war ihr einer der Reinigungskräfte aufgefallen. Mit seinen dunklen Haaren, seiner markanten Nase und den verschmitzten Augen hatte er sich so deutlich von all den anderen abgehoben, dass sie dachte: »Das kann nur ein Natürlicher sein.« Er hatte sie freundlich angelächelt, obwohl sie ihn ziemlich dümmlich angestarrt haben musste. Auf einmal war sie von einem wohligen und prickelnden Gefühl durchströmt worden, das sie sich nicht erklären konnte. Diese Empfindung war nicht zu vergleichen mit dem, was die Spiele des Systems hervorriefen. Es war das Schönste, was sie je gefühlt hatte, und gleichzeitig machte es ihr Angst, weil es so überraschend neu und ungewohnt war. Als Ma also PJ074211J zum ersten Mal sah, wusste sie sofort, dass ihr nun das passiert war, vor dem sie in den Jugendhäusern früher immer gewarnt worden war:

»Früher hat es bei den Menschen gewisse Regungen gegeben, die eine starke Anziehung hervorriefen. In der Folge kam es dann zu natürlichen Geburten, die für die Entwicklung des Systems schädlich sind. Solche Regungen gefährden das Glück des Einzelnen!«

Nun hatte Ma selbst dieses nie gekannte Gefühl schlagartig erlebt und konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne es zu leben. Und das bedeutete, sie wollte nie wieder ohne PJ, wie sie ihn später immer nannte, leben. Sie hatte Gespräche mit verschiedenen Assistenten des Systems über sich ergehen lassen müssen und eine Abstufung in ihrer Karriere hinnehmen müssen, aber sie war damals nicht mit Gewalt gehindert worden, als sie mit aller Bestimmtheit forderte, zu PJ074211J und seiner alten Mutter nach 89573 zu ziehen. Wie das System vorhergesagt hatte, hatte sie einige Zeit später auch natürliche Kinder bekommen. Vor allem bei der ersten Geburt war es unglaublich, dieses kleine Wesen in Händen zu halten. XY770077G wurde ihm als Nummer zugeteilt. So viele 7er! Irgendwie kam PJs Mutter dann auf die Bezeichnung Seven und anstatt seiner Nummer nannte ihn die Familie dann so. PJ war damals ein unglaublich stolzer und sehr liebevoller Vater gewesen und hatte zu ihr gesagt:

»Du bist die perfekte Mama, Ma!« Dabei hatte er über das ganze Gesicht gestrahlt. Sie sah sein glückliches Bild noch heute vor sich.

Die Mediziner im Krankenhaus hatten ihr geraten, den Jungen gleich ins System zu integrieren, doch bereits im Vorfeld hatte ihre Schwiegermutter Ma gewarnt, dass sie das ja nicht zulassen dürfe. Das war aber gar nicht nötig gewesen, denn in dem Moment, als Ma das kleine Bündel in ihren Händen hielt, wusste sie, sie würde nie etwas zulassen, was sie von diesem kleinen Menschen trennen konnte.

Doch all dies war nun lange her. Sie hatte noch zwei weitere Kinder bekommen und viele Demütigungen erleiden müssen. Seven war nun fast erwachsen und PJ längst fort. Vielleicht hatte das System doch Recht, dass man bei den Natürlichen nicht glücklich werden konnte.

Als Ma heute ihren Arbeitsplatz betrat, war etwas anders. Die Maschinen schienen viel lauter zu sein als sonst. Ma sprach die Frau an, die sie nun ablösen sollte:

»Sagen Sie, stimmt heute was mit unserer Maschine nicht? Sie röhrt so merkwürdig.«

»Nein, alles normal«, erwiderte diese knapp und verabschiedete sich.

Ma starrte auf die Maschinen in der großen Halle und überprüfte jede einzelne an ihrem Bildschirm. Sie arbeiteten alle wie gewohnt. In dem großen Kessel wurde die Stärke mit einer Säure aufgekocht. Die Rezepturen kannte Ma nicht. Dafür waren andere Nummern zuständig. Sie hatte in ihrer Ausbildung nur gelernt, dass die Glukose auskristallisiert und dann noch einen Reinigungsprozess durchlaufen muss. Einen Schritt in dieser Raffination der Glukose zu beaufsichtigen war Mas Aufgabe. Sie steuerte die Zentrifuge. Es war keine besonders aufregende Arbeit, aber wirklich interessant war keine der Aufgaben, die das System den normalen Arbeitern gab. Nur die Mediziner hatten vielleicht herausforderndere Tätigkeiten, wobei Ma das nach ihren Erfahrungen nun auch bezweifelte, denn auch sie waren ja streng spezialisiert auf ihre bestimmte Aufgabe. Überhaupt gab es im ganzen System nur Spezialisten: Assistenten, die Botengänge für die Überwacher durchführten oder auf den Straßen Streife liefen, um bei Unregelmäßigkeiten immer und überall sofort eingreifen zu können. Die Überwacher, die in Schichten vor den Bildschirmen der Überwachungskameras saßen und wer weiß was noch alles taten, und natürlich die vielen Arbeiter, die alle auf einen Teilbereich einer bestimmten Arbeit spezialisiert waren. Die Jugendlichen wurden hin und her transportiert und mussten die verschiedenen Monokultur-Felder des Systems abernten. Dadurch sollten sie die großartige planerische Arbeit des Systems erkennen können. Später bekamen sie eine spezielle Aufgabe als Arbeiter zugeteilt und wurden dann immer für bestimmte, vergleichbare Produktionsabläufe eingesetzt. Vor allem die Arbeiter wechselten regelmäßig ihren Arbeitsort und konnten so die Vielfältigkeit des System kennenlernen. So entstand ein scheinbarer Abwechslungsreichtum, der bewirkte, dass niemand je irgendwo heimisch wurde. Wäre Ma nicht bei PJ, den Kindern und Clara geblieben, würde sie alle paar Monate eine Zentrifuge in einer anderen Stadt bedienen. Allerdings hätte sie dann Karriere machen können und wäre finanziell deutlich besser gestellt.

Mas Zentrifuge lief ganz normal wie jeden Tag, doch nach einigen Stunden musste sie eine Kopfschmerztablette nehmen. Das Implantat hatte bereits zum dritten Mal gemeldet:

»Ihre Kopfschmerzen können Sie mit einer Schmerzta­blette beseitigen.«

LaPax

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