Читать книгу LaPax - Linda Kieser - Страница 7

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Der Assistent

»Mama, ich habe dich so vermisst!« Mini kuschelte sich an seine Mutter an. Ma spürte, dass er sich große Sorgen gemacht hatte und genoss es selbst auch sehr, ihn im Arm zu halten.

»Ich dich auch, mein Kleiner«, antwortete sie und ihr grauenvoller Traum fiel ihr wieder ein. Sie drückte Mini fest an sich. Heute hatte sie ihre Arbeit pünktlich beenden dürfen und war noch vor Seven und Ray zu Hause. Mini war auch schon vom Kinderhaus zurück, wo er täglich mindestens sechs Stunden verbringen musste und er hatte sie sofort in Beschlag genommen. Jede Kleinigkeit seines bisherigen Tages breitete er vor ihr aus und genoss sichtlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Da fiel ihm noch etwas Neues ein.

»Mama!«

»Ja, Mini.«

»In drei Wochen ist Kostümfest. Alle im Kinderhaus suchen sich schon ihre Kostüme aus.«

»Mhm.« Ma wusste, was jetzt kommen würde. Alle Kinder wollten zum jährlichen Kostümfest nicht einfach eine Verkleidung oder eine Maske. Nein, sie wollten eine richtige Verwandlung. Die Mediziner kamen am Tag des Festes in die Dörfer und hatten alle Hände voll zu tun.

»Wir reden nachher weiter, Mini. Schau, da kommen Ray und Seven.«

Man konnte sehen, dass die beiden sich schon wieder gestritten hatten. Rays finstere Miene hellte sich aber sofort auf, als sie ihre Mutter sah.

»Mama, du bist schon wieder da. Das ging ja schnell! Ich bin ja so froh! Wie war es denn? Wo haben sie dich abgeholt? Wie ist es mit Implantat? Hat es wehgetan?«, sprudelte es aus ihr heraus.

»Nur die Ruhe. Ich erzähle euch alles später«, beruhigte sie ihre Tochter und umarmte sie.

Seven stand etwas steif an der Türe. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Glückwunsch war wohl kaum angebracht und er fühlte sich zu alt für stürmische Umarmungen.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte er einfach.

Doch damit ließ ihn seine Mutter nicht durchkommen. Sie ging auf ihren Ältesten zu und drückte ihm einen kräftigen Schmatz auf die Wange. Großmutter lächelte.

»Wäh!«, sagte Seven und wischte sich den Kuss ab. »Jetzt ist aber gut, Mama! So lange warst du jetzt auch nicht weg«, meinte er cool.

Er hatte sich zwar auch sehr um die Mutter gesorgt, aber nach dem Streit mit Ray eben war ihm nicht nach Zärtlichkeiten zumute.

»Ray will sich zum Kostümfest operieren lassen«, informierte er die Familie. »Ich hab ihr gesagt, da kann sie ja gleich ins Jugendhaus umziehen, wenn sie so drauf ist.«

»Jetzt mal langsam, Seven!«, mischte sich die Großmutter ein.

»Ich will aber beim Fest endlich auch mal richtig anders aussehen!«, bettelte Mini.

Ray schaute verdutzt auf ihren kleinen Bruder. Von ihm hatte sie nicht gerade Schützenhilfe erwartet. Aber sie nutzte ihre Chance.

»Eben, sogar im Kinderhaus wird mittlerweile für das Fest operiert. Komm schon, Mama, sei doch nicht immer so altmodisch natürlich. Wetten du hast dir als Jugendliche auch mal ein Face-Costume machen lassen?« Herausfordernd sah sie ihre Mutter an.

»Na ja«, meinte diese. »Vor dreißig Jahren haben sie nur kleinere Sachen gemacht. Ich hab mir mal spitze Augenbrauen und eine schiefe Nase machen lassen, als ich als Hexe gegangen bin.«

»Ha! Siehst du! Wusste ich’s doch!« Triumphierend sah Ray zu ihrem großen Bruder.

»Aber hinterher habe ich meine Nase nicht mehr ganz original zurückgekriegt«, wandte Ma ein und fasste sich an die Nase.

»Ach was, heute sind die Mediziner viel weiter als früher. Die ganzen Nummern, die mit mir arbeiten, haben letztes Jahr schon zwei Tage nach dem Fest wieder ausgesehen wie vorher. Und deine Nase ist doch ganz in Ordnung.«

Nun mischte sich Seven wieder ein. »Mama, du wirst das doch nicht etwa erlauben. Das ist so … so … so kindisch! Und wer weiß, wie das System bei der OP wieder eingreift.«

»Nein, ich werde es nicht erlauben.«

»Aber Mama!«, riefen Ray und Mini im Chor. Ray stampfte wütend auf und fauchte Seven an:

»Jetzt hast du ja wieder deinen Willen! Du bist echt so gemein.« Und zu ihrer Mutter gewandt fing sie noch einmal an zu drängen: »Mama, bitte! Alle machen das. Wir sollen doch sonst auch immer nicht auffallen, alles mitmachen und so tun, als wären wir die systemtreuesten Natürlichen der Welt.« Und nach einer wohlüberlegten Pause fügte sie mit Augenaufschlag hinzu: »Bitte!«

»Nein, Ray. Ich werde euch auch erklären warum. Ich möchte euch von meiner letzten Nacht erzählen. Macht oben mal eure Bildschirme an und dann setzt euch zu mir. Wir können uns ja mein übrig gebliebenes Wasser von gestern Abend teilen.«

»Oh ja!«, riefen die Kinder im Chor, denn in diesem Punkt waren dann doch alle einer Meinung.

So saßen kurze Zeit später alle um den Küchentisch versammelt, genossen die kleinen Schlückchen erfrischenden Wassers und lauschten Mas Bericht. Je länger sie erzählte, desto erstaunter sahen ihre Gesichter aus. Nur Großmutters Stirn legte sich in besorgte Falten.

»Bist du sicher, dass es nicht deine Gedanken lesen kann, Ma?«, fragte sie zum Schluss. Sie war während der ganzen Erzählung sehr still geblieben.

»Ja, das bin ich. Wie sollte das auch gehen?«

»Aber es hat tatsächlich festgestellt, dass du nicht schlafen konntest?« Seven wusste noch nicht, was er davon halten sollte.

»Ja, schon.«

»Ist ja schon irgendwie cool«, meinte Ray. »Aber was hat das alles jetzt mit den Operationen zum Kostümfest zu tun? Warum willst du es deswegen nicht erlauben?«

Ma blickte auf ihre Hände und sah dann zum Fenster hinaus. »Ich weiß auch nicht. Es ist nur so ein Gefühl, dass das System dann immer mehr Einfluss gewinnt.« Und Ma erzählte, was die Krankenschwester ihr über das Implantat gesagt hatte.

Am nächsten Morgen gingen alle wie gewohnt aus dem Haus. Großmutter blieb wie immer zu Hause. Sie hatte einen Verdacht, was das Implantat anging, und musste etwas unternehmen, auch wenn dieser Verdacht noch nicht bestätigt war. Seit ihrem 70. Geburtstag musste sie nicht mehr arbeiten und gerade da war Seven geboren. Es war echtes Glück gewesen, dass für ihre Familie alles so gut gelaufen war, sodass sie sich um die Kinder kümmern konnte. Andere Nummern gingen im Alter auf Reisen um die Errungenschaften des Systems in anderen Bezirken, in denen sie noch nie gearbeitet hatten, zu bewundern. Oder sie verbrachten ihre Zeit in den Altenhäusern mit Fitnessprogrammen und all den verschiedenen Bildschirmspielen. Manchmal bekamen sie völlig sinnfreie Ehrenarbeiten vom System zugeteilt, damit sie beschäftigt blieben und nicht anfingen zu grübeln. Und irgendwann wurden sie zum Sterben in eines der Krankenhäuser gebracht. Wie die Geburt sollte auch der Tod unter möglichst sterilen Bedingungen und nur im Beisein erfahrener Mediziner stattfinden. Auch für die Überwachung des Sterbens war die Implantattechnik angepriesen worden.

Clara fand all das schrecklich. Aber nun endlich hatte sie eine Idee. Seven, Ray und Mini hatten eine echte Chance. Das Kostümfest war die Gelegenheit. Dass sie nicht schon früher darauf gekommen war!

Nachdem sie also ihre vier Mitbewohner verabschiedet hatte, machte sie sich an die Arbeit. Sie nähte den ganzen Tag mit feinen Stichen, die ihre Augen anstrengten. Wie gut, dass sie Ray diese alte Kunst auch schon gezeigt hatte.

»Ja, es könnte klappen«, dachte sie aufgeregt, als sie ihre noch unfertigen Projekte für heute wieder im Keller unter den losen Dielen versteckte. Sie fragte sich, wie bald sie erfahren würde, ob sich ihr Verdacht bezüglich des Implantats bestätigen würde.

Als am Abend alle wieder beisammen waren, außer Ray, die offenbar schon wieder nacharbeiten musste, klopfte es plötzlich an der Tür. Alle schauten sich fragend an. Ma stand auf und öffnete.

»Guten Tag, MA538970S. Ich bin beauftragt, hier einmal nach dem Rechten zu sehen«, grunzte der Mann genervt und trat ungebeten herein. Es war derselbe bleiche Assistent, der Ma zwei Tage zuvor zur Implantierung abgeholt hatte. Tr0ja31. Heute trug er einen hellgrauen Anzug und hatte alle Freundlichkeit verloren.

»Uns ist aufgefallen, dass ihre Bildschirmzeiten täglich nur knapp eingehalten werden und wir haben in Erfahrung bringen können, dass Sie darüber hinaus bei eingeschalteten Bildschirmen anderen Tätigkeiten nachgehen.«

»Nun …,« Ma suchte nach den richtigen Worten, doch Seven war schneller.

»Wir hatten in letzter Zeit einige Probleme mit der Stromversorgung und unsere alten Bildschirmakkus machen da nicht immer so gut mit. Tragbare Bildschirme bekommen wir ja nur für die Arbeitszeit und MI771771N sieht ja täglich 4 Stunden im Kinderhaus.«

Tr0ja31 deutete auf das elektrische Licht über dem Küchentisch. »Im Moment scheint die Stromversorgung ja zu funktionieren.«

»Ja«, antwortete Ma mit fester Stimme, die sie viel Kraft kostete. »Wir wollten eben nach oben gehen und die Nachrichten sehen.«

»Dann will ich Sie nicht aufhalten. Bitte, gehen Sie nur zu. Ich sehe mich in der Zwischenzeit etwas im Haus um.«

Der Familie blieb nichts anderes übrig, als sich in den Zimmern zu verteilen und Nachrichten zu sehen, während der fremde Mann ihr Haus durchsuchte. Seven kochte innerlich. Was fiel dem System ein, so mit Leuten umzuspringen? Er bekam kein Wort von dem Programm mit, vor dem er saß. In ihm war nichts als Wut, doch die weißen Knöchel seiner geballten Fäuste waren alles, was ein geübter Beobachter davon hätte erkennen können.

Zuerst durchsuchte der Mann jeden Winkel des Erdgeschosses. Es gab für die insgesamt fünf Bewohner angemessene Vorräte an Nährpulver. Ihm fiel aber auf, dass es keine Zusatzprodukte wie Magnesiumcracker oder Vitaminbonbons in den Schränken gab.

»Kein Wunder, dass die Natürlichen alle so unterernährt aussehen und so schwächlich arbeiten. Sie sparen an der falschen Stelle und kaufen sich nicht die empfohlenen Ergänzungsmittel«, dachte der Mann. Auf die Idee, dass das Geld für solche zusätzlichen Dinge gar nicht ausreichte, kam er gar nicht.

Als Nächstes ging er in den Keller. Dort funktionierte das elektrische Licht tatsächlich nicht. »Vielleicht hat der Junge doch die Wahrheit gesagt«, überlegte er gerade, als er im selben Moment mit dem Gesicht in einer Spinnwebe landete. Beinahe hätte er laut aufgeschrien. Wie widerlich war das! Wie konnte man nur so leben, in einem Haus mit Spinnen. Von täglicher Raumdesinfektion hatten die Natürlichen offenbar auch noch nie gehört. Nein, hier unten konnte er nicht bleiben. Dieser Auftrag bei den Natürlichen war die reinste Strafarbeit. Er schüttelte sich und hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Wenn er eine Spinne ins Assistentenquartier mitbrachte, war er seinen Job los. Das konnte er nicht riskieren, wo er es doch endlich zum Assistenten gebracht hatte. Die Gehaltserhöhung hatte ihm ermöglicht, die neue Hologrammfunktion an seinem Schlafzimmerbildschirm anzubringen. Darauf wollte er auf keinen Fall mehr verzichten. Die Spiele waren um Welten besser, vor allem das neue Spiel der HauchZart-Serie. Er konnte es seitdem jeden Tag kaum erwarten, endlich wieder in die Spielwelt abzutauchen. Aber wenn er hier etwas fand, was für die Überwacher interessant war, würde er größere Chancen haben, weiter aufzusteigen. Vielleicht konnte er dann einen weiteren Raum seiner Wohnung mit Hologramm-Schirmen ausstatten.

»Das wäre herrlich!«, schwärmte er innerlich, ging schnell wieder nach oben und zupfte sich vor dem Spiegel im Flur mit spitzen Fingern angewidert die Spinnweben aus dem Haar.

»Draußen muss ich auch noch nachsehen«, sagte er halblaut zu sich selbst und lief einmal um das Haus. Außer einer kleinen Sandgrube war dort nichts Auffälliges. Vielleicht konnten sie den Sand in URBS14 brauchen. Er wusste, dass in dieser Stadt immer Sand angeliefert wurde, da er dort vor längerer Zeit einmal in einem Lager gearbeitet hatte. Wozu er gebraucht wurde, wusste er allerdings nicht. Er tippte dennoch auf einige Symbole auf seinem portablen Bildschirm am Handgelenk, der beim Tippen immer etwas verrutschte.

»Wann können die Medis endlich die Bildschirme bei Assistenten serienmäßig einpflanzen?«, regte er sich auf. Aber die Medis waren ja immer noch mit den vielen Implantaten beschäftigt. Bald müsste die Bevölkerung doch endlich vollständig damit ausgestattet sein. Der Mann ging wieder durch die Eingangstür hinein. Im Haus hörte man nichts außer den Bildschirmen von oben. Das System brachte wieder die Nachricht von der Gesetzesänderung bezüglich der Häuser der Natürlichen.

»Sehr gut«, dachte Tr0ja31. »Sie können gar nicht oft genug hören, wie gefährlich sie leben. Und dann auch noch Spinnen! Dieses Gesetz ist wirklich mehr als überfällig.«

Zuletzt ging der Mann noch durch die Zimmer im Erdgeschoss und überprüfte die Anschlüsse, während die Zimmerbewohner offenbar versuchten, ihn zu ignorieren. Er spürte, dass sie Angst vor ihm hatten, und das gefiel ihm. Es berauschte ihn fast so sehr wie seine neue Hologrammfunktion und er fragte sich, ob er die dazu nötigen Hormone oder Enzyme oder was immer es war nicht auch auf sein Implantat speichern lassen konnte. Bei seiner nächsten Untersuchung musste er dran denken, den Medi zu fragen, was das kosten würde.

Nach etwa einer Stunde, in der er nicht wirklich etwas finden konnte, was ihn weitergebracht hätte, rief er die Bewohner zusammen. Er hatte noch einen zweiten Auftrag neben der Durchsuchung.

»Alles in Ordnung«, sagte er, als sich alle im Flur versammelt hatten. »Dann werde ich mich wohl wieder auf den Weg machen. Da wäre nur noch eine Sache.«

»Oh, natürlich, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kommt, wird meine Tochter …«, begann Ma. Der Mann verzog das Gesicht bei dem Wort »Tochter«. »Ich meine, RA834500Y wird selbstverständlich auch noch ihre Bildschirmzeit erfüllen. Ich werde darauf achten«, sagte Ma.

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Tr0ja31 kühl. »Ich meinte etwas anderes.«

»Ja?«, schluckte Ma verunsichert.

»Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass das Kostümfest verpflichtend besucht werden muss und dass allen Kindern und Jugendlichen, die dies wünschen, eine angemessene Kostümierung unter Zuhilfenahme der Fähigkeiten unserer Top-Mediziner ermöglicht werden muss. Auf Wiedersehen.«

Seven und Ma blieb der Mund offen stehen, während der Assistent das Haus verließ. Mini versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen und seine Freude über das Gehörte zu verbergen und Großmutter dachte leise:

»Das geht ja in der Überwachungszentrale schneller als gedacht.« Laut sagte sie: »Na, dann werden wir uns mal die Kostümbeschreibungen auf unseren Bildschirmen etwas genauer anschauen!«

LaPax

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