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Fünf Monate zuvor Gerolstein/Eifel

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Tim war verrückt nach Lena, und sie war verrückt nach ihm. Die beiden hatten sich auf dem Schulhof des St. Matthias-Gymnasiums kennengelernt, das sie beide besuchten und wo er in der Abschlussklasse war, sie eine darunter.

Vor zwei Monaten hatten sie sich dann zum ersten Mal verabredet, in einem kleinen Café im Zentrum ihres Heimatortes. Tim hatte bei dem Treffen nur belanglosen Small Talk zustande gebracht, aber als er Lena später die Autotür seines Wagens öffnete, um sie nach Hause zu fahren, hatte sie ihn auf die Wange geküsst.

Am nächsten Tag hatten sie sich erneut getroffen. Wieder in dem gleichen Café, wieder endete es mit einem Kuss. Dieses Mal jedoch hatten ihre Lippen sich berührt, die Zungen sich umschlungen, und von dem Moment an waren sie ein Paar gewesen. Sie hatten anfangs niemandem davon erzählt, ihren Freunden nicht, ihren Eltern nicht. Eine Woche lang klappte das, dann waren ihre Gefühle für jeden, der nicht blind war, offensichtlich. Die Blicke. Die Funken, die zwischen ihnen sprühten. Die errötenden Wangen, wenn einer auf den anderen angesprochen wurde. Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem sie sich nicht getroffen hatten, und auch an diesem frühen Freitagabend, dem 20. Dezember, konnten sie es kaum erwarten, sich zu sehen.

Wie immer fuhr Tim pünktlich auf die Minute vor Lenas Elternhaus vor. Ihre Eltern mochten den blonden und groß gewachsenen Jungen, der vor einem halben Jahr volljährig geworden war. Er war höflich, hatte keine wilden Tätowierungen, sah immer wie aus dem Ei gepellt aus und es war offensichtlich, dass er ihre Tochter vergötterte.

Lenas Vater begrüßte ihn an der Haustür. Tim trug an diesem Abend eine dunkle Jeans, einen gestreiften Pullover und eine schwarze Jack-Wolfskin-Jacke, deren Kapuze mit einem künstlichen Fellbesatz versehen war. Sein frisch gewaschener Opel Corsa glänzte auf dem Bordstein hinter ihm.

Dieses Auto beruhigte Lenas Vater ungemein: Seiner Meinung nach verhinderte es, dass Tim zu viel Alkohol trank, und gleichzeitig war der Wagen auch eine Garantie dafür, dass seine Tochter trotz der Kälte warm und sicher nach Hause kommen würde.

Dann stürmte Lena an ihrem Vater vorbei, schlang die Arme um Tim und küsste ihn – ein Anblick, der ihrem Vater immer noch Magengrummeln bereitete. Die Wangen der 17-Jährigen glühten dabei vor Freude und ihre braunen Augen blitzten. Sie trug ebenfalls eine Jeans, dazu einen weißen, eng anliegenden Rollkragenpullover und eine dicke Daunenjacke. Es war in den letzten Tagen empfindlich kühl geworden, die Temperaturen fielen nachts jetzt häufig deutlich unter den Gefrierpunkt.

Um halb sieben machte sich das junge Paar auf den Weg, um in einer Pizzeria noch einen Happen zu essen. Beide tranken dazu ein Glas Bier, Lena anschließend noch einen Ramazotti. Gegen 20 Uhr erreichten sie dann ihr Stammlokal, wo sie sich mit einem anderen Pärchen verabredet hatten.

Es wurde ein großartiger Abend.

Lena trank vielleicht ein bisschen viel, war aber nicht betrunken. Die beiden Pärchen spielten zuerst eine Runde Billard und tanzten dann ausgelassen zu den neuesten Hits aus den Charts. Als Lena irgendwann auf die Toilette musste, begleitete Tim sie, weil auch er mal musste, und anschließend trafen sie sich auf der Treppe wieder, die hoch ins Lokal führte. Sie knutschten wild miteinander und konnten ihre Begierde kaum noch unter Kontrolle halten.

„Wollen wir irgendwo hinfahren, wo wir ungestört sind?“, fragte er. „Zu unserem Lieblingsplatz vielleicht?“

Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden von ihren Freunden und liefen Händchen haltend nach draußen. Die anderen Jugendlichen konnten sich später daran erinnern, dass es kurz vor 23 Uhr gewesen war.

Es war eine eisigkalte Nacht, und als Tim und Lena zum Parkplatz gingen, waren die Straßen bereits mit einer dünnen Frostschicht überzogen. Vorsichtig steuerte Tim den Opel Corsa über die Landstraße, die in Richtung Dockweiler führte. Er fuhr konzentriert und vorausschauend – nie hätte er Lenas Gesundheit durch ein unnötiges Risiko gefährdet.

Zu dieser Stunde waren kaum noch Autos unterwegs und schon gar nicht hier, in der Vulkaneifel. Lediglich zwei andere Fahrzeuge kamen ihnen entgegen und ein weiteres folgte ihnen mit einigem Abstand, nur an den ab und zu im Rückspiegel auftauchenden Scheinwerfern zu erkennen. Dann, ein paar Kilometer hinter dem Ortsausgangsschild von Gerolstein, bog Tim auf die Kreisstraße 33 ab, die direkt zu dem Parkplatz des Adler- und Wolfsparks Kasselburg führte. Er lag in der nachtschwarzen Finsternis unter Bäumen, die nur wenige Strahlen des frostigen Mondlichts durchließen. Die ganze Gegend wirkte um diese Uhrzeit wie ausgestorben und auch die Scheinwerfer im Rückspiegel waren jetzt verschwunden. Das andere Fahrzeug war wohl auf der Landstraße weitergefahren.

Tim stoppte den Corsa in der hintersten Ecke des Parkplatzes und schaltete anschließend das Licht aus. Den Motor ließ er laufen, damit die Heizung weiterhin arbeitete. Dann lösten die beiden ihre Sicherheitsgurte und wendeten ihre Köpfe einander zu, während im Radio die Gruppe Silbermond davon sang, dass „Irgendwas bleibt.“

Draußen erhob sich eine Wand aus dicht stehenden Bäumen - ein undurchdringliches Dickicht, das die dahinterliegende Burg fast verbarg. Nur ihr Doppelturm ragte über die Baumwipfel hinaus und zeichnete sich scharf vor dem sternenklaren Firmament ab. Unter anderen Umständen hätte diese Dunkelheit den beiden vielleicht Angst gemacht, aber nicht heute und nicht jetzt, da sie vor Verlangen regelrecht benommen waren.

Tims Hand wanderte suchend zwischen Lenas Oberschenkel. Er spürte ihre Lippen an seinem Hals und ihren heißen Atem, als er mit zittrigen Fingern versuchte, ihre Hose zu öffnen.

„Warte … ich helfe dir“, sagte sie, als sie seine Bemühungen bemerkte.

Keiner der beiden bemerkte das Auto, das nur wenige Meter neben ihnen mit ausgeschalteten Scheinwerfern zum Stehen kam. Der Fahrer schaltete die Innenraumbeleuchtung aus, damit kein Licht anging, wenn er die Tür öffnete, und stieg aus. Langsam aber zielstrebig ging er zur Beifahrerseite von Tims Corsa und schaute in das Innere des Kleinwagens - sah das miteinander beschäftigte Pärchen. Dann bewegte er sich weiter, bis er genau hinter dem Fahrzeug stand.

In diesem Moment richtete Lena sich auf, um Tim zu helfen, sich ebenfalls zu entkleiden. Dabei schaute sie kurz durch die Heckscheibe und sah draußen die Umrisse eines menschlichen Körpers und das Aufblitzen eines metallischen Gegenstandes. Sie rief: „Da ist jemand!“

Tim reagierte verblüffend schnell. Er riss den Kopf hoch und schaute in Lenas Blickrichtung, konnte aber nichts mehr erkennen. „Warte hier“, sagte er dennoch, zog die Hose wieder hoch und stieg aus. Angst hatte er keine. Wahrscheinlich hatte Lenas Unterbewusstsein ihr an diesem gruseligen Ort nur einen Streich gespielt.

In der Kälte der Nacht umgab ihn sein Atem dann wie wabernde Nebelschwaden. Alles, was er hörte, war das Heulen der Wölfe aus dem nahegelegenen Tierpark, das sanfte Rauschen der Bäume im Wind. Ohne die schützende Hülle des Autos fühlte er sich plötzlich verwundbar und verlassen. Was, wenn Lena doch Recht hatte? In dieser Dunkelheit konnte wer weiß wer stehen, ohne …

Die Kugel traf Tim in den Hinterkopf und durchschlug seine Schädeldecke, riss ihn regelrecht von den Beinen. Er sah nichts mehr, er dachte nichts mehr, er fiel einfach und schlug Sekundenbruchteile später auf dem hart gefrorenen Boden auf. Starb, während die Wölfe ihr Lied dazu sangen.

Lena hörte den Schuss und drehte durch. Sie schrie und schrie, während sie gleichzeitig verzweifelt versuchte, die Beifahrertür zu öffnen und aus dem Corsa zu fliehen. Panisch schlug sie mit den Fäusten gegen die Fensterscheibe, suchte nach einem Ausweg aus einer Situation, die hoffnungslos erschien. Sie strampelte und flehte lautstark einen Gott an, der sie augenscheinlich bereits verlassen hatte.

Doch dann geschah ein Wunder.

Irgendwie bekam sie den Türgriff zu fassen. Sie riss daran, stieß die Tür auf und rannte los.

Der Schütze hatte den Wagen bereits umrundet und war mittlerweile am Heck angekommen, als er Lenas hellen Körper sah. Sie rannte sofort los, ihre nackten Füße trommelten über den gefrorenen Boden. Instinktiv flüchtete sie in Richtung der Straße und passierte ihn dabei in einem Abstand von weniger als einem Meter. Sie schrie nach Hilfe, wo es keine Hilfe mehr gab. Lautstark und vergeblich.

Der Fremde drehte sich in ihre Fluchtrichtung, hob die Waffe und zielte.

Lena hatte schon ein paar Meter zwischen sich und den Corsa gebracht, als der erste Schuss sie in den Rücken traf und stolpern ließ.

Es fühlte sich wie ein Tritt an.

Der zweite Schuss ließ sie stürzen, der dritte erwischte sie im Fallen. Dann hörte sie die Schritte des Unbekannten auf dem Kies, hörte, wie er näherkam. Sie versuchte etwas zu sagen, aber alles, was ihren Mund verließ, waren ein paar blutige Bläschen.

Nur noch halb bei Bewusstsein sah sie, wie er vor ihr stehen blieb. Sah die Maske über seinem Gesicht, hörte sein stoßweises Atmen, sah ihn die Waffe heben. Vielleicht sah sie sogar noch die beiden Mündungsblitze, die ihr entgegenschlugen.

Dann nichts mehr.

Anschließend ging der Unbekannte langsam zu seinem Fahrzeug zurück. Er verstaute die Waffe im Handschuhfach, schloss es bedächtig, legte dann den Sicherheitsgurt an, nahm die Maske vom Gesicht und startete den Motor. Anschließend fuhr er im Schritttempo bis zur Landstraße, auf der er in Richtung Gerolstein abbog.

Erst jetzt schaltete der Killer auch die Scheinwerfer an. Im Licht der Armaturenbrettbeleuchtung schimmerte sein Gesicht bläulich.

Alles folgte einer vorgegebenen Ordnung, dachte er. Ab jetzt würde alles anders sein. Dies war der erste Streich, weitere würden folgen, und sie würden noch großartiger, noch befriedigender werden.

Endlich war er wie er.

Er war der Zodiac.

Die Akte Zodiac - Gesamtausgabe

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