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Gegenwart

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Wenn es ein Symbol für die ins Stocken geratenen Ermittlungen gab, dann war es die fast zwei Meter breite Tafel, die an der Längswand von Evas Büro hing. Sie war fast leer, nur wenige Zettel mit Stichpunkten klebten an ihr. Auf ihnen waren Ansätze vermerkt, denen sie nochmals nachgehen wollten.

Der Tag hatte für Eva schon schlecht begonnen. Thomas Werner hatte sie frühmorgens in sein Büro gerufen und ihr klargemacht, wie er die Dinge sah. „Sie wissen hoffentlich, dass ich kein Chef bin, der Ihnen ständig vorschreiben will, wie Sie vorgehen sollen“, hatte er gesagt. „Aber wir sind Teil eines Apparates und müssen in den Grenzen und mit den Möglichkeiten dieses Systems operieren. Tun wir das nicht, fällt das bei einem Misserfolg auf uns zurück.“

Er räusperte sich. „Eine dieser Möglichkeiten ist ein Fallanalytiker und Marco Brock gehört ohne Zweifel zu den besten. Sperren Sie sich also nicht, auch wenn er Ihnen unsympathisch ist, was ich übrigens gut nachvollziehen kann. Gehen Sie bis an Ihre Grenze, Eva. Schauen Sie über den Tellerrand und schnappen Sie diesen Irren!“

Werners Botschaft war deutlich gewesen: Wenn sie die Zusammenarbeit mit Brock verweigerte und den Fall dann nicht in einem angemessenen Zeitrahmen gelöst bekam, bedeutete das Ärger. Großen Ärger. Mit ihrem Chef und mit ganz oben – und sie konnte weder das eine noch das andere gebrauchen.

Jetzt stand sie mit einem Kaffee in der Hand vor der Tafel und betrachtete die Zettel. Auf einem davon waren die bisherigen Ermittlungsergebnisse zur Tatwaffe aufgeführt. Laut den ballistischen Untersuchungen der Projektile war die 9-Millimeter-Pistole bislang bei keinem anderen Verbrechen verwendet wurden. Die Vergleiche der am Tatort gefundenen Hülsen ließen auf eine belgische Browning High Power schließen, eine der meist verbreiteten Handfeuerwaffen weltweit. Seit 1935 produziert, kam sie bis in die siebziger Jahre hinein sogar als Dienstpistole bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz. Der Schwarzmarkt musste voll davon sein, dachte Eva; ein nicht zurückverfolgbares Exemplar war unter der Hand sicherlich für weniger als 800 Euro zu haben.

„Was schauen Sie sich da an?“

Eva musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer sie angesprochen hatte. Der überhebliche Klang der Stimme genügte.

„Dinge, die wahrscheinlich zu nichts führen“, antwortete sie, sich an die Worte ihres Chefs erinnernd. „Anhaltspunkte, die wir schon doppelt und dreifach durchgegangen sind.“

Brock trat neben sie und studierte die Zettel. Deutete dann auf einen, der ganz am Rand klebte und auf dem nur ein einziges Wort geschrieben stand. „Was ist Gerolstein?“

„Ein Ort in der Eifel.“

„Das ist mir schon klar, aber warum hängt er da?“

„Vor fünf Monaten wurde nahe Gerolstein ein junges Pärchen auf dem Parkplatz eines Tierparks erschossen. Tim Kramer und Lena Pelzer. 18 und 17 Jahre alt. Anfangs hatten wir die Vermutung, der Fall könnte etwas mit unserem Doppelmord in Hürth zu tun haben, aber dem ist nicht so.“

„Warum nicht?“

„Es gibt ein paar Übereinstimmungen, die aber nach jetzigem Erkenntnisstand nur zufällig sind.“

„Wurden die beiden auch in einem Fahrzeug getötet?“

Eva nickte.

„Ein junges Paar wurde im Auto auf einem Parkplatz erschossen? Für mich klingt das schon interessant“, sagte Brock nachdenklich und schaute ihr in die Augen. „Was spricht denn aus Ihrer Sicht gegen einen gemeinsamen Täter?“

Für seine Verhältnisse, dachte Eva, war das eine ausgesprochen höflich formulierte Frage. Vielleicht würde es doch nicht so unmöglich sein, mit ihm zusammenzuarbeiten, wie sie gedacht hatte.

„Zum einen die Opfer“, begann sie, sein unausgesprochenes Friedensangebot annehmend. „Das Pärchen in Gerolstein war deutlich jünger. Zwischen den beiden Männern lagen fünf Jahre Differenz, zwischen den Frauen sogar zwölf. Dazu gibt es keine weiteren Schnittstellen zwischen den Paaren: Ob Arbeit, Hobbys, Urlaub oder sonst was … nach unseren Erkenntnissen sind die Vier sich nie begegnet.“

„Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten“, zeigte der Fallanalytiker sich wenig überzeugt.

„Schon klar, aber das ist ja nicht alles. Auch die Tatwaffen waren unterschiedlich: Das Pärchen in Hürth wurde mit einer 9-Millimeter-Pistole erschossen, die beiden jungen Leute in Gerolstein mit einem Kaliber 22. Sie können mir schon glauben, Herr Brock, wir haben beide Fälle gründlich untersucht, da gibt es keine Verbindungen. Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein haben mag.“

„Das sehe ich anders!“

Eva verdrehte die Augen. Hatte sie gerade wirklich noch gedacht, dass ein kollegialer Umgang mit ihm möglich sei?

Bevor sie etwas sagen konnte, schob Brock schon die nächste Frage hinterher: „Wissen Sie noch, wie viele Schüsse auf die Opfer in Gerolstein abgegeben wurden?“

Eva dachte kurz nach. „Fünf auf die Frau, einer auf den Mann.“

„Da haben Sie´s“, triumphierte er. „Die Ausführung ist das verbindende Glied zwischen den Taten! Ich habe Ihnen ja gestern schon gesagt, dass mir insbesondere die Übertötung und die Fokussierung des Täters auf das weibliche Opfer aufgefallen sind. In Gerolstein ist es sogar noch deutlicher: Auf den Mann wurde nur ein einziger Schuss abgegeben – bumm, Sie erinnern sich? Das Mädchen dagegen wurde mit fünf Schüssen hingerichtet. In beiden Fällen stellte die Frau das eigentliche Ziel dar und in beiden Fällen spielte Hass eine große Rolle. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sich dieser Hass speziell auf die Opfer oder auf Frauen im Allgemeinen gerichtet hat.“

Eva wollte ihm gerade widersprechen, aber irgendetwas an seinen Worten ließ sie innehalten. Ganz unlogisch klang seine Argumentation nicht, und sie wäre eine schlechte Polizistin gewesen, wenn sie sich dieser verschlossen hätte, nur weil sie den Typen, der sie vorgebracht hatte, nicht ausstehen konnte.

Was, wenn Brock recht hatte? Wenn es wirklich eine Verbindung zwischen den Opfern gab, von der sie bislang noch nichts ahnten?

„Hm …“, machte sie, weil ihr gerade nichts Besseres einfiel, um dem Fallanalytiker klar zu machen, dass sie über seine Theorie zumindest nachdachte.

Dann vernahm sie hinter sich ein Räuspern und drehte sich um. Oliver Lamprecht hatte unbemerkt das Büro betreten und so, wie er sie ansah, hatte er den Großteil der Diskussion wohl mitbekommen. Umso besser, dachte Eva – damit ersparte sie sich lange Erklärungen.

„Was denkst du denn, Oliver?“

„Ich denke, dass wir dieser These zumindest noch einmal nachgehen sollten“, antwortete er. „Außerdem ist es ja nicht so, dass wir momentan viele andere Ansätze hätten, die dadurch zu kurz kämen.“

Sie kämpfte kurz mit sich, dann willigte sie ein. „Einverstanden! Schauen wir uns den Mord in Gerolstein und mögliche Parallelen noch einmal an, vielleicht sehen sechs Augen ja mehr als vier. Ich würde vorschlagen, dass Oliver erneut Kontakt zu den ermittelnden Kollegen in der Eifel aufnimmt, ich mich auf die Tat in Hürth konzentriere und Sie, Herr Brock, können …“

„Ich werde nach Gerolstein fahren, mich dort für eine Nacht in einem Hotel einquartieren und dann von meinen Gefühlen leiten lassen. Es sei denn“, er grinste sie fast schon unverschämt an, „Sie hätten mich lieber in Ihrer Nähe.“

Eva betrachtete ihn fast schon mitleidig. „Viel Spaß in der Eifel!“

*

Zwei Stunden später steuerte Brock seinen Porsche auf den Parkplatz, der neben dem Krimihotel in Hillesheim lag. Er liebte das mit seinen Zinnen und Türmen fast schon viktorianisch anmutende Haus, in dem jedes Zimmer unter einem anderen Motto stand und dementsprechend eingerichtet war: Mord im Orient-Express, Miss Marple, Der Hexer oder James Bond.

An den Wochenenden war das Hotel fast immer ausgebucht, aber jetzt, an einem Wochentag Mitte Mai, bekam er problemlos ein Zimmer. Tod auf dem Nil lag vorne heraus und gewährte ihm eine nette Aussicht auf die Hillesheimer Hauptstraße, die sich quer durch den Ort schlängelte.

Er machte sich kurz frisch und verließ sein Zimmer dann wieder, um zum Abendessen ins Hotelrestaurant zu gehen. Weich besohlte Schuhe huschten dort über polierte Böden, während die beiden Kellnerinnen geschäftig zwischen den Tischen hin und her eilten, Bestellungen aufnahmen und Essen servierten. Brock bestellte ein frisch gezapftes Pils und die Pasta Don Alfonso – Penne mit Paprika und Oliven, in Öl geschwenkt.

Als er mit seinem Essen fertig war, orderte er bei der Kellnerin noch einen doppelten Espresso und schaute sich anschließend im Restaurant um. Ihm gegenüber saß eine Familie mit zwei Kindern im Teenageralter, die sich lautstark auf Niederländisch unterhielten. Uninteressant, genauso wie das Rentnerpärchen in der Nische links von ihm.

Zwei Tische weiter jedoch, in der Nähe des englischen Kaminzimmers, hatte ein Paar Anfang dreißig Platz genommen, das gerade lautstark eine Meinungsverschiedenheit ausdiskutierte. Er redete die ganze Zeit über aufgebracht auf sie ein, während sie auf seine Vorwürfe mit abwehrenden Handbewegungen reagierte. Das konnte durchaus spannend werden.

Als die Blondine kurz darauf zu Brock herübersah, zwinkerte er ihr zu. Sie schaute ihn einen Moment lang verwirrt an und konzentrierte sich dann wieder auf ihr motzendes Gegenüber. Nach einer weiteren Minute dasselbe Spiel, nur dass die Frau sich diesmal ein Lächeln verkneifen musste. Beim dritten Mal verdrehte Brock die Augen und wiegte den Kopf hin und her, was sie lachen ließ. Ihr Begleiter bezog das Lachen wohl auf sich und wurde noch wütender, seine Gesten hektischer. Kurz darauf schmiss er die Serviette auf den Tisch und stand auf – wahrscheinlich, um zur Toilette zu gehen.

Drei Minuten lang würde der Kerl sicherlich wegbleiben, und Brock überlegte, ob er die Zeit nutzen sollte, um die Blondine anzusprechen. Es war nicht so, dass sie ihm besonders gut gefiel, er betrachtete solche Gelegenheiten eher als sportliche Herausforderungen. Dann jedoch erinnerte er sich, weshalb er nach Hillesheim gekommen war: Sein Programm für die Nacht stand bereits fest, und das Herumtoben durch Hotelbetten mit einer Fremden war darin leider nicht vorgesehen.

Brock winkte der Kellnerin und bezahlte die Rechnung, wobei er ein ordentliches Trinkgeld obendrauf legte. Dann stand er auf, zwinkerte der Blondine ein letztes Mal zu und ging wieder auf sein Zimmer, um sich auszuruhen. Er wollte den Tatort bei möglichst identischen Bedingungen wie in der Tatnacht besichtigen. Bis 23 Uhr hatte er noch eine Stunde lang Zeit.

Er legte sich angezogen aufs Bett, schaute sich eine mäßig spannende Serie im Fernsehen an und behielt die Uhr im Auge. Als die Zeit dann gekommen war, stand er auf, zog sich die Schuhe an und verließ das Hotel.

Von Hillesheim nach Gerolstein waren es rund zehn Kilometer, für die er zu dieser späten Stunde lediglich acht Minuten brauchte. Nur vier Autos kamen ihm unterwegs entgegen – und kein einziges mehr, nachdem er die Bundesstraße verlassen hatte und auf die Kreisstraße abgebogen war, die ihn direkt zu dem Adler- und Wolfspark führte.

Als der Parkplatz in Sicht kam, stimmte die Uhrzeit dann fast genau mit jener überein, zu der das junge Paar getötet worden war. Langsam steuerte Brock den Porsche über das Gelände und stellte ihn auf dem gleichen Platz ab, auf dem fünf Monate zuvor der Opel Corsa von Tim Kramer gestanden hatte, dann stieg er aus.

Es war kühl, und die Nacht umhüllte ihn wie ein Mantel. Er hatte damit gerechnet, dass es hier dunkel sein würde, jedoch nicht mit dieser Form der Finsternis, die fast schon etwas Erdrückendes an sich hatte. Sie füllte die Luft beinahe wie ein physischer Gegenstand aus, bedrohlich und immer näher rückend.

Brock schloss den Reißverschluss seiner Jacke und ging zurück zur Landstraße, auf der er gekommen war, wobei er bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Blödes Viehzeug, dachte er und verfluchte innerlich die Eifel. Er war ein Stadtmensch durch und durch, die angeblichen Vorzüge des Landlebens hatten sich ihm nie erschlossen.

Als er die Straße erreicht hatte, drehte er sich um und schaute zurück auf den in der Dunkelheit liegenden Parkplatz. Als Erstes fiel ihm dabei auf, dass sein Porsche von hier aus nicht mehr zu sehen war. Das war interessant - die Möglichkeit, dass der Täter den Opel Corsa von Tim Kramer damals nur zufällig im Vorbeifahren entdeckt hatte, konnte er also ausschließen.

Was aber, wenn der Mörder schon vor dem jungen Pärchen hier gewesen wäre? Nein - das ergab keinen Sinn. Tim und Lena waren schließlich hergekommen, weil sie ungestört sein wollten: Wieso hätten sie dann auf einem ansonsten völlig leeren Parkplatz ausgerechnet neben dem einzigen anderen Fahrzeug parken sollen?

Blieb nur noch eine plausible Möglichkeit: Der Mörder musste dem Pärchen gefolgt sein und sie gezielt ausgewählt haben. Und ohne, dass er bislang den Tatort in Hürth bei Nacht gesehen hatte, war er davon überzeugt, dass die Dinge dort ähnlich lagen.

Erneut blickte er auf die Landstraße, deren graues Band links und rechts bereits nach wenigen Metern in der Dunkelheit verschwand. Wie lange stand er jetzt schon hier? Zwei, drei Minuten vielleicht. Kein anderes Auto war in dieser Zeit vorbeigekommen. Zeit, um etwas auszuprobieren.

Er holte tief Luft und schrie.

Er konnte förmlich spüren, wie der Schrei von der Natur ringsum, den Blättern der Büsche und Bäume, dem Moos und dem Gras auf dem Boden, verschluckt wurde. Ansonsten gab es keine Reaktion, der Wald lag weiterhin schweigend vor ihm, dunkel und feucht riechend, bedrohlich und unheimlich wirkend.

Zeit umzukehren.

Als er vielleicht noch zehn Meter von seinem Fahrzeug entfernt war, knackte irgendetwas im Unterholz. Ruckartig blieb Brock stehen, sein Herz schlug schneller. Das Knacken war aus einer Baumreihe links von ihm gekommen. Es hatte geklungen, als würde ein trockener Ast unter einem Fuß zerbrechen.

Er lauschte, konnte aber nichts mehr hören. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, die Dunkelheit zu durchdringen, und er verfluchte sich, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben.

Stopp!

Hatte sich da etwas bewegt? Unter den Tannen? Bewegte sich da ein Schatten? Er wagte jetzt kaum noch zu atmen und versuchte sich einzureden, dass es nur eine Sinnestäuschung gewesen war, oder ein Reh vielleicht. Oder … warum war es bloß so verdammt finster?

Schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass er nichts bei sich hatte, womit er sich hätte verteidigen können. Außer dem schweren Schlüsselbund vielleicht, den er jetzt aus seiner Hosentasche fingerte – der als Waffe aber denkbar armselig erschien. Marco Brock war kein ängstlicher Mensch, dazu kräftig gebaut, eins fünfundachtzig groß, aber hier in dieser Abgeschiedenheit fröstelte er – und das hatte nur ganz am Rande etwas mit den Temperaturen zu tun.

Den Blick weiterhin starr auf den Waldrand gerichtet schlich er weiter.

Das war nur ein gottverdammter Parkplatz, umgeben von einem Wald, in dem Tiere lebten, die nun mal Geräusche machen. Nichts, wovor man Angst haben musste! Und dennoch …

Er dachte an den Doppelmord, der vor fünf Monaten hier passiert war, und merkwürdigerweise beruhigte ihn der Gedanke. Er lenkte ihn ab und ließ dadurch die Angst in den Hintergrund treten. Außerdem war er auf eine weitere Frage gestoßen, die ihn jetzt beschäftigte: In der Nacht, in der Lena und Tim getötet wurden, musste es genauso düster gewesen sein wie heute. Fünfmal hatte der Mörder in dieser Nacht auf das Mädchen geschossen und fünfmal getroffen, obwohl sie vor ihm weggelaufen war. Ein geübter Schütze, keine Frage, und dennoch: Selbst ein Meisterschütze musste sein Ziel sehen können.

Dann knackte wieder etwas und Brock rannte los.

Noch sieben Meter.

Noch vier.

Dann, endlich, hatte er die vermeintliche Sicherheit seines Wagens erreicht. Er riss die Tür auf, ließ sich hinters Steuer fallen und startete den Motor. Der Sechszylinder erwachte fauchend und die Xenon-Scheinwerfer des Porsches schnitten wie Laserschwerter durch die Nacht.

Hektisch legte er den Rückwärtsgang ein, fuhr ein Stück zurück, dann vor und postierte den Wagen damit so, dass die Lichtkegel seiner Scheinwerfer genau auf das Stückchen Wald fielen, aus dem er das Geräusch gehört hatte. Aber wenn da tatsächlich etwas gewesen war, war es mittlerweile verschwunden.

Jetzt musste er fast lachen.

Über sich und seine kindische Angst.

Dann erreichte er das Ende des Parkplatzes und stoppte kurz, bevor er auf die Landstraße abbog. Ein letzter Blick in den Rückspiegel: Die Bäume leuchteten im Schein der Bremslichter blutrot. Ihre Wipfel schwankten im Wind hin und her. Es wirkte nicht, als wollten sie ihm zum Abschied zuwinken. Eher, als würden sie ihn verhöhnen.

*

„Nichts“, sagte Oliver Lamprecht mit dem Gesichtsausdruck eines traurigen Bernhardiners, als Eva am nächsten Tag das Büro betrat. „Ich habe mir gestern erneut alle Unterlagen angesehen, die wir aus Gerolstein bekommen haben und gerade noch mal mit der zuständigen Dienststelle telefoniert. Keine neuen Erkenntnisse; die dortigen Kollegen tappen bei ihrem Fall genauso im Dunkeln wie wir bei unserem.“

„Hast du denn irgendwelche anderen Hinweise gefunden, die dafür sprechen, dass die Taten zusammenhängen könnten?“

Er schüttelte den Kopf. „Bis auf die von Brock festgestellten Parallelen keine. Wie sieht‘s bei dir aus?“

„Ich bin noch nicht sicher“, sagte Eva, „aber es könnte eine interessante Verbindung zwischen der Tatwaffe in Hürth und dem ersten Tatort Gerolstein geben. Nachdem du gestern Feierabend gemacht hast, habe ich den Waffentyp noch einmal durch sämtliche Datenbanken gejagt und mich diesmal nicht nur auf Verbrechen beschränkt, die damit begangen worden. Insgesamt ist er im letzten Jahr bundesweit elf Mal im System aufgetaucht – und ein Fall hat mich stutzig gemacht. Ein Sportschützenverein in Gerolstein hat vor neun Monaten eine Pistole der Marke Browning High Power als gestohlen gemeldet, also exakt derselbe Waffentyp, mit dem Anna Thiele und Marcel Fehmann am Heider Bergsee getötet wurden. Und es kommt sogar noch besser: Wolfgang Kramer, der Vater des in Gerolstein ermordeten Tim Kramer, ist in genau diesem Sportschützenverein Mitglied!“

Jetzt schaute Oliver sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Anerkennung an. „Also, wenn das ein Zufall ist …“

„Was ist ein Zufall?“

Die beiden drehten sich zu Marco Brock um, der in diesem Moment den Raum betrat, und Eva konnte nicht anders – bei seinem Anblick musste sie lachen.

Was für ein Unterschied zu seinen vorherigen Auftritten: Heute sah der Kerl wie ein Berufsjugendlicher aus. Die weißen Sneakers, die künstlich ausgewaschene Jeans, dazu der graue Hoodie einer amerikanischen Edelmarke … Das Einzige, was jetzt noch an Falco erinnerte, waren die zurückgegelten Haare und das überhebliche Grinsen.

Dann wurde sie wieder ernst und erzählte Brock, was sie herausgefunden hatte. Aufmerksam hörte er zu. Er unterbrach sie nicht und nickte nur nachdenklich. Als sie fertig war, sagte er: „Nicht schlecht, Frau Lendt. Glückwunsch! Haben Sie eine Möglichkeit, den Mann zeitnah zu vernehmen?“

„Ich wüsste nicht, was dagegenspricht.“

„Dann machen Sie Folgendes: Lassen Sie Wolfgang Kramer herkommen. Schaffen Sie bewusst Stressfaktoren. Hängen Sie Tatortbilder an die Wand, legen Sie scheinbare Beweismittel wie eingetütete Patronenhülsen auf den Tisch. Tun Sie von Anfang an so, als gebe es überhaupt keinen Zweifel, dass er der Täter ist. Ach ja: Und Herr Lamprecht sollte das Verhör leiten.“

Er tat es schon wieder, dachte Eva genervt. Dieser Kerl versuchte erneut, sie wie ein kleines Mädchen dastehen zu lassen, das gerade frisch aus der Ausbildung kam.

Sie stemmte die Hände in die Hüften und fragte: „Und warum soll ich den Vater Ihrer Meinung nach nicht selbst verhören?“

„In einer solchen Situationen sollte der Vernehmungsbeamte älter sein als der Befragte“, antwortete Brock. „Ansonsten laufen wir Gefahr, dass der Verdächtige ihn nicht respektiert.“

„Verhöre sind aber nicht gerade meine Stärke“, warf Oliver ein, der sich angesichts des erneut aufflackernden Disputs sichtlich unwohl fühlte. „Auf diesem Gebiet ist Eva deutlich besser.“

„Ihre Entscheidung“, entgegnete Brock kühl und zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sich das nicht zutrauen, okay. Ich kann nur sagen, was aus psychologischer Sicht an meisten Sinn macht.“

„Mal ganz unter uns, Herr Brock“, sagte Eva und baute sich vor ihm auf. „Was haben Sie eigentlich für ein Problem mit mir? Halten Sie mich für eine schlechte Polizistin? Bin ich Ihnen zu jung, zu unerfahren?“

„Blödsinn“, entgegnete er. „Nach dem, was ich über Sie weiß, sind Sie sogar eine ausgezeichnete Beamtin, die nur leider etwas betriebsblind reagiert, wenn es um Fälle geht, die außerhalb der Norm liegen.“

„Ich bin nicht betriebsblind“, schnaufte sie und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie sich gezwungen sah, sich zu verteidigen.

„Es ist völlig verständlich, dass Sie das so einschätzen. Eigen- und Fremdwahrnehmung liegen häufig recht weit auseinander bei solchen Fragen.“

„Jetzt passen Sie mal …“

„Was denn?“, unterbrach er sie. „Gestern haben Sie noch jeden Zusammenhang zwischen den Taten in Hürth und denen in Gerolstein weit von sich gewiesen. Und jetzt haben Sie – dank meines Drängens, wohlbemerkt – schon eine erste Spur, die für eine Verbindung zwischen beiden Verbrechen spricht.“

Eva zog scharf die Luft ein, doch bevor sie loslegen konnte, gewann die Vernunft in ihr bereits die Oberhand. So sehr ihr dieser Typ auch zuwider war: In diesem Punkt hatte er recht, und Eva gehörte nicht zu den Menschen, die einen Fehler nicht zugeben konnten.

„Okay, 1:0 für Sie“, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich gebe ja zu, dass ich mich in dieser Hinsicht vielleicht geirrt habe.“

Er machte eine abwertende Handbewegung. „Völlig egal, es geht mir nicht darum, Ihnen Ihre Fehler vorzurechnen. Jeder Mensch macht Fehler. Wichtig ist nur, dass wir diese Fehlerquote möglichst gering halten und beim Verhör von Wolfgang Kramer nicht weiter erhöhen.“

„Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wir machen es, wie Sie gesagt haben, aber ich bin dabei, wenn Oliver ihn vernimmt.“

Brock nickte, ausnahmsweise schien er an einem ihrer Vorschläge mal nichts auszusetzen zu haben. Zum ersten Mal, seit der ehemalige LKA-Mann hier aufgetaucht war, hatte Eva das Gefühl, dass er sich zu einer echten Hilfe bei den Ermittlungen entwickeln könnte.

„Was hat eigentlich ihr Eifeltrip ergeben?“, wollte Oliver anschließend wissen.

„Ich bin noch nicht soweit, aus den Erkenntnissen konkrete Schlüsse zu ziehen“, erwiderte Brock. „Kümmern Sie sich zuerst um den Vater des Ermordeten und wenn Sie damit fertig sind, sehen wir weiter.“

Das klang nicht so, als würde der Fallanalytiker an einen schnellen Fahndungserfolg glauben.

*

Das Helenius-Internat lag im Bergischen Land inmitten einer Hügellandschaft, in der sich saftige Wiesen mit dunklen Waldgebieten abwechselten. Wenn man das Gebäude aus der Ferne betrachtete, hätte man es leicht nach England verorten können. Die Zinnen und Erker verliehen ihm den wehrhaften Charakter einer viktorianischen Lehranstalt, aber so war es nicht. Nicht mehr zumindest.

In den 15 Jahren, die Maria Böhmer jetzt Internatsleiterin war, hatte sich vieles verändert. Sie achtete auf ein liberales Miteinander zwischen Schülern und Lehrerschaft, wobei gegenseitiger Respekt und Achtung voreinander die vorherrschenden Leitbilder waren. Klare Spielregeln, das ja – aber die Zeiten, in denen ausschließlich Zucht und Ordnung geherrscht hatten, gehörten der Vergangenheit an.

Maria Böhmer war jetzt Ende fünfzig, eine kleine und leicht pummelige Frau mit grau werdendem Haar, das sie alle drei Wochen gewissenhaft färbte. An diesem Tag trug sie bequeme Schuhe, eine hellblaue Bluse und einen praktischen, dunkelgrauen Rock, der ihr bis weit über die Knie reichte. Ihre goldfarbene Lesehilfe, die an einer langen Kette vor ihrem üppigen Busen baumelte, war zu so etwas wie ihrem Markenzeichen geworden und der Grund, warum sie von den Schülern hinter ihrem Rücken nur „Die Brille“ genannt wurde.

Es war kurz nach vier an diesem Dienstagnachmittag, als Maria Böhmer nach einem gemütlichen Einkaufsbummel durch Bergneustadt wieder das Internat betrat. Wie immer schaute sie sich dabei gründlich um, suchten ihre Augen nach Dingen, die den vorherrschenden Gesamteindruck stören konnten. Sie war stolz darauf, dieses Internat zu dem gemacht zu haben, was es heute war: Ein Ort, dem wohlhabende Eltern ihre Sprösslinge bedenkenlos anvertrauten. Sie wusste, wie wichtig der erste Eindruck für das notwendige Vertrauen war, und hier stimmte er. Der Boden der Eingangshalle war mit schachbrettartigem Parkett belegt, die Wände und die Decke mit Holzpaneelen verkleidet. Ein schwacher Geruch von Politur hing in der Luft, alles glänzte.

Zufrieden wendete Maria Böhmer sich ab, stieg die hinter der Halle liegende Treppe hoch und bog in den Flur ein, der direkt zu ihrem Dienstzimmer führte. Auf dem Weg warf sie auch einen kurzen Blick in die leer stehenden Klassenräume, die mit ihren schwarz bezogenen Kunststoffstühlen eine eher nüchterne Atmosphäre ausstrahlten. Dabei fielen ihr im Zimmer der siebten Klasse zwei Tische in Fensternähe auf, die nicht in Reih und Glied standen – ein Anblick, der ihrem natürlichen Ordnungssinn widersprach. Natürlich hätte sie alles so stehen lassen können, bis der Hausmeister es auf seiner abendlichen Runde wieder korrigierte, aber so war sie nicht.

Sie betrat den Raum, rückte die Tische zurecht und schaute dabei unbewusst aus dem Fenster. Unter ihr lag der alte Pavillon der Schule. Acht hoch aufragende hölzerne Säulen, die von einem spitz zulaufenden Dach gekrönt waren, auf dem sich ein kleiner Turm befand. Direkt darunter sah sie drei ihrer Schüler sitzen, die augenscheinlich tief in ein Gespräch versunken waren.

Alle drei gehörten der Abschlussklasse an, und alle drei machten ihr Sorgen. Nicht wegen ihrer schulischen Leistungen, die durchweg gut waren, sondern wegen ihres gemeinsamen Hobbys. Jugendliche in diesem Alter sollten andere Faszinationen entwickeln als die nach Serienkillern, fand sie. Das war nicht gut. Es fühlte sich irgendwie … ungesund an.

Sie kannte ihre Namen wie die aller ihrer Schüler. Philipp Redel, Adam Lesch und Kai Drechsler. Unter den Dreien war Philipp Redel der Auffälligste - ein Junge, der keine Brille brauchte, um wie ein Nerd zu wirken. Dass sie ihn in letzter Zeit häufiger mit Julia Schneider gesehen hatte – einem der hübschesten Mädchen des Internats – verblüffte sie. Aber was wusste sie schon über ihn?

Nicht viel. Eigentlich nur, dass Philipp kein guter Sportler war, außer Adam und Kai keine Freunde hatte, jedenfalls nicht hier im Internat, und auch keine Hobbys – wenn man von seiner morbiden Begeisterung für Massenmörder einmal absah.

Die Drei hatten ihrem Club sogar einen Namen gegeben: Sie nannten sich die Sons of Sam, und sie hatte den Begriff erst nachschlagen müssen, bevor sie herausfand, dass er zu dem New Yorker Serienkiller David Berkowitz gehörte, der vor rund 40 Jahren mehrere Menschen erschossen und später behauptet hatte, die Taten seien ihm von einem großen schwarzen Hund eingeredet wurden.

Nachdenklich blickte Maria Böhmer auf die drei Jugendlichen. Wie konnte man sich nur für irgendwelche Scheusale begeistern, die anderen Menschen so viel Leid zugefügt hatten? Sie verstand es nicht und es machte ihr, ehrlich gesagt, auch ein wenig Angst.

Andererseits gab es nichts, was sie dagegen tun konnte. Die Jungs taten niemandem etwas und sie konnte ihnen schwerlich die Themen vorschreiben, über die sie sich zu unterhalten hatten. Seufzend wendete sie sich ab; vielleicht interpretierte sie da auch einfach zu viel hinein. Wahrscheinlich war es so besser, als wenn die drei gar keine Interessen gehabt hätten.

Dann verließ sie das Klassenzimmer, vergaß das Grüppchen und ging in ihr Büro. Nur noch schnell den Anrufbeantworter abhören, ein paar Unterlagen abarbeiten und Dienstpläne schreiben und dann nichts wie ab nach Hause – auf den Liebesroman, den sie sich in der lokalen Buchhandlung gekauft hatte, freute sie sich schon den ganzen Tag.

*

Marco Brock kannte sämtliche Vorurteile, die Polizisten gegen seinen Berufsstand hegten und die, das musste er zugeben, teilweise durchaus berechtigt waren. Ihren Ursprung hatten sie in Filmen wie Das Schweigen der Lämmer, aber auch die Fallanalytiker selbst hatten ihren Teil dazu beigetragen. Gerade in den USA hatte er es mehrfach erlebt, dass Profiler ihren eigenen Studien so sehr vertrauten, dass sie später, wenn sich herausstellte, dass sie völlig falsch gelegen hatten, an der Wahrheit regelrecht verzweifelten. Sie suchten bei jeder Mordserie ständig das Bizarre, den Teufel in Menschengestalt, um die auf empirischen Erhebungen beruhenden Modelle des FBI zu bestätigen. In der Realität jedoch waren die meisten Serienkiller einfach gestrickte Charaktere, die außerhalb ihrer Taten weder Abgründiges noch Tiefgründiges zu bieten hatten. Das Gleiche galt für die tausendfach wiederholten Thesen, die unter Polizisten mittlerweile zum Allgemeinwissen gehörten.

Serienkiller machen als Kinder lange Pipi ins Bett.

Serienkiller legen in der Jugend Feuer und quälen Tiere.

Serienkiller sammeln Trophäen.

Was Marco Brock bei diesen Sätzen vermisste, war das Wörtchen oftmals. Es handelte sich dabei um Muster, die häufig zutrafen, nicht um Glaubenssätze, denen man blind vertrauen durfte. Es gab prozentuale Wahrscheinlichkeiten, aber kein Täterprofil, dass sich wie ein Phantombild zeichnen ließ und mit dem sich die ermittelnden Beamten dann auf die Suche begeben konnten – auch, wenn manche seiner Kollegen es gerne so darstellten.

Marco Brock glaubte an das, was er tat, aber er kannte auch die Grenzen seiner Möglichkeiten. Dennoch war er davon überzeugt, eine Mordserie zu erkennen, wenn er sie sah. Am Anfang war es nur eine Vermutung gewesen, die sich in der Nacht auf dem Parkplatz bereits zu einer Überzeugung entwickelt hatte. Jetzt hatte er den endgültigen Beweis. Sah ihn auf dem Bildschirm des Computers vor sich.

Es war in Kalifornien gewesen, Ende der 60er Jahre. In der Zeit des ausklingenden Hippie-Zeitalters und auf dem Höhepunkt der Studenten- und Rassenunruhen. Ein Fall, der sich tief in das das kollektive Gedächtnis des Landes eingebrannt hatte. Der Täter hatte peitschende Schüsse in parkende Autos abgegeben, mitten in die blecherne Urzelle des amerikanischen Traums. Er hatte junge Liebespaare getötet, zu einer Zeit, in der Amerika noch an die Unschuld geglaubt hatte. Die Auswahl der Opfer und der Tatorte, die verwendeten Waffen, das Datum des ersten Mordes – von Anfang an hatten diese Punkte etwas in Brock ausgelöst, er hatte es bislang nur nicht greifen können.

Jetzt jedoch war ihm klar, dass die Morde, an deren Aufklärung er gemeinsam mit Lendt und Lamprecht arbeitete, eine fast exakte Kopie der Mordserie von damals darstellten; angefangen von den verwendeten Kalibern bis hin zur Anzahl der abgegebenen Schüsse. Dass das männliche Opfer 1969 den zweiten Anschlag des Killers knapp überlebt hatte und das heutige gestorben war, änderte an seiner Theorie nichts – in beiden Fällen hatte der Täter exakt viermal geschossen und dem Schicksal den Rest überlassen. Brock war überzeugt, dass es den Mördern immer nur um die Frauen gegangen war: damals wie heute.

In seinem Arbeitszimmer müsste er noch Unterlagen über den alten Fall haben. Zusammengetragene Erkenntnisse über einen der mysteriösesten Serienkiller aller Zeiten, die er damals vom FBI erhalten hatte. Heute galten sie in Quantico als Lehrbeispiel für Profiler, was die Jagd auf einen Täter anging, den die Polizei nicht überführen konnte, obwohl er ein ausgesprochen großes Selbstdarstellungsbedürfnis gehabt hatte.

Brock stand auf und fand den dunkelblauen Ordner nach kurzer Suche in seinem Aktenschrank. Auf dem Deckel stand nur ein einziges Wort: ZODIAC. Er legte ihn auf den Wohnzimmertisch und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Der Abend würde lang werden, das wusste er. Und wenn er nicht komplett danebenlag, standen noch drei weitere Menschen auf der Todesliste des Killers. Ein drittes Pärchen sowie ein einzelner Mann.

Mit der dampfenden Tasse in der Hand kehrte Brock ins Wohnzimmer zurück. Wenn sie eine Chance haben wollten, diese Morde zu verhindern, musste er alles wissen, was die Ermittler damals über den Zodiac herausgefunden hatten. Er musste sein Gedächtnis auffrischen und den Killer besser kennenlernen. Empathie für dessen Handlungsweisen entwickeln, um dem heutigen Mörder näher zu kommen.

Der Zodiac hatte Kalifornien vor rund 45 Jahren in eine Schockstarre versetzt. Unter allen Serienkillern, die es in den Vereinigten Staaten gegeben hatte, war er der vielleicht beste Vermarkter in eigener Sache gewesen – auf einem Level mit Jack the Ripper, der Ende des 19. Jahrhunderts im Londoner Stadtteil Whitechapel gewütet hatte. Auch der Zodiac hatte sich einen Namen gegeben und zusätzlich noch ein Symbol, das zu seinem Markenzeichen geworden war. Er hatte chiffrierte Nachrichten an Zeitungen geschickt und in Briefen sogar mit Morden geprahlt, die er gar nicht begangen hatte. Sein Sendungsbewusstsein war enorm gewesen.

Sicher zugerechnet werden konnten ihm vier Anschläge, bei denen fünf Menschen starben und zwei weitere schwer verletzt wurden. Die ersten sechs Opfer waren drei junge Pärchen und schon damals hatten die Zeitungen anfangs von einem „Liebespaar-Mörder“ geschrieben – bis der erste Brief beim San Francisco Chronicle eingegangen war, der mit den Worten „Hier spricht der Zodiac“ begann.

Es hatte wie eine Botschaft aus der Hölle geklungen.

Marco Brock nippte an seinem Kaffee, dann griff er nach dem Ordner und schlug ihn auf. Darin hatte er alles zusammengetragen, was er in den USA über die Mordserie erfahren hatte. Zeitungsberichte, Ermittlungsergebnisse und seine eigenen Theorien. Die ersten Opfer, das wusste er noch, waren Betty Lou Jensen und David Faraday gewesen, und das Verbrechen an ihnen ähnelte in verblüffender Weise dem Mord an Lena Pelzer und Tim Kramer in Gerolstein.

Dann begann er zu lesen.

Die Akte Zodiac - Gesamtausgabe

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