Читать книгу Die Akte Zodiac - Gesamtausgabe - Linus Geschke - Страница 13

Gegenwart

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Die Sonne war seit einer Stunde hinter dem Helenius-Internat untergegangen, als Philipps Hand sich endlich unter Julias T-Shirt traute und die harte, fest aufragende Brustwarze erreichte. Julias Atem ging stoßweise und zum ersten Mal in seinem Leben hatte ein Mädchen die Hand dort, wo er sie ersehnte, in seinem Schoß, wo sie streichelte und massierte. Die Hand bewegte sich wie auch seine eigene noch ohne Erfahrung, aber mit genügend Leidenschaft, um diesen Mangel auszugleichen. Philipp küsste Julia mit offenem Mund, und ihre Zunge kam ihm weit entgegen, schmeckte nach Orangensaft, und er spürte, wie sie die Erregung in ihm weiter anfachte. Er lehnte sich zu ihr, fast war ihm schwindelig, und versuchte, ihre Hose mit der anderen Hand zu öffnen. Dann stieß sie ihn weg.

„Was …?“, fragte er benommen.

„Ich kann das nicht“, sagte sie. „Nicht hier, wo … wo die da uns anstarren!“

Philipp beugte sich zur Seite und sein Blick folgte ihrem in Richtung der Poster, die an der Wand hingen. Filmplakate, Fotos und Zeichnungen, auf denen nur Männer abgebildet waren. Gary Ridgway beispielsweise, der Green River Killer. Ted Bundy und der deutsche Serienkiller Fritz Haarmann. Das größte Bild jedoch zeigte eine Zeichnung des Zodiac, angefertigt nach dem Phantombild, welches die Polizei von Vallejo nach Angaben des überlebenden Opfers Bryan Hartnell erstellt hatte.

Es zeigte den Killer mit einer Kapuze, die einer Henkersmaske glich und ihm weit über die Brust reichte. Sie zeigte das Symbol, welches zu seinem Markenzeichen geworden war: Ein Kreis, der von zwei kreuzförmigen Linien durchbrochen wurde. In der rechten Hand hielt der Mann einen Revolver und von seinen Gürtelschlaufen baumelten Seile, die er dazu verwendet hatte, seine Opfer am Lake Berryessa zu fesseln.

„Was stört dich daran?“, fragte er verständnislos. „Das sind doch nur Poster.“

„Aber was für welche! Mir machen die echt Angst, Philipp. Diese Mörder und Sadisten … wie kann man sich so was nur an die Wand hängen?“

Er spürte, wie seine Erektion nachließ. Verdammter Mist, dachte er - warum musste sie gerade jetzt damit anfangen?

Julia Schneider war eines der aufregendsten Mädchen auf dem Internat; eines, welches normalerweise weit außerhalb seiner Reichweite lag. Dennoch war sie jetzt hier, in dem Zimmer, das er sich mit Kai Drechsler teilte - einem der wenigen Freunde, die er hatte. Er hätte sich nie getraut, Julia anzusprechen, und wenn sie nicht irgendwann selbst auf ihn zugekommen wäre, um nach einer Hausaufgabe zu fragen, hätte er sie bis zum Schulabschluss lediglich aus der Ferne bewundert.

Alles, was danach passiert war, kam ihm immer noch wie ein Wunder vor. Als sie das erste Mal zusammen ein Eis aßen, hatte er sie nur anstarren können, zumindest kam es ihm rückblickend so vor. Ihre goldblonden Haare, die ihr wie honigfarbene Wellen über die Schultern fielen. Die blauen Augen. Ihr strahlendes Lächeln. Die kleinen Grübchen links und rechts. Die erste halbe Stunde hatte er den Mund kaum aufbekommen und ständig damit gerechnet, dass plötzlich Freundinnen von ihr in die Eisdiele gestürmt kämen, laut loslachten und sich mit Julia gemeinsam darüber lustig machten, dass er, der schmächtige Typ mit den vielen Pickeln, wirklich geglaubt hatte, bei einer wie ihr landen zu können.

Und doch war es kurz darauf so gekommen. Der ersten Verabredung war eine zweite gefolgt, dann die dritte, der erste Kuss. Wieder war die Initiative von ihr ausgegangen, ebenso wie heute, als sie ihn gefragt hatte, ob er ihr nicht mal sein Zimmer zeigen wollte, worauf er nur hatte nicken können.

„Na ja … ich weiß nicht … diese Typen interessieren mich einfach“, stammelte er jetzt. „Ich meine, andere gucken Zombiefilme und niemanden stört es. Dabei geht´s da noch viel blutiger zu.“

„Aber das hier ist Realität“, sagte Julia aufgebracht. Sie hatte sich mittlerweile wieder aufgerichtet und ihr T-Shirt nach unten gezogen. „Diese Kerle haben Menschen umgebracht, Frauen vergewaltigt und gequält oder sich an kleinen Kindern vergangen. Richtiges Leid, verstehst du, kein Kunstblut. Echt, Philipp … was ihr da macht, ist krank!“

„Leid?“, sagte er und merkte, wie er sich ärgerte, weil er sich genötigt sah, sich und seine Freunde zu verteidigen. „Haben Hitler oder Stalin etwa kein Leid verursacht? Aber wenn man sich mit ihnen beschäftigt, nennen es alle nur historisches Interesse. Aber sobald man sich für Serienkiller interessiert, behandeln einen alle so, als hätte man selbst einen an der Klatsche. Das ist … das ist einfach nicht gerecht!“

„Ja, schon klar“, entgegnete sie. „Aber ich kenne niemanden, der sich Poster von Hitler oder Stalin an die Wand hängt. Und wenn es doch jemand machen würde, wäre er in meinen Augen auch krank.“

Auch? Das bin ich also für dich? Krank?

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Doch, das hast du.“

Sie seufzte. „Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe. Lass uns morgen weiterreden, Philipp. Heute bringt das nichts mehr.“

„Ja, geh ruhig“, fauchte er. „Bring dich vor dem kranken Irren in Sicherheit!“

Sie stand auf und zog sich wortlos die Schuhe an. Auf ihrem Gesicht lag eine Traurigkeit, die er bisher noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Dann wendete sie sich ab, sagte leise „Bis morgen!“, und öffnete die Tür.

Er wollte ihr sagen, dass es ihm leidtat. Dass er sie liebte, dass er nicht mit ihr streiten wollte. Dass sie zurückkommen sollte. Aber er war noch nie gut mit Worten gewesen.

Als er endlich den Mund aufbekam, war die Tür hinter ihr bereits ins Schloss gefallen.

*

Eva trank den letzten Schluck Tee und setzte die Porzellantasse ab. Dabei fiel ihr auf, wie leicht sie sich in ihrer Hand anfühlte. Fragil und zerbrechlich – genau wie der Mann, der ihr auf dem Sofa gegenübersaß.

Sie hatte lange überlegt und sich dann entschlossen, sich nicht an Marco Brocks Rat zu halten. Stattdessen hatte sie Wolfgang Kramer, den Vater des ermordeten Tim, allein zu Hause aufgesucht. Sie wollte ihn nicht in der kalten Sterilität eines Polizeibüros verhören und auch keinen zusätzlichen Druck auf ihn ausüben – nicht mit den wenigen Hinweisen, die sie bislang besaßen.

Für Eva war der schmächtige Mann mit den schütteren Haaren in erster Linie der Vater eines Mordopfers – kein Verdächtiger, den sie brechen wollte. Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob das auch so blieb.

„Sie sind also Mitglied in einem Sportschützenverein, ist das richtig?“, fragte sie, nachdem sie die Höflichkeitsfloskeln hinter sich gebracht hatten.

„Seit mehr als zwanzig Jahren.“

„Ist Ihnen bekannt“, sie blätterte in einer Akte, als wenn sie sich die Daten erst ins Bewusstsein rufen müsste, „dass dort vor neun Monaten eine Pistole gestohlen wurde? Eine belgische FN High-Power?“

Wolfgang Kramer blickte sie irritiert an. „Kann sein“, sagte er dann. „Ich selber schieße nur mit Jagdwaffen. Handfeuerwaffen interessieren mich nicht.“

„Kommt es häufiger vor, dass Waffen aus dem Schützenheim entwendet werden?“

„Ich weiß nicht … nein, wahrscheinlich nicht.“

„Und dennoch können Sie sich an den Diebstahl nicht erinnern?“

Er stellte seine Tasse ab und sah ihr in die Augen. „Hat das etwas mit Tims Tod zu tun?“

„Nicht direkt“, antwortete sie ausweichend. „Wir müssen nur alle Möglichkeiten prüfen. Deshalb frage ich Sie noch einmal: Haben Sie von dem Diebstahl irgendwas mitbekommen?“

„Nein. Nicht direkt zumindest. Aber jetzt, wo Sie es sagen … ja, stimmt, ich habe davon gehört, mir deswegen aber keine Gedanken gemacht. An irgendwelche Details kann ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.“

„Sie haben aber davon gehört, dass drei Monate nach Tims und Lenas Ermordung ein weiteres Pärchen in Köln getötet wurde, oder? Der Mord war ja in allen Nachrichten.“

Er nickte.

„Wir können derzeit nicht ausschließen, dass es zwischen den beiden Verbrechen einen Zusammenhang gibt. Auch das Paar in Köln ist erschossen wurden – mit einer belgischen FN High-Power; demselben Waffentyp also, der Monate zuvor in Ihrem Schützenverein gestohlen wurde.“

Sie sah ihm dabei zu, wie er ihre Worte verarbeitete. Die Informationen sacken ließ. Seine Schlüsse zog. Mit einer unglaublich müde wirkenden Geste rieb er sich über das Gesicht und fragte dann: „Und Sie glauben, dass es dieselbe Waffe war?“

„Das wissen wir noch nicht.“

„Aber das würde ja bedeuten, dass der Täter von hier kommt und meinen Tim … dass er ihn ganz bewusst ausgewählt hat. Vielleicht sogar Mitglied des Schützenvereins ist.“

Eva sagte nichts. Wartete stattdessen, dass er von selbst darauf kam.

„Oder glauben Sie etwa …?“

„Wie gesagt“, fiel sie ihm ins Wort, „wir können derzeit keine Möglichkeit ausschließen.“

„Ich scheiße auf Sie!“, fuhr er Eva unerwartet heftig an. „Wenn Sie wirklich glauben, ich hätte meinem Jungen und seiner Freundin etwas angetan, dann scheiße ich auf Sie!“

„Bleiben Sie bitte ruhig, Herr Kramer – Beleidigungen bringen uns nicht weiter. Mein Job ist es, in alle Richtungen zu ermitteln, und Sie sollten mich dabei unterstützen, wenn Sie möchten, dass der Täter gefasst wird.“

„Natürlich will ich das! Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, mir …“

„Herr Kramer! Wir reden hier über einen zweifachen Doppelmord, und der Zusammenhang zwischen dem Tatort des ersten Verbrechens und der Tatwaffe des zweiten ist eine Spur, die uns zum Mörder Ihres Sohnes führen kann. Das verstehen Sie doch sicherlich?“

Er sackte in sich zusammen. Eine grau gewordene Strähne seines ansonsten hellbraunen Haars fiel ihm vor die Augen. Mit einer beiläufigen Bewegung strich er sie zur Seite.

„Ich verstehe“, sagte er leise. „Ich verstehe.“

Anschließend wollte Eva wissen, was er zur Tatzeit des zweiten Anschlags gemacht hatte. Er wusste es nicht mehr. Es war Wochen her und wahrscheinlich, so sagte er, habe er in der Nacht schlaflos im Bett gelegen, wie in so vielen Nächten, die seit Tims Ermordung vergangen waren.

„Gibt es dafür Zeugen?“

Er lachte bitter. „Meine Frau ist vor sechs Jahren an Krebs gestorben. Meinen Sohn hat ein Irrer getötet. Es tut mir ja leid für Sie, aber mir ist niemand geblieben, der irgendwas bezeugen könnte.“

Eva war davon überzeugt, dass er die Wahrheit sagte. Oft war es glaubwürdiger, kein Alibi zu haben, als ein zu gutes. Außerdem konnte sie halbwegs nachempfinden, wie der Mann sich fühlen musste. Sie hatte in ihrer Laufbahn schon oft erlebt, wie Eltern ihre Kinder verloren, und sie wusste, was das für sie bedeutete. Der Tod eines Kindes war wie ein Atomschlag für das Leben, das man sich aufgebaut hatte, und er zog die schlimmsten Verwüstungen nach sich. Die Welt hüllte sich in Dunkelheit und Verzweiflung. Ehen gingen in die Brüche. Selbstmord erschien manchem wie eine Erlösung; wie ein Weg zurück zu dem Kind, das man verloren hatte.

Sie stand auf. Sagte, dass sie momentan keine weiteren Fragen mehr hatte, packte ihre Unterlagen zusammen, bedankte sich für den Tee und verabschiedete sich von Wolfgang Kramer.

Kurz, bevor sie die Haustür erreichte, hielt er sie fest. „Mir ist da noch etwas eingefallen“, sagte er. „Ich hatte dem keine Bedeutung zugemessen, aber jetzt, wo Sie sagen, dass Tim vielleicht kein Zufallsopfer war …“

Elektrisiert fuhr sie herum. „Erzählen Sie!“

„Wissen Sie, ich bin immer gut mit Lena ausgekommen. Sie war ein wirklich nettes Mädchen und ich war glücklich, dass Tim sie zur Freundin hatte. Wir haben uns oft unterhalten und ich habe es damals nur für die Einbildung eines Teenagers gehalten, aber jetzt, rückblickend, bin ich mir nicht mehr so sicher.“

„Was? Was hat sie Ihnen gesagt?“

„Sie fühlte sich verfolgt“, sagte er. „Lena hat mir ein paar Tage vor ihrem Tod erzählt, dass sie sich von irgendwem beobachtet fühlte.“

*

Jedes einzelne seiner 78 Jahre hatte Josef Lenz im Kölner Stadtteil Dünnwald verbracht. Alle in der Nachbarschaft kannten ihn, jeder nannte ihn liebevoll Jupp. Er wohnte in einem windschiefen Haus direkt am Stadtrand, in dem zuvor schon seine Eltern gelebt hatten und gestorben waren, und in dem auch er irgendwann sterben wollte.

Josef Lenz war Witwer, kinderlos. Vor fünf Jahren war seine Frau Marion von ihm gegangen und noch immer konnte er nicht an sie denken, ohne tränenfeuchte Augen zu bekommen. Außer Erinnerungen war nicht viel von ihr geblieben: ein durchgelegenes Bett, ein paar Fotos und die altersschwache Cocker-Spaniel-Hündin Becky, die jetzt durch ein leises Jaulen mitteilte, dass es Zeit war, Gassi zu gehen.

Jupp seufzte und schaltete den Fernseher aus. Bürgerkriege, Flüchtlinge, Terror und Gewalt – Geschichten, die er nicht mehr hören konnte; die für ihn nichts weiter waren als ein zusätzlicher Beweis, dass die Welt komplett den Bach runterging.

Marion hatte es gut, das alles nicht mehr mit ansehen zu müssen. Dann gab er sich einen Ruck und stand auf, keuchend, mit schmerzenden Knien und gebeugten Schultern, die zu viel Last hatten tragen müssen.

Dennoch war es in Momenten wie diesen eine Erlösung, wegen Becky raus zu müssen. Ansonsten würde dieses zittrige Gefühl in den Beinen wiederkommen. Es kam von der Einsamkeit, und er wusste, wenn er sitzen blieb, würde es von den Beinen aus den Rücken hochkriechen und sich schließlich in seinem Kopf einnisten, bis er anfing zu weinen wie ein kleines Baby.

Er schnappte sich die Leine und das Halsband, während die kleine Becky vor seinen Füßen wild im Kreis herumsprang. Sie drehte jedes Mal fast durch vor Freude, wenn es nach draußen ging. Jupp tätschelte ihr den Kopf, zog seine braunen Wildlederschuhe und eine Regenjacke an und öffnete die Haustür.

Glücklicherweise hatte Becky ein bisschen Arthritis in der Hüfte, und es genügte ihr, langsam neben ihm herzulaufen, wobei sie ab und zu stehen blieb, um Wasser zu lassen oder irgendeinen Busch zu beschnüffeln. Sie war kein Männerhund, kein starker, muskulöser Gefährte, aber sie war ein unerschrockenes kleines Geschöpf, und Jupp bewunderte das. Gemeinsam trotteten sie etwas wackelig, aber tapfer die Straße entlang.

An dem Kiosk neben der Straßenbahnhaltestelle blieb er stehen, wechselte ein paar Worte mit dem türkischen Besitzer, kaufte eine BILD und eine Packung Ernte23 und spazierte weiter. Früher wäre er noch auf ein, zwei Kölsch in Freddy Schröders Eckkneipe eingekehrt, aber die gab es schon seit Jahren nicht mehr. Sie war verschwunden wie so vieles in seinem Leben.

Wann hatte seine Welt eigentlich aufgehört zu existieren? Eckkneipen, in denen sich nur Kerle trafen, die eine Zigarette nach der anderen rauchten und wo nicht den ganzen Tag lang diese schreckliche Musik aus dem Radio dudelte, die man jetzt überall hörte. Schwarz-Weiß-Fernsehen mit drei Sendern. Männer mit Hüten. Alles war weg.

Wie Marion.

Nur Becky war übrig geblieben, blickte zu ihm auf und zitterte auf ihren kurzen Beinchen. „Lass uns nach Hause gehen, altes Mädchen“, sagte er. Es war ihm egal, ob ihm jemand zuhörte, wenn er mit dem Tier redete: Er war ein alter Knacker mit einem alten Hund, verdammt noch mal! Er durfte das.

Mittlerweile war es kurz vor neun. Den Anfang des Abendkrimis hatte er verpasst, also konnte er sich für den Rückweg auch Zeit lassen. Er war ein wenig geschlaucht, die Beine taten ihm weh, zu Hause würde er ein paar Tabletten einwerfen müssen. Dennoch war er froh, an der Luft gewesen zu sein. Mit Becky, die immer eine ganz besondere Zufriedenheit ausstrahlte, eine Glückseligkeit, einfach bei ihm sein zu können.

Dann kam er an dem Wohnhaus vorbei, in dem dieses blonde Mädchen wohnte, das er manchmal auf der Straße traf. Ein nettes Ding, vielleicht 18, 19 Jahre alt. Wenn er nur fünfzig Jahre jünger und die Erinnerung an Marion nicht gewesen wäre – sie hätte ihm schon gefallen können, dachte er, und musste lächeln. Damals, als er noch jung und stark gewesen war. Zu einer Zeit, als Männer noch Hüte trugen.

Neugierig schaute er an der Fassade hoch. Hell erleuchtete Fenster, hinter denen Familien im Geborgenen saßen. Männer und Frauen und sicher auch ein paar einsam Gestrandete wie er. Dann senkte er den Blick wieder auf die Straße, den Bürgersteig – und das parkende Auto, das nicht hierhin gehörte. Jupp kannte jeden Wagen aus der Nachbarschaft. Früher waren Autos sein Steckenpferd gewesen, aber dieses war ihm neu. Er wusste nur, dass es irgendein ausländisches Modell sein musste.

Vielleicht wäre er dennoch einfach an dem Wagen vorbeigegangen, doch dann fiel ihm der dunkel gekleidete Mann auf, der hinter dem Lenkrad saß. Sein Gesicht konnte er nicht erkennen, dafür war das Licht der Straßenlaternen zu schwach. Vielleicht war es nur jemand, der auf seine Freundin wartete, vielleicht auch ein müder Autofahrer, der einfach eine Pause brauchte.

Aber Jupp entstammte einer Zeit, in der man sich noch um seine Mitmenschen gekümmert hatte. Also trat er an das Fahrzeug und klopfte gegen die Seitenscheibe. Dabei fiel sein Blick auf den Beifahrersitz und das darauf liegende Stück Stoff, das ihn bis auf die dunkle Farbe an die Kopfbedeckungen erinnerte, die sie immer in diesen Ku-Klux-Klan-Filmen trugen.

Merkwürdig.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er den Unbekannten freundlich durch die immer noch geschlossene Scheibe. „Haben Sie sich verfahren?“

Erst jetzt reagierte der Mann. Er ließ die Seitenscheibe ein Stück nach unten und sagte, dass alles okay sei. Er habe nur kurz telefonieren müssen.

Jupp hob die Hand, um zu signalisieren, dass er alles verstanden hatte, während sein Blick abermals auf die Maske fiel. Der Fremde folgte der Richtung seiner Augen. Hob anschließend den Kopf, lächelte und öffnete die Tür. „Vielleicht können Sie mir ja doch helfen“, sagte er und stieg aus.

Becky gab ein jaulendes Geräusch von sich und begann, an der Leine zu zerren. „Was ist denn los, altes Mädchen?“, fragte Jupp beruhigend, bückte sich und nahm sie auf den Arm. „Du brauchst doch vor dem Mann keine Angst haben, hm?“

Während er auf den Hund einredete, war der Fremde nähergekommen. Jupp hob den Kopf und wusste sofort Bescheid, als er das Messer in der Hand des Unbekannten sah. Er stolperte zwei Schritte zurück, öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. Stattdessen spürte er, wie er sich vor Angst bepisste. Es war wahrscheinlich über siebzig Jahre her, dass er sich zuletzt nass gemacht hatte, aber er erinnerte sich umgehend an dieses lange vergangene Gefühl von Wut und Scham, als der Urin warm an seinen Beinen herablief.

Er drückte den zitternden Hund an sich, weil er nicht wollte, dass das Tier es sah. Ein Teil von ihm wusste, wie albern das war, aber Becky war das Letzte, was ihm von Marion geblieben war. Sie hatte den Hund geliebt, der Hund liebte ihn, und er war doch nichts weiter als ein winziges Wesen aus Haut und Knochen. Und während Jupp noch an Marions Gesicht dachte, rammte der Fremde ihm das Messer in den Bauch.

Nachdem er den Alten getötet hatte, schaute der Killer sich um. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen, und auch an den Fenstern ließ sich niemand blicken. Nichts war zu hören, außer dem penetranten Kläffen des dämlichen Köters.

Er ging in die Knie, packte die Leine des Hundes, zog das sich wehrende Tier zu sich heran und nahm es auf den Arm. Er spürte, wie der erstaunlich leichte Körper unter seinen Händen zitterte.

„Was haben wir denn da?“, fragte er in affektiertem Tonfall. „So ein kleines Hundi ganz ohne Herrchen?“

Während er auf den Cocker Spaniel einredete, kraulte er ihn unter der Schnauze. Der Hund versuchte, mit seinen altersgelben Zähnen nach ihm zu schnappen und verfehlte ihn nur knapp.

Elender Drecksköter, dachte er, während die Wut in ihm aufstieg wie kochende Lava. Er packte den Hals des Tieres mit der einen und die Hüfte mit der anderen Hand, drückte zu und drehte, als wolle er einen Putzlappen auswringen. Der Cocker Spaniel jaulte kurz und schrill, als seine Wirbelsäule brach. Dann wurde der kleine Körper schlaff.

Angewidert schleuderte er das leblose Tier von sich. Es landete vor dem Eingang des Hauses, das er den Abend über beobachtet hatte. Erneut vergewisserte er sich, dass niemand ihn gesehen hatte, bevor er wieder in seinen Wagen stieg, den Motor anließ und langsam in die Nacht hinaus fuhr.

*

In dieser Nacht hatte Brock schlecht geschlafen. Er hatte wieder von Kathrin geträumt, seiner Frau, die mit 26 Jahren gestorben war, als er mit ihr in den Staaten lebte. Leukämie, hatten die Ärzte gesagt. Metastasen überall; nicht mehr operierbar. Vier Monate waren ihnen von der Diagnose bis zum schmerzerfüllten Ende geblieben – viel zu wenig Zeit.

Wie so oft in seinen Träumen hatte sie auch in dieser Nacht wieder an seinem Bett gesessen und mit ihm gesprochen.

„Als wir noch ganz jung waren“, sagte sie, „und du gerade beim LKA angefangen hattest, bist du in diese Wohnung gegangen. Ein junges Paar lag dort auf dem Bett. Nackt. Von Messerstichen übersät.“

„Ich erinnere mich.“

„Wir haben damals in Bayenthal gewohnt, in dieser kleinen Wohnung neben der Brauerei. Sie war so hellhörig, dass man jedes Mal alles mitbekam, wenn der Nachbar aufs Klo ging.“

Er lächelte traurig, als er daran zurückdachte.

„Du kamst rein und hast dich auf die Bettkante gesetzt. Ich habe dir zugesehen, wie du in einer Viertelstunde eine halbe Flasche Rum getrunken hast. Du hast geweint.“

„Es war traurig.“

„Ich weiß, dass es traurig war, aber das war nicht der Grund, warum du getrunken hast. Du warst sauer. Sauer auf diese Polizisten vor Ort, die dir nicht glauben wollten, dass es ein Triebtäter war, der nach dieser Tat nicht aufhören würde. Und du warst wütend auf dich selbst, weil du ihnen nicht deutlich genug die Meinung gesagt hattest.“

Brock zuckte mit den Schultern. „Ich war jung.“

„Damals hast du davon gesprochen, die Polizei wieder zu verlassen und stattdessen eine private Praxis zu eröffnen. Du konntest nicht damit leben, dass nicht du es bist, der die Richtung der Ermittlungen vorgibt. Du hättest es tun können. Aussteigen. Dein Erbe gab dir alle Möglichkeiten dazu.“

„Ich weiß.“

„Aber du hast es nicht getan.“

„Ich weiß.“

„Und du wirst es auch nie tun. Du wirst immer weitermachen – selbst, wenn es dich umbringt.“

Darauf antwortete er nicht. Wie könnte er?

Kathrin strich ihm über den Kopf und sagte irgendetwas, das er nicht mehr verstand, dann verblasste ihr Bild. Er schrie, um sie zurückzuhalten. So lange, bis er von seinem eigenen Schrei wach wurde.

*

„Wenn das stimmt, ist es eine Katastrophe“, tobte Thomas Werner, „eine gottverdammte Katastrophe!“

Eva war sich nicht sicher, was der Leiter der Mordkommission damit meinte: Seine hysterische Reaktion auf Brocks Verdacht oder der auf sie zukommende Medienrummel, wenn er sich bestätigen sollte.

Gemeinsam mit dem Fallanalytiker und ihrem Kollegen Oliver Lamprecht saß sie nun schon Ewigkeiten in Werners Büro und musste ihre Zeit damit verschwenden, sich seine Wuttiraden anzuhören. Ihr Vorgesetzter tat fast so, als wenn der Killer die Morde nur begangen hätte, um ihm persönlich zu schaden. Um seinen guten Ruf zu ruinieren, indem er das letzte Pärchen ausgerechnet in seinem Zuständigkeitsbereich umgebracht hatte.

„Aber vielleicht irren Sie sich ja“, sagte er zum wiederholten Male in Brocks Richtung. „Ich meine, bis jetzt ist das ja nur eine Theorie, nichts weiter. Die Daten stimmen nicht überein, das Alter der Opfer passt nicht – vielleicht sind die anderen Übereinstimmungen ja lediglich blöde Zufälle.“

„Ich irre mich nicht“, entgegnete Brock. „In ein paar Tagen werden Zeitungen Briefe von dem Täter erhalten. Bei dem nächsten Doppelmord wird er eine Nachricht hinterlassen. Wenn Sie mir nicht glauben – warten Sie‘s ab!“

Werners ansonsten eher farbloses Gesicht nahm einen hektischen Rotton an. „Wir warten hier gar nichts ab“, stieß er hervor. „Ich will, dass sofort eine Sonderkommission gegründet wird, die mit anderen Dienststellen zusammenarbeitet. Ich will, dass ihr der erfahrenste Beamte vorsteht, den wir haben. Ich will, dass alles verfügbare Personal auf den Fall angesetzt wird. Haben wir uns verstanden?“

Der letzte Satz ging in Evas Richtung, aber es war Brock, der darauf antwortete.

„Das wollen Sie nicht.“

„Wie bitte?“

„Diese Reaktion hat es im Fall des echten Zodiac in den USA auch gegeben. Drei verschiedene Countys waren involviert. Über die Jahre gesehen ein Dutzend Ermittler mit ihren Teams. Akten, die ganze Räume füllten. Unmengen von Spuren, die irgendwann kein Mensch mehr auswerten konnte. Ich bin überzeugt, dass sich die wahre Identität des Killers darunter verbarg, aber niemand mehr in der Lage war, sie inmitten der Berge von nutzlosem Material zu finden. Dazu kamen die üblichen Probleme bei personalintensiven Ermittlungen: Kompetenzgerangel, Egotrips und ein mangelhafter Austausch an Informationen. Es waren einfach zu viele Köche für zu wenig Brei.“

„Und was schlagen Sie stattdessen vor?“

„Eine kleine, effektive Ermittlungsgruppe, die alle Fäden in der Hand hält und von anderen Beamten unterstützt wird, wenn personalintensive Dinge wie beispielsweise Haustürbefragungen anstehen.“

Der Leiter der Mordkommission stieß schnaufend die Luft aus. „Ihnen ist klar, wie das aussieht, wenn wir so vorgehen und den Mörder dann nicht fangen?“

„Wir stehen dumm da. Aber das tun wir immer, wenn wir erfolglos sind.“

Werner marschierte im Zimmer auf und ab, während er sich mit der Hand über den Nacken rieb. Dann fragte er: „Wie viel Zeit haben wir, bis der Killer wieder zuschlägt?“

„Das kann ich nicht sagen“, antwortete Brock. „Wie Sie schon richtig festgestellt haben: Er hält sich nicht strikt an den Zeitplan der Zodiac-Morde.“

„Wissen wir denn gar nichts?“

„Doch. Es wird wieder ein junges Pärchen sein. Der Anschlag wird in den frühen Abendstunden an einem See stattfinden. Diesmal wird der Mörder bei der Tat ein Messer benutzen und anschließend eine Botschaft hinterlassen.“

„Prima“, sagte Werner. „Mit diesen unglaublich detaillierten Informationen sollte es doch ein Leichtes sein, ihn zu fassen.“

„Wenn Sie mich fragen - ich stimme Brocks Argumenten zu“, schaltete Eva sich ein. „Lassen Sie die Truppe vorerst zusammen, wie sie ist. Vertrauen Sie mir … uns, meine ich. Bitte!“

Er kämpfte ein paar Sekunden mit sich, dann gab Werner nach. „Einverstanden. Ich gebe Ihnen noch Zeit bis zum nächsten Anschlag – und bete zu Gott, dass Sie ihn verhindern mögen! Aber wenn der Mörder erneut zuschlägt, wenn es wieder Opfer gibt, muss ich handeln. Das verstehen doch sicher alle hier, oder?“

Eva nickte, Oliver ebenso. Als sie aufstanden, um das Büro zu verlassen, stießen sie und Brock kurz mit den Schultern zusammen. Sie lächelte. Er grinste. Zum ersten Mal fühlte es sich an, als seien sie wirklich ein Team.

Eva war klar, dass Brock ihr gerade den Hintern gerettet hatte. Ohne seine Fürsprache wäre sie jetzt als Leiterin abgelöst worden und das wollte sie um alles in der Welt verhindern. Nicht, weil sie sich von der Ergreifung des Mörders einen Karriereschub versprochen hätte, sondern weil sie es sein wollte, die dem Schwein Handschellen anlegte. Sie wollte dem Mann bei der Verhaftung in die Augen schauen, der diese jungen Menschen getötet hatte – und der noch immer nicht bereit war, mit dem Morden aufzuhören.

Als sie wieder auf dem Flur standen, sagte Brock: „Ich würde Sie beide gerne zu mir nach Hause einladen. Morgen Abend, 20 Uhr?“

Lamprecht nickte. „Das klingt gut! Gibt es denn einen besonderen Grund dafür?“

„Ich möchte Ihnen alles über den dritten Anschlag des Zodiac im September 1969 erzählen. Unser heutiger Täter orientiert sich an dessen Taten, und wenn wir ihn fassen wollen, müssen wir uns zuerst seinem historischen Vorbild nähern. Wir müssen in die damalige Zeit eintauchen und uns die Geschehnisse so präsent machen, als hätten wir sie selbst erlebt. Das Verständnis des damaligen Zodiac wird uns auf die Spur des heutigen bringen. Sind Sie dazu bereit?“

Eva nickte.

Die Jagd konnte beginnen.

Ende Teil 1

Weitere Informationen zu Autor, Buch sowie Hintergrund- & Recherchematerial

zum wahren Zodiac gibt es auf: www.die-akte-zodiac.de sowie auf: www.facebook.com/AkteZodiac und www.facebook.com/Linus-Geschke.

Die Akte Zodiac - Gesamtausgabe

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