Читать книгу Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen - Страница 4
ОглавлениеKopenhagen 1989
In seinem Fernseher sind Menschen auf die Mauer geklettert. Sie stehen in Gruppen dort oben und sie umarmen sich, rufen und singen. Selbst sitzt er sicher auf seinem dänischen Sofa und sieht zu, wie sie auf die andere Seite der Mauer klettern und mit Hacken auf den Beton losgehen, bald sind dort Löcher, bald strömen Hunderte von Menschen in beide Richtungen und niemand hält sie auf. Alle Fernsehnachrichten berichten davon und die Sprecher geraten bei jedem Stückchen Mauer, mit dem jemand vor der Kamera herum winkt, vor Begeisterung mehr und mehr außer Atem. All die Gesichter, die herangezoomt werden, sehen betrunken aus, als ob sich eine ganze Nation entschieden hat, sich zu betrinken. Fünf in einem kollektiven Rausch gerade sein zu lassen und nicht an den morgigen Tag zu denken.
Das Bier in seinem eigenen Glas auf dem Sofatisch wird lauwarm, während er das anstarrt, was wie ein Spielfilm aussieht, das Werk eines Träumers, aber wie ihm die eifrigen Sprecherstimmen versichern, die mehr und mehr wie Sportjournalisten klingen, die leibhaftige Wirklichkeit ist.
Er könnte runter in den Weinkeller gehen, sich in den Zigarettenrauch setzen und mit den anderen Stammgästen einige Worte wechseln, du bist doch Deutscher, ist es nicht so? Deutschtum öffnet hier in diesem Land keine Türen, aber als Flüchtling des Kommunismus hat man irgendwie eine Aura und es ist nicht undenkbar, dass jemand einem ein Bier ausgeben will, um zu feiern, dass er zum Schluss recht bekommen hat.
Der, der zuletzt lacht. Aber er lacht nicht. Die Tränen strömen die Wangen herunter und er macht sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie laufen und laufen und tropfen auf den Pullover, legen sich als ebenso viele Tautropfen auf die blaue Wolle. Blau ist seine Farbe, die Frauen, die über die Jahre sein Bett passiert haben, bemerken das. Du gehst immer in Blau, sagen sie. Nie etwas anderes, willst du es nicht mal mit schwarz versuchen oder grau oder direkt rot? Im Schrank hängen oder liegen sie, Jeans, Cordhosen, Pullover, Hemden und T-Shirts, alle zusammen blau.
Seit dreißig Jahren sucht er nach dem richtigen Farbton, ohne ihn zu finden. Das eine Mal, als er in Paris war, ging er zu dem Geschäft, wo sie das Hemd für ihn gekauft hatte, aber es war weg, ersetzt durch ein Eiscafé.
Kein Hemd saß wie dieses. Kein Hemd wurde wie dieses geliebt, falls man ein Hemd lieben kann. Durch das Hemd liebte er sie, die es ihm gegeben hatte. Jedes Mal, wenn er es anzog, schwoll seine Hose an und er sehnte sich nach ihrem sehnigen Körper, ihrer rauen Leidenschaft und der Blase aus Lust, die ihr Zuhause war. Die Lust und die Gespräche, wenige Worte, viele Schichten, keiner von ihnen war geschwätzig, das Wesentliche wurde gesagt und lebte im Gehirn weiter, vibrierte im Magen, klingelte in den Ohren zwischen den kurzen Treffen. Sie war die Chefin, er der talentierte Bursche. Unbeliebt bei den anderen und er verstand nicht warum, bis sie es ihm erklärte. Er hatte die Rolle eines beliebten Kollegen übernommen, der wegen seiner Ansichten im Gefängnis gelandet war und wo stand er selbst und konnte man ihm vertrauen?
Wenn er zurückdenkt, ist es seine eigene Naivität, der er begegnet. In seiner Kindheit hatte er gelernt, dass die Dinge das waren, was sie zu sein schienen und er war nicht in der Lage, die einfachsten Phänomene zu durchschauen. Intrigen waren nur ein Wort, Machtspiele ein anderes und er begriff nie das, was zwischen den Zeilen stand und niemand erklärte es ihm, doch, sie tat es, aber nur, wenn es um die anderen ging. Was sie selbst hinter der Fassade dachte, was sie fühlte, über das hinaus, was man direkt bemerken konnte, wenn sie im selben Bett lagen, davon hatte er keine Ahnung.
Außerhalb ihrer Blase war die Landkarte weiß.
Das Hemd folgte ihm auf der Flucht, es war sein Siegeshemd. Ein Mann mit einem Hemd von dieser Qualität ist unverwundbar, kein Grenzbeamter kann etwas anderes tun, als ihn durchzulassen, bitte sehr, mein Herr, hier entlang zur Freiheit. Er hatte es im Kopf geübt, sich selbst Mal für Mal wie eine Schachfigur über die Grenze bewegt, hinüber auf die andere Seite und jetzt verlässt der Zug Maribor und genau hier kann es schiefgehen, aber das Timing stimmt. Es ist nach Mitternacht, genau wie es sein soll und der jugoslawische Grenzbeamte ist sehr schläfrig, wirft einen Blick in seinen Fremdenpass, den Pass, den er am Strand in Bulgarien von jemandem gekauft hatte, der eine Art Freund geworden war. Das Bild im Pass ähnelt ihm nur teilweise. Die Augen sind ok, das ist das Wichtigste und Leute rasieren sich den Schnurrbart ab, das ist normal. Im Theater hätten sie reagiert, falls er sich plötzlich Gesichtsbehaarung zugelegt hätte. Der Österreicher ist wacher, aber nicht so sehr, dass er den Pass in Frage stellt. Es ist einfach so, dass er das Visum in Beograd hätte beantragen sollen. Kehren Sie nach Beograd zurück, sagt der Beamte, der jung ist und einen Pickel auf der Nasenspitze hat, beantragen Sie ihr Visum dort, sagt er, aber der Zug dampft schon Richtung Wien. Er wiederholte seine Losung, er hatte geübt und das saß wie die Replik einer Rolle. Transit, sagte er, Transit, sehen Sie hier, die Fahrkarte ist eine Retourfahrkarte, ich muss mich um meine Arbeit kümmern, Opernsänger, sagt er, selbst der Beamte mit dem Pickel kannte die Oper in Berlin. Ein paar Tage in der Hauptstadt, eine Vorstellung ansehen. Von der Leitung geschickt, um eine Vorstellung anzusehen, ein mögliches Gastspiel und dann zurück. Transit.
Das Hemd beschützte ihn, oder so fühlte es sich zumindest an. Das Hemd erzählte ihm, dass alles möglich ist, man muss sich nur entschließen und eines Nachts war der Entschluss einfach da.
Hier kann ich nicht leben. Es war, als hörte er sich selbst die Worte sagen, aber zum Glück war er stumm. Wenn man Fluchtpläne hat, darf nicht einmal man selbst dies kennen, sagte sein bulgarischer Freund. Hat man Freunde, ist es ausgeschlossen, das mit ihnen zu diskutieren, es könnte sowohl einen selbst als auch sie in Gefahr bringen. Man kann nur hoffen, dass man nicht im Schlaf spricht. Das Sicherste ist, mit niemandem das Bett zu teilen, aber das war keine Option und in dieser Nacht schlief Eva mit dem Gesicht ihm zugewandt, ihr Mund war halb geöffnet und entließ blubbernde Laute. Er lag lange wach und betrachtete die Sommersprossen auf ihren glatten Wangen, betrachtete das rotblonde Haar, das von der nächtlichen Wärme feucht war und sich ein wenig kräuselte und er dachte, dass es leicht war, sie zu verlassen.
Es stand dasselbe in den Briefen, die er ihr und der anderen, sie, die etwas bedeutete, schickte: Es hat nichts mit dir zu tun, du hast keine Schuld. Vergib mir. Sicherheitshalber schickte er sie über den Freund in Bulgarien, ein Brief aus einem anderen Ostland hatte größere Chancen unbemerkt zu passieren. Keine von ihnen sollte wegen eines Briefes in Schwierigkeiten geraten, es war schon genug, dass sie mit einem Republikflüchtling näheren Kontakt hatten.
Eva verführte ihn zu einem Zeitpunkt, als er pflückreif, unglücklich, im Stich gelassen war. Von dem einen Tag auf den anderen war er Teil eines Paares, kein gut verborgenes Geheimnis und das war eine Art Erleichterung, aber ob er jemals in sie verliebt gewesen war, weiß er nicht einmal heute. Sie war eine Oberfläche und falls mehr darunter war, zeigte sie es nie, sie war ein Körper, bei dem man liegen konnte, dem man die Arme um die Schultern legen konnte, wenn sie nach der Vorstellung nach Hause gingen, neben dem man am Kantinentisch sitzen konnte. Sie war das Schmiermittel, das die anderen still und ruhig dazu brachte, ihn endlich zu akzeptieren und zusammen mit ihr wurde sein Unglück kleiner. Auf der Bühne konnte er gut mit ihr arbeiten, privat funktionierte es. Ein Surrogat, ganz sicher, aber effektiv und es könnte weiterhin so sein. Eine Art Leben, weder schlechter noch besser, als viele andere, wenn nicht jemand entschieden hätte, eine Mauer zu bauen.
Unter seinen Fenstern mischte ein ganzes Bataillon Arbeiter Zement, legte Mauerstein auf Mauerstein in rasendem Tempo, bis die Mauer so hoch war, dass man nicht über sie drüber klettern konnte und dann wurde sicherheitshalber Stacheldraht ausgerollt, weil sich die Leute an Laken herunterließen, Leute warfen Koffer raus und sich selbst hinterher. Seine Nachbarin, eine alte Frau, lag leblos dort unten, sie hatte gerade noch Kraft, eine Hand zu heben, als sie sie wegtrugen, aber er sah sie nie wieder und jemand sagte, sie sei im Krankenhaus gestorben. Dann mauerten sie die Fenster zu und die Türen, man musste durch den Hof reingehen und in diesen Tagen wurde das Gebäude in einen Käfig verwandelt und die Bewohner in Tiere, eingesperrt. Die, die nicht hinaussprangen und hofften, sie würden überleben und jemand auf der anderen Seite würde sie retten, zuckten mit den Schultern. Man gewöhnt sich daran, sagten sie, oder auch, dass es das war, was man erwarten konnte, wenn die Leute einfach aufbrachen und ihr Land verrieten, etwas musste ja geschehen, um den Strom aufzuhalten. Selbst sagte er nichts. Der Anblick der Mauer machte ihn stumm, stummer als der Löwe im zoologischen Garten, der hin und zurück wanderte, hin und zurück, ohne zu brüllen, aber drinnen in seinem Kopf arbeitete es und vielleicht arbeitet es ebenso im Kopf eines Löwen, dort drinnen im Käfig, ein einziger Gedanke, ich muss hier raus, koste es, was es wolle.
Die Wohnung war nicht länger seine als er aufbrach. Eines Tages kamen sie und baten ihn, seine Sachen zu entfernen und zu diesem Zeitpunkt war er zu stolz, sie um Hilfe zu bitten, die Chefin, er hatte angefangen, sie in seinem Kopf so zu nennen, und einen Schlafsaal mit anderen Obdachlosen zu teilen, kam nicht in Frage. Er saß mit Sack und Pack in der Kantine, als Eva sich anbot. Bis du etwas anderes findest, hieß es, aber sie wussten beide, dass das rein pro forma war, sie übernachteten sowieso schon bei dem anderen, wenn es ihnen passte, wieso also nicht zusammenziehen, wenn die Dinge jetzt waren, wie sie waren.
In dieser Nacht lag er mit offenen Augen und hämmerndem Herzen da und als die Sonne aufging, wusste er, was er zu tun hatte und auch wie. Als der Wecker klingelte, wachte Eva auf und lächelte ihn an, er erinnerte sich, dass er dachte, dass er sie vielleicht trotz allem vermissen würde. Aber als es soweit war, hinterließ sie nicht einmal eine Leere.
Der weiche Stoff des Hemdes beruhigte ihn auf der Reise. Erst viele Jahre später machte er daraus Putzlappen, es beschloss seine Tage in einer Holzkiste in Gesellschaft der Dose mit dem Lederfett. Während dieser Jahre trug er Stiefel aus Kernleder, wie alle anderen, die Stiefel waren das Einzige an ihm, was nicht blau war, selbst die Socken waren blau, Badehose, Wintermütze, Fäustlinge. Blau war eine Erinnerung an das Wichtigste in seinem Leben. Für andere hätte es als Parenthese verbleiben können, für ihn selbst zog es Grenzen. Zwischen dem Wesentlichen und dem, was er verlassen konnte.
Im Fernseher sprechen sie seine Sprache mit dem Berliner Akzent, den er nie hatte lernen können. Er hatte genug damit zu tun, seine ländlichen Betonungen zugunsten einer Theatersprache abzustellen, die von allen verstanden werden konnte, es sei denn, die Rolle forderte genau das, dass er wie ein Bauernrüpel klang.
Sie rufen immer noch hurra. Sie umarmen einander und lachen und weinen, Wunderkerzen versprühen ihre Funken, Leute trinken Sekt direkt aus der Flasche. Die Menschen auf der Mauer sind die Gischt auf einer Flutwelle, die alles auf ihrem Weg mit sich spült, Bürokraten, Polizisten, Schäferhunde, Generäle mit Lametta aus Orden auf der Brust und dieses Land dort hat nicht genug Sandsäcke, um sie zu stoppen, oder jemand hat heimlich und aus Protest die Sandsäcke mit Zucker gefüllt und der Zucker löst sich auf und verwandelt die Welle in Sirup, Tod durch Ertrinken in voller Süße für das sauerste Land der Welt.
Es klingelt an seiner Tür. Das passiert nicht oft, trotz all seiner Jahre im Land, hat er niemanden, den er einen Freund nennen könnte. In Dänemark gibt man vielleicht ein Bier aus und sitzt und schwatzt ein paar Stunden und danach passiert nichts weiter. Meistens ist es nur der Hausmeister, der an einem Hahn drehen oder einen Heizkörper entlüften muss, oder die Zeugen Jehovas, die ihn erlösen möchten. Ein seltenes Mal steht seine Nachbarin mit einem Schlüssel draußen und bittet ihn, die Topfpflanzen ein paar Tage zu gießen. Die Nachbarin ist eine knochige Frau in seinem Alter mit der Patina, die weibliche Alkoholiker nach vielen Jahren in Gesellschaft von Flaschen bekommen, eine grobe Haut, eine Schlaffheit unter den Augen, Haare, die nicht wie Haare aussehen, sondern wie die Füllung einer Matratze.
Ganz genau, sie ist es. Er hat sich die Augen auf dem Weg zur Tür getrocknet, der Fernseher lärmt weiterhin im Hintergrund. Dieses Mal sind es nicht die Topfpflanzen, um die es geht, sie hat eine beschlagene Flasche Schnaps in der Hand, Rød Ålborg, und zwei Gläser und sie lächelt mit ihren fleckigen Zähnen.
– Die Mauer fällt, sagt sie. – Das muss doch gefeiert werden.
Sie steht bereits im kleinen Flur und er kann sie riechen, eine Mischung aus altem Schnaps und dem schweren Parfüm, das sie über sich geschüttet haben muss, um das Schlimmste zu überdecken. Das Ergebnis lässt seinen Magen rumoren. Hinter ihm rufen die Fernsehstimmen, Stasi raus, Stasi raus. Sie haben zu der Demonstration im September geschaltet, wo das Ganze angefangen hat und er findet den Ausschalter und schaltet das Bild weg.
– Wir können es uns doch ansehen, sagt sie.
Auf der einen Seite wäre er gerne alleine, um das Ganze zu sehen, jede Sekunde in sich aufzusaugen, die Tränen strömen lassen, mit sich selbst reden, die Worte auf der Sprache sagen, die er verlassen hat, die aber immer noch irgendwo in ihm lebt. Auf der anderen Seite will er sie nicht bitten, zu gehen. Er weiß nicht, wann er sie mal brauchen könnte. Wenn man alleine lebt, weiß man nie, wann man plötzlich einen anderen Menschen braucht, er macht sich nichts anderes vor, auch wenn er sein Bestes gibt, zu vermeiden, andere als sich selbst zu brauchen. Einen Schnaps kann er annehmen, es muss hart sein, immer alleine zu trinken und sie hat ihm nichts getan, sie ist nie etwas anderes als freundlich ihm gegenüber gewesen.
Ihre Augen schwimmen als sie zum Sofa schwankt, aber ihre Hand ist sicher und verschüttet nicht einen Tropfen, als sie in die Gläser einschenkt. Die Bewegungen erinnern ihn an etwas, etwas Angenehmes, etwas, an das er sich erinnern will, aber erst als er mit ihr angestoßen hat und sie das erste Glas geleert haben und sie ah gesagt und mit der Zunge geschnalzt hat, wird das Bild deutlich, vom Marketender in dem Stück, das der Anfang von dem Ganzen war.
Mutter Courage zapft Bier von einem Hahn am Wagen und der kleine Schlag mit der Hand gegen den Hahn erzählt die ganze Geschichte, von einer Person, die ohne überflüssige Gesten zurechtkommt, jemandem, der jede Situation perfekt unter Kontrolle hat. Während der Proben saß er im Dunkeln und verschlang sie mit den Augen. Die Rolle war sie, sie war die Rolle, aber es konnte nicht die Rede von irgendeinem Hineinversetzen sein, ihre Arbeit war gründlich wie die eines Wissenschaftlers, jede Geste, jeder Tonfall wurde auf eine Goldwaage gelegt und war es das, dem er erlag, war es nur Bewunderung? Er hatte darüber gegrübelt, ohne die Antwort zu finden, bis er sich entschied, es ruhen zu lassen.
Die Frau auf dem Sofa neben ihm streckt die Hand nach der Flasche aus, die zu drei Vierteln voll ist. Alice heißt sie. Oder auch Annie, er ist sich nicht sicher. Es steht A. Madsen an der Tür und jetzt hat sie bereits noch einmal nachgeschenkt und wieder ist nichts verschüttet, die klare Flüssigkeit steht präzise bis zur Kante des Glases und es gelingt ihm nur mit Müh und Not, seins zum Mund zu führen, ohne dass es überschwappt. Ihr Trick ist, mit beiden Händen um das Glas zu greifen, aber nur mit den äußersten Fingerspitzen. Das sieht überlegen aus, raffiniert wie ein Taschenspielertrick, als sie die Flüssigkeit in den Mund kippt.
Nach dem dritten Glas schwirrt ihm leicht der Kopf. Gewöhnlich trinkt er ein Bier, höchstens zwei. Auf Tournee trinkt er nach der Vorstellung zusammen mit den anderen Technikern eins. Nicht weil er Lust dazu hat, sondern weil es sonst so aussähe, als würde er vornehm tun. Ein paar von ihnen wissen, dass er Schauspieler war und die Sache mit den Schauspielern ist heikel. Schauspieler interessieren sich nur für sich selbst, so wird unter den einfachen Arbeitern geredet. Im Gegensatz zu ihnen stehen die Techniker Schulter an Schulter, eine eng zusammengeschweißte Gruppe, einer für alle, alle für einen und keiner ist mehr als ein anderer. Dass die Gruppe ihre eigene innere Hierarchie hat und dass man einander in Schach hält, ist eine andere Sache, aber sollte er es vorziehen, mit den Schauspielern ein Bier zu trinken oder einen kleinen Nachtimbiss zu essen, würde das relative Wohlwollen, das er genießt, durch Hänselei und Hohn ersetzt und warum sollte er sich dem aussetzen?
Alice, oder ist es Annie, hat etwas gesagt. Nach fast dreißig Jahren hat er keine Probleme mit der Sprache, aber die Wörter bleiben schwebend in der Luft hängen und erreichen sein Gehirn nicht, sie hängen wie ein graubrauner Dunst vor seinen Augen. Bis sie sie wiederholt, einmal, zweimal, sie lacht und er sieht die braunfleckigen Zähne, das verhärmte Gesicht, die Lippen, über die sie die ganze Zeit leckt, sodass sie feucht glänzen und sie sagt etwas, aber er kann es nicht hören. Er sitzt in dem Gestank von altem und neuem Alkohol und schlechtem Parfüm und es heult in seinem Kopf, etwas heult da drinnen und übertönt alles andere, alle Gedanken, alle Wünsche.
Jetzt gehst du wohl zurück.
Sie hat die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt, wie eine andere einst die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hatte. Es ist eine freundliche Geste, oder vielleicht auch eine Einladung und er will sie nicht beleidigen, er könnte sie mal brauchen, er braucht sie, genau jetzt braucht er sie, um etwas auf Abstand zu halten und er verbirgt sein Gesicht an ihrer Schulter und küsst ihren schlaffen Hals, seine Hände suchen ihre Brüste unter der genoppten Strickjacke, sie trägt keinen BH, stellt er fest und sie zieht sich und ihm die Hosen aus und hilft ihm in sich rein, in eine überraschende Hitze und der Körper macht das, was er soll, während der Verstand in einer Welt auf Hochtouren arbeitet, die nichts mit dem, was auf dem Sofa geschieht, zu tun hat, und er kann es nicht stoppen. Die Worte hallen in seinem Kopf wider, in allen Tonarten, in einem pumpenden, unerbittlichen Rhythmus.
Jetzt gehst du wohl zurück.
Als es überstanden ist und sie wieder nebeneinander sitzen, vollständig angezogen, auf dem Sofa, dessen Kissen etwas flacher geworden sind, aber nicht zu flach, dass man so tun kann, als wäre nichts gewesen und sie jedem seinen Schnaps aus der Flasche eingegossen hat, die nicht mehr beschlagen ist, und sie angestoßen haben und sie ihn mit etwas anlächelt, das man mit ein wenig gutem Willen ein schelmisches Lächeln nennen könnte, weiß er es.
Der Weg ist vorgezeichnet, eine gerade Linie von jetzt bis damals. Was ihn dort erwartet, weiß er nicht. Nur, dass er es tun muss. Nicht jetzt. Wenn die Dinge zur Ruhe gekommen sind. Wenn der Tag kommt, da er keine Repressalien mehr fürchten muss, sagt er sich selbst und weiß, dass das eine schlechte Ausrede ist. Er könnte schon heute aufbrechen, hätte vor langer Zeit aufbrechen können, mit seiner neuen Staatsbürgerschaft, mit seinem dänischen Pass. Die Grenze ist in ihm selbst, es ist diese, die er übertreten muss, die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen vergessen und erinnern.
Nicht jetzt. Ein anderes Mal.
Er steht auf. Geht raus in das kleine Badezimmer, wo der Boden nach seinem Morgenbad immer noch nass ist. Jeden Morgen wischt er drüber und zieht die Fliesen mit dem Gummiabzieher ab, trotzdem wird es dort nie richtig trocken, bevor er wieder auf dem Weg ins Bett ist. Er pisst mit der Hand gegen die Wand gestützt, nicht weil er betrunken ist, sondern weil er sich kaum aufrechthalten kann.
Im Wohnzimmer hat sie die Beine unter sich gezogen, sitzt in der Sofaecke, als gehörte sie dorthin, aber jetzt will er alleine sein. Sie hat die Gläser wieder gefüllt, sie wartet auf ihn und falls er sie verletzt, ist da nichts zu machen. Er bleibt am Ende des Sofas stehen und nimmt sein Glas, leert es in einem schnellen Zug, so als hätte man es eilig aus einem schlechten Restaurant zu kommen.
– Danke für die Drinks, sagt er.
Es dauert einen Moment, bis sie es versteht. Dann steht sie auf, sammelt die Flasche und das Glas umständlich ein, bekommt sein Glas in die Hand, als sie auf dem Weg zur Tür an ihm vorbeigeht. Ihr enttäuschtes Gesicht erschwert es, sie einfach gehen zu lassen und er legt eine Hand auf ihren Arm.
– Danke für alles, sagt er.
Er begleitet sie raus. Hört, wie die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen wird und den harten Knall, als sie hinter ihr zufällt und vielleicht hat er sie beleidigt. Oder vielleicht hat er auch nur das getan, was sie von Männern erwartet und das nächste Mal, wenn sie es braucht, wird sie ihn bitten, ihre Topfpflanzen zu gießen, wie das Natürlichste auf der Welt. Er hofft es. Oder er weiß nicht, was er tut.
Es ist spät und unter normalen Umständen hätte er schon längst zu Abend gegessen, aber sein Magen, der bei der geringsten Ankündigung von Hunger in Alarmbereitschaft gerät, sendet keine Signale. Er nimmt die Leberpastete und ein Paket Vollkornbrot aus dem Kühlschrank und schmiert sich ein Brot, aber er hat keinen Appetit. Die Scheibe Roggenbrot liegt auf dem Schneidebrett neben dem Glas Rote Beete und sieht wie ein normales Butterbrot aus und er schafft es nicht einmal, es in Folie zu wickeln und es in den Kühlschrank zu legen, das sieht ihm nicht ähnlich.
Er ist zu müde, um müde zu sein und sich wieder vor den Fernseher zu setzen und zu sehen, wie seine Landsleute betrunkener und betrunkener und lauter und lauter werden, schafft er nicht. Draußen ist es nasskalt, ein strömend nasser, anthrazitgrauer Donnerstag, an dem ihn niemand erwartet. Die Tournee war am Wochenende zu Ende und die ersten Tage der Woche haben sie gebraucht, um aufzuräumen, die Dekoration auseinanderzupflücken und das, was nicht wieder verwendet werden kann, auf die Müllhalde zu bringen. Nun bummelt er bis Mitte nächster Woche die Zeit ab. Zeit abbummeln ist das Schlimmste, was er kennt, direkt nach Ferien und Feiertagen, wenn das Theater geschlossen hat und ihn niemand braucht.
Er geht am Weinkeller vorbei, wo die Leute zu diesem Zeitpunkt entweder leicht angetrunken und sentimental oder latent aggressiv sind oder dabei sind, sich zu entscheiden, nach Hause zu Frau und Fernseher zu gehen, bevor sie es werden.
Im Theater sind die heutigen Proben vorbei, die nächste Premiere ist am zweiten Weihnachtstag und erst am Montag beginnen die Abendproben. Die Fassade des viereckigen Gebäudes liegt im Dunkeln und er lässt sich durch die Kellertür rein und stellt den Alarm auf Null. Unten in der Teeküche der Techniker stehen die Becher noch auf dem Tisch, die Lampe der Kaffeemaschine leuchtet rot, nicht immer denkt jemand daran, sie auszustellen. Der letzte, bittere Kaffee füllt einen halben Becher und er verbrennt sich an ihm, ehe er ihn ins Waschbecken kippt, alle Becher abspült und sie ins Abtropfgestell stellt. Das Kalendermädchen an der Wand lächelt ihn an, sie hat eine Wichtelmütze auf und große Brüste und sie ist unter der Gürtellinie glattrasiert, es sieht aus, als hätte man einen erwachsenen Oberkörper auf den Unterleib eines kleinen Mädchens transplantiert, ein durch und durch missglücktes Experiment.
Der Aschenbecher ist wie gewöhnlich übervoll. Jeglicher Versuch hier unten ein Rauchverbot einzuführen, stößt auf die massivste Form zivilen Ungehorsams. Freie Menschen fordern freies Rauchen und solche wie er müssen sich einfach damit abfinden. Er findet sich damit ab, er hat nicht einmal Lust, sich zu beschweren, wenn sie im Tourneebus rauchen, er passt sich an, wie er es von Anfang an getan hat und warum sollte er das auch nicht? Er hatte es selbst entschieden, sein Land und die Karriere, die gerade aus den Startlöchern gekommen war, zu verlassen, er hatte sich entschieden, seine Sprache zu verlassen und was ist ein Schauspieler ohne Sprache, für etwas so abstraktes wie Freiheit. Die Freiheit zu denken, zu sagen, für die Partei zu stimmen, wie er Lust hat, mit der Gewissheit in eine Wahlkabine zu gehen, dass niemand erfahren wird, wo er sein Kreuz setzt. Freiheit, denen zu sagen, die es hören wollen, dass der Ministerpräsident einem Parfümhändler ähnelt und das Prinz Henrik schwul ist, welche Freude er auch daran haben sollte. Meinungsfreiheit heißt das und er schaut sich in dem unordentlichen Raum um und weiß, welche Gespräche bei Kaffee und Zigaretten geführt werden, beim Freitagsbier. Wozu die Meinungsfreiheit an diesem Theater gebraucht wird, in diesem Land.
Die Nationalhymne, die seine Kindheit und Jugend begleitet hat, hallt durch seinen Kopf und er nickt im Takt zu der schlechten Poesie, Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt Laß uns dir zum Guten dienen Deutschland, einig Vaterland!
Auferstanden aus Ruinen. Das war sein Land und es war nur Ärmel hochkrempeln und wegräumen und neu bauen. Für Frieden und Sozialismus, gegen Krieg und Nationalsozialismus. Er hörte den Lehrern zu, den Jugendleitern, all den Erwachsenen, die wie aus einem Mund sprachen und er glaubte, dass sie es so meinten. In der Tiefe seiner naiven Seele glaubte er an den faktisch existierenden Sozialismus. Glaubte daran, dass er Teil von etwas Wichtigem war und das alles nur besser und besser werden würde und dass das Theater ein Teil des Kampfes war. In der Amateurgruppe, in der er mit ein paar anderen aus der Fabrik begonnen hatte, stand er mit Menschen zusammen auf der Bühne, die dasselbe glaubten. Dass sie gemeinsam die Welt verändern könnten und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis alles besser werden würde. Bis alles gut werden würde.
Seine Mutter bekam im Textilkombinat Arbeit und nähte Hemden, das eine hässlicher als das andere, alle aus Kunststoff, der einen dazu brachte, nach wenigen Minuten aus allen Poren zu schwitzen. Sie kamen mit dem Lohn aus. Es gab auch nicht so viel zu kaufen, dass es etwas ausgemacht hätte und es gab viel, das umsonst war. Alle Frauen an den Nähmaschinen hatten ihre Männer verloren oder die Männer saßen zu Hause am Küchentisch und tranken und wurden innerlich von Verbitterung über ihr Schicksal und das eine Bein, das der Krieg ihnen gelassen hatte, zerfressen. Sein eigener Vater war eine schlanke Figur auf einem Bild. Die Uniform stand ihm und auch wenn das Bild in Schwarzweiß war, konnte man sehen, dass seine Augen trotz des schwarzen Haares, das unter der Mütze hervorschaute, blau und hell waren.
Seine Mutter kränkelte als er nach Berlin fuhr, aber solch eine Chance konnte er sich nicht entgehen lassen, das dachte sie auch. Einmal besuchte er sie, nachdem er umgezogen war und da hatte sich der Krebs bereits ausgebreitet, Lunge, Knochen, Leber und einen Monat später war Schluss. Er konnte sich nicht vorstellen, darum zu bitten, frei zu bekommen, um zu der Beerdigung zu gehen. Schauspieler nehmen sich nicht frei, nicht einmal, um auf die Beerdigungen ihrer Mütter zu gehen, niemand will eine abgesagte Vorstellung auf dem Gewissen haben. The show must go on. Die Worte dafür lernte er erst im Westen, aber sie sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen und seine Mutter war tot und es konnte ihr egal sein.
Was sollte er auch mit einer Mutter? Er war 20 Jahre alt und das Leben war ein Abenteuer, wie er, Tölpel-Hans, es auf seinem Ziegenbock durchritt und unterwegs nicht nur das halbe Königreich eroberte oder eine dämliche Prinzessin, sondern die Königin selbst. Ein übermütiger Bursche, der das Glück im Schoß der Angebeteten schmeckte und der dumm genug war zu glauben, dass es ewig anhalten würde, oder was ewig eben ist, wenn man 20 Jahre alt ist. Es wird ewig dauern, aber nicht auf die Art, wie er glaubte.
Im Pausenraum riecht es nach altem Tabak, Farbe und Fußschweiß. Ein halbleeres Buttertöpfchen, in dem ein Messer steckt, steht neben dem Waschbecken, wo jemand Pinsel ausgespült hat und vergessen hat, hinterher sauber zu machen. Er wischt die Flecken mit einer Handvoll Küchenpapier weg. Ganz oben in dem großen Mülleimer liegt das Endstück eines Weißbrotes und dann holt der Hunger ihn ein und er kann nicht hungrig sein, er kann nie hungrig sein. Hunger schmerzt, sodass er jedes Mal denkt, er habe ein Magengeschwür, dass er in einem Augenblick Blut spucken, verbluten und sterben würde. Er bürstet den Kaffeesatz vom Brot, schmiert Butter auf ein Stück und beißt ab. Noch eine dicke Scheibe, er kaut und schluckt. Er hatte Glück, dass es überhaupt etwas zu essen gab. Es gehört nicht mehr dazu, als dass er vor einer Blutabnahme nichts essen darf, bis das Wartezimmer mit seinen Menschen in dicken Jacken und mit besorgten Blicken verschwindet und er ist 30 Jahre jünger und steht auf einer Straße in Wien mit grummelndem Magen, die Fassaden der Geschäfte sind eine Reihe blinder Augen.
Es ist ein Feiertag, Allerheiligen, sagt der Junge, den er fragt, ein großer Bursche mit ernstem Gesicht und einem Strauß in der Hand, auf dem Weg zu einem Friedhof zusammen mit einem steten Strom in Pelz gekleideter Frauen, mit kleinen Kränzen, mit Blumensträußen. Feiertag, begreift er, bedeutet, dass alles geschlossen hat, dass er kein Geld wechseln kann, nichts zu essen kaufen kann. Der Magen schmerzt, aber sein kleines Kapital im Jackenfutter ist nutzlos. Er erbettelt die notwendigen Münzen bei einer Frau auf der Straße und sie bekommt Angst, als er fragt und gibt sie ihm aus Angst, nicht einmal seine blauen Augen sind eine Garantie dafür, dass er nicht zu Handgreiflichkeiten übergehen könnte.
Er ruft von einer Telefonzelle aus an und er hat mehr Glück, als Verstand. Sie, deren Telefonnummer er in seinem rechten Schuh versteckt hatte, muss zur Schicht, sie steht bereits mit dem einen Bein in der Tür, aber sie kann ihn nicht abweisen, nicht ihn, den sie kennt, seit sie Kinder waren und dieselben Fahnen geschwenkt haben und vielleicht wäre aus ihnen ein Paar geworden, sie gingen zusammen ins Kino und badeten im Fluss. Sie war mit ihrer Krankenschwesternausbildung in vollem Gang, als er nach Berlin zog und am Theater anfing und sie schrieben sich Briefe. Bis einer ihrer Briefe einen fremden Poststempel hatte. Da hörte es auf. Sie steht unten auf der Straße, als er ankommt, außer Atem, nachdem er nach ihren Anweisungen durch die Straßen gelaufen ist, aber glücklicherweise hat er nur seine Schultertasche, er wird ja bloß ein paar Tage weg sein, eine Vorstellung sehen und dann wieder zurück, das ist die Version, die er allmählich selbst zu glauben beginnt. Damals war sie mollig, ein Bauerntrampel mit Haut wie Sahne, jetzt ist ihr Gesicht trocken und bleich mit dunklen Ringen unter den müden Augen. Das Haar ist unter eine gestrickte Mütze geschoben und wenn sie zum Gesicht passen sollte, müsste sie grau sein und sie ist noch keine dreißig.
Schicht, sagt sie, Zusatzschicht, sie nimmt alles, was sie kriegen kann, besonders an den Feiertagen. Sie hat niemanden, mit dem sie einen Feiertag verbringen kann und sie braucht das Geld, die Wohnung ist teuer, das Essen ist viel teurer als zu Hause. Sie sagt zu Hause und eine Sekunde verschleiern sich ihre Augen, aber dann muss sie los und gibt ihm den Schlüssel, schlaf in meinem Bett sagt sie, ich komme erst Montagmorgen zurück, dann muss ich selber einen ganzen Tag schlafen. Ein schiefes Lächeln ist alles, was er von ihr bekommt, keine Umarmung. Sieht er aus, als hätte er eine Krankheit? Sein Magen knurrt, aber sie hat nichts von Essen gesagt. Oben in der Wohnung stinkt es nach Zigaretten, auf dem Küchentisch steht ein Aschenbecher mit kalten Stummeln und der Kühlschrank ist leer. Total leer. Nicht mal eine vergessene Karotte, kein Rest Milch in einer Flasche. Der Kühlschrank riecht nach Hunger und leeren Mägen und das war nicht wirklich das, was er sich vorgestellt hatte. In seiner Fantasie platzten alle westlichen Kühlschränke vor Essen.
Auf der Uhr an der Küchenwand ploppt sich der Zeiger weiter durch den letzten Tag im Oktober, einen Freitag. Am Montag kann er Geld wechseln. Am Montag kann er Essen bekommen. Jetzt kann er nur warten. Er packt seine schlaffe Tasche aus, legt die Sachen nebeneinander aufs Bett, das nicht gemacht ist und nach Körper riecht und da ist ein kleiner Blutfleck auf dem Laken. In der Innentasche der Tasche liegt eine Tafel Schokolade, die er in Belgrad für sein letztes Geld gekauft hat, bevor er sich wieder in den Zug setzte. Der Druck der vergangenen Stunden hat ihn dazu gebracht, die Schokolade zu vergessen. Jetzt bei ihrem Anblick treten ihm Tränen der Erleichterung in die Augen. Dunkle Schokolade mit Nüssen. Die Schokolade gibt dem Gehirn Zucker, die Nüsse geben ihm Nahrung, etwas mit dem er sich stärken kann. Er bricht zwei Vierecke ab und will sie in den Mund stecken. Dann überlegt er es sich anders und teilt das Stück, legt ein Viereck auf die Zunge und lässt es schmelzen, langsam, langsam, kaut auf den Nüssen, bis sie ganz aufgelöst sind, bevor er sie runterschluckt.
Die Heizung ist runtergedreht und es ist kalt in der Wohnung, aber er würde die Gastfreundschaft ausnutzen, würde er ihre Wärme nutzen, sie ist bestimmt teuer, wie alles, in diesem Land. Seine Zähne klappern, vor Kälte und weil sich die Spannung endlich löst. Hier wird niemand an die Tür klopfen und ihn mitschleppen oder das glaubt er, aber er kann nicht sicher sein, wie sollte er sicher sein können? Er kriecht vollständig angezogen unter die Decke, aber er friert immer noch und die Versuchung ist zu groß, ein Teil von ihm schwingt die Beine aus dem Bett auf den Boden und geht die paar Schritte zur gegenüberliegenden Wand und dreht den Knauf auf. Es plätschert vielversprechend in der schweren Heizung und er spürt, wie sich eine vorsichtige Wärme in dem massiven Eisen ausbreitet und auch wenn er den Knauf auf null zurückdrehen sollte, tut er es nicht. Das Bett wartet auf ihn und er wickelt die Decke um seinen zitternden Körper, schiebt das Kissen unter seinem Kopf zurecht. Sekunden später schläft er. Er wacht ein paar Mal im Laufe der Nacht auf, jemand ruft unten auf der Straße, ein Auto bremst, das Tor wird zugeworfen und er horcht auf die Schritte auf der Treppe, schwere Schritte, laute Stimmen, aber die Schritte halten nicht auf seiner Etage, sie gehen weiter und er isst das letzte Viereck der Schokolade und lässt den süßen Geschmack die Unruhe besänftigen, sodass er wieder zurück in den Dämmerschlaf gleiten kann.
Dann ist es plötzlich hell draußen vor dem Fenster und er sitzt auf einem Hocker in der eiskalten Küche. Er zwang sich, die Wärme auszustellen, irgendwo gibt es Grenzen und er trinkt ein Glas Wasser, das fünfte an diesem Morgen. Schaut auf die Uhr an der Wand, wo jede Sekunde eine Stunde dauert. Er zählt die Sekunden, die Minuten und bald wird er in der Botschaft stehen. Er wird nicht in Wien bleiben, er muss weiter und sein Magen grummelt und schreit und tut weh, aber in der Botschaft hören sie nur seine Sprache und glauben, er sei Österreicher, niemand will seinen Pass sehen und er geht hinaus in die Novemberkälte mit einem gestempelten Papier in der Hand und auf dem Papier steht sein Name.
In der Teeküche ist die Temperatur gefallen, die Nachtabsenkung ist effektiv, bemerkt er und die Zeiger der Uhr sind zu einem geworden. Viertel nach neun ist immer noch früh und er hat keine Lust zurück in die Wohnung zu gehen, wo er die Wahl hat, den Fernseher einzuschalten oder es zu lassen. Der Kaffee in der Dose duftet gut und er brüht sich eine Kanne auf, misst sorgfältig ab, Wasser und Kaffeepulver in den richtigen Mengen. Die anderen pfeffern einfach eine ordentliche Portion in den Filter, matschen mit Wasser, sodass die Küchenarbeitsplatte überschwemmt wird. Sie machen sich über seine Pedanterie lustig und er hat sich daran gewöhnt, der Ton zwischen den Leuten in diesem Land ist ironisch, man neckt einander und macht Witze und es wird laut über die Besonderheiten und Gewohnheiten der Leute gelacht, Spitznamen gehören zur Tagesordnung. Am Anfang hat es ihn gestört, dass er nie wusste, woran er bei den Leuten war, jetzt lässt er es abprallen, was bedeutet es schon, dass sie ihn Tante nennen, wenn es sie amüsiert, ist es ok für ihn.
Es wäre leichter gewesen, wenn er in Deutschland geblieben wäre, wie er es sich zuerst überlegt hatte. In Hamburg hätte er Hilfe bekommen können, die Adresse eines Praktikanten, der bei seiner letzten Vorstellung in Berlin Regieassistent gewesen war, stand auf der Rückseite des Zettels mit der Telefonnummer der Freundin.
Der Kaffee ist warm und schmeckt gut. Er ist es, der sich um die Kaffeekasse kümmert und er kauft nur den besten, etwas teureren, aber das ist es ihm wert. Er kostet jeden Schluck, als wäre er der letzte Kaffee, den er in diesem Leben bekommt, versucht sich auf den Kaffeegeschmack zu konzentrieren, aber ständig drängen sich Bilder auf.
Er steht auf dem Bahnsteig im Hamburger Hauptbahnhof mit seiner Tasche über der Schulter, auf westdeutschem Boden und er müsste nur ein paar Schritte gehen, ein Telefon finden und die Nummer auf dem Zettel anrufen, den er in der Zwischenzeit vom Schuh in die Hosentasche gesteckt hat, als sie ihm entgegen kommen. Zwei uniformierte Männer, breitschultrig, vielleicht sind sie bewaffnet, oder vielleicht sieht es auch nur so aus, sie gehen Seite an Seite und nehmen direkt Kurs auf ihn, in einem Augenblick erreichen sie ihn, drehen seine Arme auf den Rücken und ziehen ihn mit, wohin, weiß er nicht, aber er muss als Betrüger, der er ist, enttarnt sein. Der Fremdenpass liegt weiterhin in der Tasche, er ist unter falschen Voraussetzungen in das Land gekommen und wie soll er erklären, dass er, der am prestigeträchtigsten Theater seines Landes angestellt ist, dem Flaggschiff des Regimes, dem Stolz der Nation, sich hier mit dem Pass eines anderen Mannes in der Tasche befindet? Er könnte ein Spion sein, er könnte mit feindlichen Nachrichtendiensten unter einer Decke stecken und er könnte unter Gefängnisstrafe oder Ausweisung stehen und das eine ist nicht besser als das andere.
Bevor er es sich anders überlegen kann, steht er im Zug. Eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm hat sich auf seinen Platz gesetzt und er schlüpft in die nächste Toilette und schiebt den Riegel vor. Dort bleibt er stehen, bis er merkt, dass sich der Zug in Bewegung setzt und aus dem Bahnhof gleitet. Er reißt den Pass gründlich in Stücke, winzige Fetzen, die er in der Toilette verschwinden lässt, sieht sie auf die Gleise flattern und verschwinden. Seine Fahrkarte galt lediglich bis Hamburg, aber im besten Fall erkennt der Schaffner ihn wieder und erinnert sich nur, dass er die Fahrkarte kontrolliert hat. Im schlimmsten Fall ist es trotzdem nicht so schlimm, weil er Geld hat, um eine neue Karte zu bezahlen, jetzt kommt er zurecht, aber niemand fragt nach seiner Karte, niemand fragt überhaupt nach irgendetwas, nicht nach seinem Visum, nicht nach seinem Geld, nichts und dann ist er an der Grenze. Der dänischen Grenze, die nur ein Strich auf einer Landkarte ist, die aber nichts desto trotz eine Grenze ist, berechnet, um solche wie ihn zu stoppen. Er spürt, wie sich die Kälte über seinen Rücken ausbreitet und den festen Griff um den Nacken, als er die Stimmen auf dem Bahnsteig hört und die Schritte im Korridor, aber die Grenzbeamten gehen vorbei, er erhascht einen kleinen Blick auf sie und sie sehen freundlich aus, einer von ihnen lacht über etwas, das der andere sagt und der, der lacht, hat einen Vollbart. In dem Land, das er verlassen hat, sind die Leute in Uniform bartlos, ein Beamter mit Bart kann niemandem etwas Böses wollen und er entscheidet sich auf der Stelle. In diesem Land hier will er bleiben und er will sich einen Bart zulegen. Je früher, desto besser.
Auf der Bühne wird er nicht stehen können, nicht ohne Sprache, aber am Theater arbeiten kann er trotzdem, als Kulissenträger oder Techniker. In der Amateurtruppe machten alle alles Mögliche und es spielt keine Rolle, dass er von vorne beginnen muss, wie ein Kind. Ein Kind mit Vollbart. Der Gedanke lässt ihn lachen und das ist das erste Mal, seit er seine Zugfahrkarten gekauft hat, dass er sein eigenes Lachen hört. Vielleicht ist es in Wirklichkeit mehrere Monate her, dass er gelacht hat und das Lachen überrumpelt ihn, aber er kann es nicht zurückhalten. Eine ältere Frau sieht ihn aus ihrer Koupéecke missbilligend an, aber das Lachen ist zu stark, es brodelt hysterisch in seiner Kehle und je mehr er es zu unterdrücken versucht, umso mehr brodelt es. Bis es nicht mehr brodelt. Bis das Lachen kein Lachen mehr ist.
Seit er klein war, traten ihm schnell Tränen in die Augen. Zusammen mit ihr, die nie ganz aus seinem Kopf verschwunden ist, konnten die Tränen kommen, wann auch immer, und sie küsste sie weg, wiegte ihn in ihren Armen, in ihren schlanken, starken Armen, presste ihn an ihre Brust, als wollte sie ihn nie wieder loslassen, bis sie ihn losließ und er frei schwebte, bis er bei Eva landete, eine Zwischenstation, wo kein Platz für Tränen war, sondern nur für Zähne zusammenbeißen und versuchen, sie, die etwas bedeutete, zu vergessen. Eine Unmöglichkeit, wenn kein Tag verging, an dem er sie nicht sah, wenn alles um ihn herum an sie erinnerte, im Theater, in seiner Wohnung.
Die Kaffeekanne ist leer. Er spült sie und den Becher aus und stellt sie in das Gestell, vergewissert sich, dass das Licht überall aus ist. Draußen an der Kellertür stellt er den Alarm wieder an und hört, wie die schwere Tür hinter ihm zufällt, als er die Treppe hoch geht. Eine Prostituierte mit dunklem Teint geht an der Ecke zu seiner Straße an ihm vorbei, want fun, good price, aber er wird sich hüten, er hat noch nie für Sex bezahlt. Sein Bedarf hat auch mit den Jahren abgenommen und im schlimmsten Fall hat er seine rechte Hand, die weder ansteckend ist noch Ansprüche auf Nähe erhebt. Ob es Prostituierte in seinem alten Heimatland gab, weiß er nicht, das war nie aktuell. Hier gibt es viele von ihnen, in den Massagesalons in Kellern und geschlossenen Friseursalons und hier im Viertel stehen sie in ihren kurzen Röcken, dünnen Strümpfen und auf absurden Absätzen auf der Straße, ein paar von ihnen tauchen in regelmäßigen Abständen im Kellercafé auf, stehen plötzlich in der Tür und wenn kein Publikum dort ist, werden sie ins Warme gelassen. Sie frieren, haben einen blauen Fleck oder einen ausgeschlagenen Zahn vorzuzeigen, ihre Zuhälter halten sie an der kurzen Leine und sie haben keinen Ort, wo sie hingehen können, sie sind unter ständiger Kontrolle, nicht einmal ihr Geschlechtsorgan gehört ihnen. Tut ihr Verstand es?
Das war das Schlimmste. Nicht die Mauer, nicht die zugenagelten Fenster, sondern dass der eigene Verstand nicht einem selbst gehörte. Dass man ohne es zu wissen, ohne es bewusst zu wissen, irgendein Relais hinter der Stirn entwickelte, das an- oder ausging, wenn sich ein verbotener Gedanke meldete. Bevor er den Mund erreichte, bevor er den Bleistift in jemandes Hand erreichte.
Die Tür zur Wohnung klemmt leicht, das tut sie seit ein paar Wochen. Der November ist dieses Jahr feucht, es ist bestimmt deshalb, aber er will trotzdem mit dem Hausmeister darüber reden. Der Hausmeister hat seine Rolle zu spielen und wird es ihm übel nehmen, wenn er Werkzeug vom Theater mitnehmen und selber beginnen würde, daran herumzuwerkeln.
Das Brot mit Leberpastete liegt auf dem Schneidebrett, er verschlingt eine Scheibe Rote Bete und nimmt einen Bissen vom Butterbrot. Durch die Wand kann er den Fernseher der Nachbarin hören, ein Musikprogramm mit schweren Bässen lässt die dünne Wand vibrieren. Er sieht sie vor sich, das Glas und die Flasche stehen vor ihr auf dem Sofatisch, es ist nur noch ein Schlückchen übrig und sie döst leicht, oder vielleicht ist sie auch schon in diesen Zustand geglitten, in dem einen nichts erreicht. Keine Erinnerungen, nichts, was wehtut, er hat es ausprobiert, aber das ist nichts für ihn. Sein eigenes Mittel gegen die Erinnerungen ist, das Fahrrad zu nehmen und einfach dahinzurasen, bis er nicht mehr kann, es ist passiert, dass er in Helsingør oder Hundested gelandet ist, aber alles ist besser, als zu Hause zu sitzen und an das zu denken, was seit langem tot und begraben ist. Sein letztes Fahrrad wurde vor ein paar Tagen gestohlen, in dem Viertel hier gibt es einen schnellen Umschlag an Fahrrädern, aber er hat immer ein Fahrrad gehabt. In Berlin sparte er sich von seinem Lohn eines zusammen und kaufte das Beste, Diamant hieß es. Sein Herz blutete, als er es dem Praktikanten aus Hamburg verkaufte, aber von den D-Mark, die er im Gegenzug bekam, kaufte er die Zugfahrkarten für seine Flucht.
Als er sich damals in den Zug setzte, wusste er nicht, wie schwer es war, sich nicht umzusehen, aber nicht einmal in dem staubigen Lokal der Postsortierung, wo er die ersten Jahre arbeitete, entkam er dem. Die Briefe, die seine Hände passierten, hatten Poststempel und handgeschriebene Adressen, die an etwas erinnerten, selbst die Maschinenschrift ähnelte etwas, das er kannte. Die Studenten, die ihr Studium durch einen Zusatzjob bezahlten, gingen ins Theater und unterhielten sich über die Stücke, die sie gesehen hatten, Stücke, die er kannte und sie diskutierten Politik. Ein paar von ihnen glaubten an den Kommunismus und waren Mitglieder der Partei und er sah, wie ihre Augen leer wurden, wenn ihnen jemand widersprach. In ihren Augen war er ein Paria, ein Abtrünniger und sie mieden ihn, aber als sie allmählich ihre Examen gemacht hatten und ausgetauscht wurden, hörte er auf zu erzählen, wo er herkam. Sein Vorname konnte genauso gut dänisch sein und sein Akzent ist minimal. Wenn jemand fragte, war er Südschleswiger. Dänisch gesinnt, hörte er jemanden sagen, sodass er es durchblicken ließ und das war wichtig. Das gab ihm einen gewissen Status. Niemand erwartete, dass man etwas Privateres von sich erzählte, man schwatzte, erzählte Geschichten, zog sich gegenseitig auf. Das erste Mal, als er den Ausdruck hörte, dachte er, er hätte sich verhört, aber es stimmte, die Dänen sind ein unbekümmertes Volk. Sie, die er versuchte zu vergessen, hatte hier einige Jahre gelebt, als sie selbst auf der Flucht gewesen war. Dänemark ist ein Teddybär, sagte sie. Jetzt weiß er, dass sie recht hatte.
Der Kaffee vom Theater brennt in seinem Magen, das Herz hat es eilig in seiner Brust. Der Fernseher nebenan läuft immer noch, jetzt sind es Männerstimmen, die durcheinanderreden, und das Publikum lacht. Wie würde sie reagieren, wenn er bei ihr klopfte? Würde sie ihn hereinlassen, ihm eine Nacht in ihrem Bett anbieten, ihn hätscheln, bis er dem entkam, was ohrenbetäubend in seinem hellwachen Kopf polterte? Der Gedanke, was der Rest des Schnapses mit ihr gemacht hat, lässt ihn die Idee aufgeben.
Die Erinnerungen sind eine Infektion. Die Vergangenheit ist ein Entzündungszustand und gerade jetzt hat er keine Medizin dagegen.