Читать книгу Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen - Страница 6
ОглавлениеBerlin 1991
Wie ein Schlafwandler, er hat kein anderes Wort dafür. Schlafend und wach geht er durch die Straßen. Jede Straßenplatte, jede Fassade erzählt ihm den Weg, die Löcher im Asphalt sind seine Wegweiser.
Im Grunde ist nichts verändert. Oder alles ist es. So als käme er als der Bauernrüpel, der er damals war, in eine Großstadt, wo die Häuser größer als zu Hause in Cottbus waren und wo die Spuren nach dem Bombenregen am Ende des Krieges noch deutlich zu sehen waren. Jetzt sind dort weniger Einschlaglöcher in den Häuserreihen und es gibt überall Reklametafeln, aber im Bahnhof Friedrichstraße haben sie dieselben hohen Fenster, denselben abgenutzten Zement und er kann hier aus der S-Bahn steigen, sich ins Getümmel stürzen, über die Brücke gehen und niemand sein. Er ist ein anonymes Gesicht, das niemand nach all den Jahren wiedererkennen wird. Die Frauen tragen Absätze, die auf den Fliesen klappern, wie sie sie in dem Land haben, das seinen Pass ausgestellt hat, ihre Frisuren ähneln denen in seiner Straße in Kopenhagen, aber wenn er sich an die Seite stellt, um den Strom nicht zu stören, wenn er einen Augenblick stehenbleibt und die Augen schließt, brodelt es von einer anderen Art Stimmen. Kommt her, sagen sie. Das ist doch blöd, Mutti mag es nicht, entschuldigen Sie. Er kann die Repliken unterscheiden. Er könnte auf sie antworten, falls er wollte.
Ausländische Stimmen mischen sich in den Chor, ein amerikanischer Tourist dirigiert seine Frau, stell dich hier hin, wo du stehen sollst, ich mache jetzt ein Foto, ein türkischer Bursche, der seinen Kammeraden imponieren will, balanciert auf der Brücke, als ob der Fluss nicht existierte, nimmt den einen Schritt nach dem anderen, sicher wie ein Seiltänzer und vielleicht ist er hier in der Stadt geboren, vielleicht ist sein ganzes Leben ein Balanceakt zwischen dem, was er selbst denkt, was er ist und dem, was die anderen sehen. Er selbst hat keine Illusionen mehr von seiner Zugehörigkeit, Wurzeln hat er nie gehabt, keine alten, keine neuen, aber die Stadt nimmt ihn wie den Anzug auf, den er zu seiner Jugendweihe getragen hatte, was einer Konfirmation so wenig wie möglich gleichen sollte und die ihr, von Gott abgesehen, haargenau glich. Er war damals zu eng, er ist jetzt zu eng. Die Stadt ist ein gebrauchter Anzug, ein Paar ausgetretene Schuhe, aber sein Körper ist verändert und die Knöchel sitzen nicht mehr, wo sie saßen. Weder umarmt ihn die Stadt, noch verstößt sie ihn. Der Stadt ist er egal, das ist eine Erleichterung.
Er hat sich bereits entschieden. Drei Tage sind genug, im Hotel war es das, was er sagte. Drei Tage. Tourist, ein kurzer Trip, genau wie all die anderen Neugierigen, die hierhin gekommen sind, um an dem Aas von dem zu riechen, was einmal ein Staat gewesen war oder sich eingebildet hatte, einer zu sein. Es ist nie ein Staat gewesen, das weiß er jetzt. Es war ein Zustand. Eine kollektive Lähmung, die die elementarsten Mechanismen außer Kraft gesetzt hatte, effektiver als Polio, überwältigender als eine Gehirnblutung und warum sollte er massig Zeit darauf verwenden, die Todeskrämpfe zu betrachten, das wäre zu nichts nütze.
Jetzt gehst du wohl zurück, sagte seine Nachbarin und an diesem Tag weinte er bei dem Gedanken daran. Jetzt sind seine Augen trocken. Aber an einer Stelle in seiner Kehle, in seiner Brust, pumpt etwas und falls er es loslässt, weiß er nicht, was dann passieren wird. Bis auf Weiteres geht er einfach, wie er damals ging, er trottete über die Brücke mit seinem kleinen Ranzen auf dem Rücken, auf dem Weg in die Zukunft.
Das Schild am Eckturm des Theaters ist dasselbe, eleganter Funktionalismus, genau ausgesuchte Typografie, die in Kontrast zur bürgerlichen Schwere des Gebäudes stehen sollte, hier kommt das Moderne, die neue Zeit, der neue Stil. Damals verstand er nicht, was das bedeutete oder welches Signal es senden sollte. Er sah es nur und sah, dass hier sein neuer Platz war, wo er erwartet wurde und wenigstens im Prinzip willkommen war. Der Turmbalkon war der Ort, an dem sich Das Machtvolle Paar am ersten Mai fotografieren ließ, die Huldigung der Künste an das arbeitende Volk. Das Bild hatte er gesehen und er erwartete beinahe, dass sie dort stehen und ihm zuwinken würden. Der kleine Mann mit der Zigarre war ein Genie, das wusste er, er hatte in einem seiner Stücke eine Rolle gespielt, die genauso simpel wie kompliziert war. Über die Frau an seiner Seite sprach man mit Ehrfurcht, sie war die Modellschauspielerin, die erste Interpretin vom Werk des Mannes und er konnte es sich schwer vorstellen, dass sie ein lebender Mensch war. Sie sollte seine Chefin werden und er war bereit, sich unterzuordnen, sich anzupassen, zu tun, worum er gebeten wurde, er war kein Rebell. Er war ein pflichtbewusster Sohn und ein guter Arbeiter, der nicht zu viele Fragen stellte. Ein instinktiver Schauspieler, der eine Rolle genauso gut ausfüllte, wie jemand mit langer Ausbildung.
Der türkische Bursche ist von der Steinbalustrade gesprungen, er und seine Kammeraden tanzen davon, weiter die Straße hoch. Niemand ist in den Fluss gefallen, der träge unter ihm fließt. Der Fluss, der eine Art Sicherheit bedeutete, als er in der Stadt landete, sein Kindheitsfluss. Er steht am Ende der Brücke und eine schwache Brise weht ihm das Haar aus der Stirn und er ist wieder 20 Jahre alt. Ein junger Mann mit blauen Augen, der die Hände in die Taschen seiner plumpen Wisent-Jeans bohrt, die seine Mutter mit Personalrabatt gekauft hat und das Kinn reckt. Hier komme ich, sagt er zu dem, was sich links von der Brücke auftürmt, zu dem Schild am Dach. Gib mir eine Chance und ich nutze sie.
Um ihn herum ist die Stadt verstummt. In einer unendlichen Sekunde ist er weder dort noch hier, er befindet sich außerhalb der Zeit und in ihr. Er kann die Augen nicht von dem Schild nehmen und das Bild drängt sich auf. Von dem Paar, dem Mann mit der Zigarre, von ihr, und während er starrt, verschwimmt das Bild und nur sie bleibt übrig.
Vorsichtig, denkt er. Er muss vorsichtig vorgehen, einen Schritt nach dem anderen nehmen, einen Fuß vor den anderen setzen, sodass er nicht stolpert, sodass er nicht fällt und vielleicht ist es nicht so risikofrei, wie er es sich eingebildet hatte, als er aus dem Zug stieg und ein Drei-Tage-Tourist war, ein Ausländer auf einem Neugierde-Trip zu einem exotischen Ort, mitten in einem wohlbekannten Europa.
Links liegt es, das Theater. Es ist mitten in den Sommerferien und er läuft kaum ein größeres Risiko, jemanden zu treffen, den er kennt. Er kann ruhig dort rübergehen und einen Blick auf die Fassade und die Plakate werfen, die der vergangenen Saison oder der kommenden und dann einfach weiter seines Weges gehen, damit zufrieden, endlich den Schritt getan zu haben. Seinen Schrecken vor Grenzen überwunden zu haben und zurückgekehrt zu sein, einen Blick auf seinen alten Arbeitsplatz geworfen und konstatiert zu haben, dass er immer noch dort liegt und dass ihm das Wiedersehen nichts getan hat, weder Gutes noch Schlechtes.
Ein paar Männer auf Leitern sind dabei, die Reste des Repertoires des vergangenen Jahres aus den Rahmen an der Fassade zu entfernen. Die Rahmen sind größer, als zu seiner Zeit, wo man keine Werbung machen brauchte, sondern nur darauf warten konnte, dass die Betriebe Karten für ihre Angestellten bestellten. Sie hatten immer volles Haus. Die Arbeiter wurden mit Bussen zu den Vorstellungen gefahren, Studenten kamen in Gruppen, Gymnasiasten klassenweise, von Leitungen weggeschickt, die Wert darauf legten, ihnen die notwendige Dosis Kunst zu geben. Die Kunst war ein Teil der Erziehung und Werbung war unnötig und außerdem vulgär. Wenn er es nicht besser wüsste, könnte er es als etwas Positives sehen, eine Gesellschaft, die auf Qualität setzte und daran glaubte, dass man nicht zu billigen Mitteln und geschmackloser Manipulation greifen musste, um das Volk dazu zu bewegen, das Richtige zu wählen.
Die Schranke zum Hof ist unten und der Glaskasten des Pförtners ist leer. Ein Aushang am Fenster teilt mit, dass die, die ihre Garderobe nicht vor der Renovierung geleert haben, ihre Sachen in der Kantine abholen können. Werktags zwischen zwölf und eins. Er hat nichts, was er abholen soll. Trotzdem geht er schräg über den Hof, wie er es schon Hunderte Male getan hat, vorbei an einem Schild an der alten Lagerhalle. Probebühne. Es riecht nach Experiment, aber die Plakatreste neben der Tür erzählen von einem Stück, das sein eigenes Theater in der vergangenen Saison hinaus ins Land auf Tournee geschickt hatte und für Provinztourneen nimmt man Stücke, die niemanden beleidigen. Im Übrigen ist der Hof ganz der Alte mit Holzstapeln und Haufen von Metallrohren, die darauf warten, reingetragen und von kundigen Händen in Versatzstücke verwandelt zu werden. Hände wie seine eigenen. Gebt ihm einen Hammer in die Hand und er wird genauso leise seinen Platz finden, in den Rhythmus der Arbeit hineingleiten, hier wie dort.
Die Tür zur Kellerkantine knirscht, nichts Neues hier. In einem Theater macht man Vorstellungen, niemand denkt daran, einer Tür einen Tropfen Öl zu geben, wenn die Premiere kurz bevorsteht und wann tut sie es nicht? Es ist dunkel in dem Raum mit der niedrigen Decke, wo die zerschrammten Tische stehen, wo sie gestanden haben, aber wo die Wand hinter der Theke jetzt mit einer großen, schwarzen Tafel verkleidet ist. Wie eine der Schiefertafeln, auf die er in der Schule geschrieben hatte und die jetzt die Wände in Cafés mit französischen Namen in Kopenhagen bedecken. Es riecht nach Essen, die Kantine muss für die Handwerker geöffnet bleiben, die an der Renovierung arbeiten und im nächsten Augenblick kommen sie die Treppe herunter. Im nächsten Augenblick taucht das Kantinenpersonal auf und wundert sich, wer er ist und was er dort tut. Trotzdem bleibt er dort stehen und dann ist er nicht mehr länger ein Schlafwandler. Er ist wach und es ist zu spät, um zu flüchten.
Sie hatte ihren festen Platz am Tisch links neben der Tür. Alle mussten an ihm vorbei, niemand entkam ihrem Blick, wohlwollend oder prüfend, missbilligend oder aufmunternd. Ihre Augen waren überall, der, der über den Hof ging, konnte vom Fenster ihres Büros aus angerufen werden, komm direkt mal hoch, nur fünf Minuten. Die anderen redeten darüber. Selbst wurde er nie hochgerufen und in der Kantine ging er einfach vorbei und bekam ein Lächeln, ein Nicken, das war alles. Trotzdem dachte er jedes Mal, dass alle es sehen können mussten. Genauso deutlich, als würden sie nackt bei voller Beleuchtung mitten auf der Bühne stehen.
Der schwere Tragpfeiler in der Mitte des Lokals versteckt den Tisch, der während der Zeit, als seine Kollegen nichts von ihm wissen wollten, sein bevorzugter Platz war. Dort aß er sein Essen, während er den Anstrich auf dem Mauerwerk anguckte, bis er jede Ritze, jeden abgeblätterten Fleck auswendig kannte. Niemand setzte sich auf den Stuhl gegenüber, niemand wandte sich an ihn, es war ein einsamer Ort. Das hätte jeden dazu bringen können, den Appetit zu verlieren, aber dort am Tisch links neben dem Eingang saß sie, sein Geheimnis und strahlte.
Er will wieder auf dem Stuhl sitzen. Sich erinnern, wie es war und spüren, dass es ihm nichts ausmacht. Dass nichts Einschüchterndes daran ist, fremd zu sein und mit Misstrauen oder Gleichgültigkeit betrachtet zu werden. Es ist so, wie sein Leben gewesen ist und er hat es gemeistert, auch ohne Schaden zu nehmen. Aber der, der sein Stuhl war, ist nicht leer. Ein älterer Mann sitzt auf ihm. Seine breite, gewölbte Stirn und schmale untere Gesichtshälfte lassen ihn einem Widder ohne Horn ähneln. Er hebt den Blick von der Tischplatte.
In einer eiskalten Sekunde weiß er, wer das ist. Der Mann auf dem Stuhl ist der Einzige, den er jemals geschlagen hat. Zu Boden, darüber hinaus brauchte er Hilfe, um ihn wieder auf die Beine zu bekommen. Der Mann war betrunken und wütend und selbst heute ist er, ohne dass er weiß, warum, davon überzeugt, dass er keine Wahl hatte.
Waren sie Rivalen? Er weiß es nicht. Nur, dass der Mann auf dem Stuhl nach fünf Jahren Gefängnisstrafe wiedergekommen war und sein Recht eingefordert hatte. Am Theater war er nicht länger willkommen und Eva wollte nichts von ihm wissen. Das Verhältnis war kurz und stürmisch gewesen, einmal war sie gezwungen, ein blaues Auge zu überschminken, um auf die Bühne gehen zu können und jetzt war sie ja mit ihm zusammen.
Der Mann hat seinen Kopf gehoben. Damals hatte er begonnen dünnes Haar zu bekommen, jetzt ist sein nackter Scheitel eine blanke Halbkugel.
– Du, sagt er. – Bist du zurück im Schoß der Familie?
Seine Augen haben rote Ränder und sie sind weder feindlich noch das Gegenteil, nur müde. Als hätten sie das gesehen, was es wert war, gesehen zu werden und sich nun damit begnügt zu registrieren.
– Das kann man nicht sagen, sagt er. – Nur ein kurzer Besuch.
Tourist, denkt er. Auf frischer Tat ertappt. Man könnte glauben, ich käme zurück, um zu triumphieren, den Leuten mit meinem sorgfältig ausgesuchten Hemd und dem schicken Gürtel an meiner Designerjeans vor der Nase herumzuwedeln.
– Du bist davongekommen, sagt der Mann und jetzt erinnert er sich an seinen Namen. Uwe war es. Das hatte er verdrängt, wie so vieles andere.
– Du warst cleverer, als wir dachten.
– Ich bin zurechtgekommen.
Es poltert hinter ihnen, Stimmen und Schritte hallen zwischen den Wänden wider.
– Komm her.
Uwe steht auf und winkt ihn rüber zur Küchenluke. Sie stehen zuletzt in einer kleinen Schlange von Leuten in Arbeitskleidung und er will nicht unhöflich sein und nimmt das Tablett entgegen, das Uwe ihm reicht, Messer und Gabel, Glas, fischt zwei Servietten aus einem Halter und bemerkt Uwes ironische Grimasse. Die Frau in der Luke hat küchenfettiges Haar über den eingefallenen Wangen, denen nicht mal die Herdwärme Farbe zu geben vermochte. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie ein blühendes, rotwangiges Mädchen, immer gut für eine freche Bemerkung. Jetzt sind ihre Augen klein und desinteressiert, wie bei jemandem, der gerade aus einem schlechten Schlaf erwacht ist. Erst als Uwe seinen Namen sagt, blitzt etwas hinter ihren Brillengläsern auf und natürlich kann er mitessen, es ist genug für alle da, so war es damals, so ist es heute. Die besten Traditionen überleben und sie erinnern sich wohl alle an die guten, alten Tage. Damals als sie jung und faltenfrei waren, alle zusammen. Sie lacht ihm und Uwe zu. Ihr fehlen ein paar Backenzähne im Oberkiefer, aber ihre Freundlichkeit tut ihm gut.
Schweinsroulade. Rotkohl. Zwei massive Knödel und genug braune Sauce, um eine Ratte darin zu ertränken. Er kennt das alles, aber er hat seit Jahren nicht mehr so gegessen, gewöhnlich brät er sich einen Bissen Lachs oder ein Kotelett und isst einen ordentlichen Salat dazu, nimmt sich eine Schnitte Roggenbrot, wenn er keine Lust hat zu kochen.
Sie setzen sich an den Tisch und Uwe haut rein.
– Sie gibt mir immer eine Portion, wenn ich komme, sagt er zwischen zwei Bissen. – So bekomme ich am Tag etwas zu Essen.
Das Fleisch ist zäh wie Gummi, als wäre es einmal zu oft aufgewärmt worden, aber jetzt ist nicht der richtige Moment, wählerisch zu sein. Er sägt einen Happen von der Roulade ab und stopft ihn in den Mund. Sie essen in Schweigen, Uwe schlingt beharrlich weiter, kaut mit der einen Seite des Kiefers und spült mit Wasser nach. Hinterher stochert er in den Zähnen und wischt den Mund mit der Rückseite der Hand ab.
– Das Zahnfleisch, sagt er. – Die sagen, es verkommt, wenn man raucht. Ich habe jetzt aufgehört, aber es war wohl zu spät. Man glaubt ja, man wäre todkrank, wenn man Blut spuckt.
Er legt die Serviette über die Reste auf seinem Teller, beim letzten Knödel erreichte er seine Grenze. Jetzt will er einfach nur von dort verschwinden, aber Uwe hat andere Pläne. Irgendwie ist es auch so, als würde er Uwe etwas schulden. Seinen Nachmittag totschlagen, wenn es das ist, was verlangt wird und vielleicht kann Uwe einfach sein Fremdenführer zu der Verwandlung der Stadt sein. Für die Vergangenheit braucht er keinen Wegweiser, aber Uwe kann einen planlosen Nachmittag bestenfalls mit etwas Struktur versehen. Sie tragen ihre Tabletts zurück zur Luke, wo Hannelore sie entgegennimmt. Der Name ist aufgetaucht, ohne dass er sich anstrengen musste, der Name seiner Mutter, ein weiterer Grund, sie anzulächeln und er hat ihren Tag gerettet. Er ist eine Erinnerung an etwas Warmes und Sicheres, unproblematisch für den, der nicht zu viele Fragen stellt.
Uwes Gang ist von vielen Stopps geprägt. Ein Bein will nicht richtig mitkommen, aber er kaschiert es geschickt, verwendet die Pausen, um zu zeigen und zu erklären. Die Stadt ist niedergerissen und gleichzeitig wieder aufgebaut worden, sagt Uwe, neue Gebäude wachsen hervor, den Alten nehmen sich Bulldozer an, nicht zuletzt im Osten. Über ihren Köpfen schwingen Kräne wie futuristische Skulpturen, Denkmäler für etwas, das bald vergessen sein wird.
Sein altes Viertel riecht immer noch nach Armut, aber die Gesichter, die sie treffen, verraten ihm, dass sie sich nicht zufriedengegeben haben. Da ist Hunger in ihren Augen, nicht auf etwas zu Essen, im Großen und Ganzen auf alles andere, aber auch Hoffnung darauf, dass der Hunger eines Tages gestillt wird, in einer nicht allzu fernen Zukunft. Er weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Meistens gut, denkt er, Mangel und Entbehrung hat noch nie etwas Gutes mit den Leuten gemacht, aber Überfluss kann sie auf der anderen Seite dumm machen. Unterhaltungen über den unbelasteten Wert in den Wohnungen der Kollegen können eine unendliche Anzahl an Mittagspausen füllen und wenn er den Inhalt der Vorstellung diskutieren will, für die sie die Kulissen bauen, wird es still am Tisch.
Das Haus ist dasselbe geblieben, bis sie auf die andere Seite kommen und sehen, dass die Fassade zur Straße jetzt eine verputzte Mauer ist, deren einzige Guckaugen die kleinen Fenster im Treppenhaus sind. Das Fenster, das seins war, ist dort nicht mehr, nicht mal als ein zugemauerter Rahmen und das Licht, das sanfte Nachmittagslicht, das auf ihren nackten Körper fiel, wenn sie auf seinem Divan lag und auf ihn wartete, ist für immer ausgeschlossen. Warum man die schändlichen Mauersteine nicht weggehackt und die Fenster für das Licht geöffnet hat, begreift er nicht.
Das Treppenhaus ist hinter dem staubigen Fenster unverändert. Die karierten Fliesen haben eine gräuliche Patina bekommen, damals waren sie schwarz und dunkelgrün. Die Haustür ist verschlissen und hat dieselbe grüne Farbe wie damals, aber jetzt ist sie verschlossen und ein Schild mit Klingeln ist am Türrahmen festgeschraubt. Er erkennt keinen der Namen wieder, aber warum sollte er auch klingeln? Er hat dort drinnen nichts zu schaffen und erst recht nicht mit Uwe im Schlepptau. An ihre Schritte auf der Treppe, ihr schiefes Lächeln, wenn er die Tür öffnete, das Lächeln, das ihm vorbehalten war, ihre dunkle Stimme, die noch dunkler wurde, wenn sie alleine waren, erinnert er sich trotzdem.
– Ich habe hier gewohnt, sagt er zu Uwe. – Ein paar Jahre. Am Anfang.
Bevor du zurückgekommen bist. Das kann er nicht sagen, aber Uwes Gesicht verrät ihm, dass Uwe keine Probleme damit hat, seine Sätze zu vervollständigen. Überhaupt wirkt es, als wüsste Uwe etwas, was er nicht direkt zum Ausdruck bringt. Als besäße er Informationen, die ins Spiel gebracht werden, wenn die Situation danach ist. Nicht, dass es bedrohlich wirkt, aber es macht ihn unsicher und vielleicht ist das der Zweck.
Er beschließt, Uwe fallen zu lassen, sobald es möglich ist. Auf eine nette Art, niemand soll sagen können, dass er einen alten Kollegen anders als mit Respekt behandelt. Zum Mittagessen haben sie nur Wasser getrunken, aber jetzt braucht er ein Bier. Er kann ein Bier mit Uwe trinken und es damit gut sein lassen.
Die Kneipe an der Ecke ist bis zu einem gewissen Grad, der ans Parodistische grenzt, noch die Alte. Eine müde Girlande aus künstlichen Blumen an der Kante des Tresens ist das einzig Neue, alles andere ist genauso schmutzig braun, blank gescheuert und übelriechend wie damals. Der Barmann ist eine neuere Ausgabe des Alten, bis zu den Flecken unter den Armen des flimmernd gemusterten Hemdes.
Uwe hat sich schon an den Tisch in der Ecke gesetzt, selbst ist er am Tresen geblieben. Er bezahlt für ihr Fassbier und das ist ok. Er ist nicht der reiche Onkel, der sich zeigt und aus dem man so viel wie möglich presst, er ist nur ein alter Kumpan, der an der Reihe war, die nächste Runde zu schmeißen.
Eva und er saßen am letzten Abend an diesem Tisch. Die Zugtickets waren in seiner Tasche, die Schultertasche hatte er bei der Pförtnerin im Theater abgestellt und die Pförtnerin war dafür bekannt, keine Fragen zu stellen. Die Leute parkten ihre Kinder bei ihr, wenn sie krank waren, sie vermittelte Tauschgeschäfte und tröstete den, der es nach einem Fiasko brauchte und mischte sich ansonsten nicht ein. Eva hatte er gesagt, dass er ein paar seiner seltenen freien Tage für die Tour nach Cottbus brauchen wollte, die er aufgeschoben hatte. Das Grab besuchen, ein paar Dinge seiner Mutter bei seiner Tante abholen. Eine ganz plausible Erklärung und er musste nicht einmal ein Angebot mitzukommen ausschlagen, sie hatte eine große Rolle in der nächsten Inszenierung und ging jeden Tag zur Probe.
Das Bier ist bitter und passend kalt. Damals war es immer lauwarm, man sparte am Strom. Uwe nimmt einen tiefen Schluck und rülpst leicht. Dann sagt er etwas.
– Sie war es, die mich angezeigt hat. Aber das wusstest du wohl.
Der Ton ist leicht, eine Replik in einer Unterhaltung über was auch immer. Der Preis für das Bier damals und heute, die Einrichtung von Kneipen. Aber jetzt sollte er sein Glas leeren, danke und Lebewohl sagen und so schnell wie möglich das Weite suchen.
Er bleibt sitzen. Die Zunge klebt am Gaumen, aber er traut sich nicht, das Glas an den Mund zu heben, er traut sich nicht, zu trinken, er traut sich nichts anderes als auf seinem Platz auf der speckigen Bank sitzen zu bleiben, ohne ein Glied zu rühren.
Uwe trinkt den Rest seines Biers in einem langen, gluckernden Zug. Er kippt das leere Glas in Richtung Bar, von wo der Barmann ihm zunickt. In der Pause, bis ein neu eingeschenktes Glas auf dem Bierdeckel vor Uwe landet, hört er sein Herz schlagen. Dann reißt er sich zusammen und trinkt einen Schluck und noch einen, sicherheitshalber.
Uwe hat das neue Bier zur Hälfte getrunken, bevor er fortfährt.
– Falls du das nicht wusstest, war es wohl in Ordnung, dass du mir eine geknallt hast.
Jetzt sollte er etwas sagen wie, Was meinst du, oder Ich glaubte ja. Die Worte liegen klar in seinem Gehirn, ohne weiterzukommen. Seine Hand ist von der Berührung mit dem Bierglas eiskalt, er leert es jetzt und fängt den Blick des Barmanns ein.
– Es scheint, als würdest du nicht die ganze Geschichte kennen, sagt Uwe. Er klingt belehrend, wie ein Parteikommissar, der dabei ist, den Text zu deuten.
– Sie war gut darin, Dinge zu verschleiern, also bist du entschuldigt.
Welche Geschichte?
Uwes erschöpftes Gesicht ist lebendig geworden, ein Schweißtropfen bewegt sich langsam über die blanke Stirn herunter und erreicht die Nasenspitze. Bevor er entkommen kann, wird er mit einer Hand weggewischt. Die Hand landet mit einem kleinen Klatschen zwischen ihnen auf dem Tisch.
– Sie war nicht zu Hause, als sie mich abgeholt haben. Verreist, zu Besuch bei der Familie. Das war so geplant. Sie wollte mich loswerden. Ich habe mich darüber beschwert, dass sie mit dem Genie geschlafen hat und ich hatte sie geschlagen. Ein einziges Mal, als es zu viel wurde.
Als er ans Theater kam, war Uwe weg und er übernahm seine Rollen, ohne Fragen zu stellen. Niemand erwähnte Uwe, niemand hatte Lust darüber zu reden, warum er verschwunden war oder wo er sich befand und als er ein paar Jahre später zurückkam, war er selbst ein etabliertes Mitglied des Ensembles und Uwe nur ein lästiger Teil von Evas Vergangenheit. Einer, den man meiden sollte, so gut es sich machen ließ. In jener Nacht, als er kam, um die Tür zu ihrer Wohnung einzutreten, gab es nicht so viele Alternativen.
Der Schaum auf seinem neuen Bier läuft über den Rand des Glases, er saugt ihn ein, trinkt einen Schluck. Wartet.
– Das hat mich sechs Jahre gekostet, sagt Uwe. – Wenn man es auf diese Weise betrachtet.
Es gibt auch andere Weisen, es zu betrachten. Uwe will sie beschreiben und er wäre gezwungen, zuzuhören und während er das tut, würden er und Uwe Bier trinken, eins nach dem anderen. Das schuldet er Uwe. Nicht wegen eines Faustschlags einmal vor langer Zeit, aber weil er davongekommen war. Weil er es war, der überlebt hatte.
Der Barmann hat die Musikanlage lauter gestellt. Ein Schlager von damals schallt durch das Lokal. Popmusik, weit unter ihrer Würde zuzuhören, aber er kam aus dem Westen und alle konnten ihn mitsingen.
Tiritomba. Tiritomba. Wenn die Liebe ist so schön.
Uwe singt mit und schlägt den Takt mit dem Glas.
– Liebe, sagt Uwe. – In Hohenschönhausen bekam ich die Liebe zu spüren, auf diese Art Liebe will man lieber verzichten, aber es war also die, die für mich in ihren Augen gut genug war. Eva.
Hohenschönhausen. Das Stasi-Gefängnis, das man sich damals kaum traute, beim Namen zu nennen.
– Gefängnisse sind für die Schuldigen, sagt Uwe. – Oder? Oder?
Ein Zeigefinger zeigt an seine Nase.
– Dieses Gefängnis sollte dich schuldig machen. Es dauerte etwas, bis du es verstanden hattest, aber sie hatten Zeit, darauf zu warten, dass der Groschen fiel. Die Zeit konntest du nutzen, um an die zu denken. Die, die dich dorthin gebracht hatte.
Uwes blanker Scheitel ist noch blanker geworden, sein Glas ist wieder leer und er hebt es und kippt es in Richtung Barmann. Er leert sein eigenes Glas und macht die Bewegung nach. Es beginnt einem Ritual zu ähneln und an Ritualen ist nichts falsch. Wenn auch sonst nichts, so halten sie das Leben zusammen.
– Woher ich das wissen konnte, kannst du fragen. Es hätte ja wer auch immer sein können. Aber es hätte nicht wer auch immer sein können. Es konnte nur sie sein. Sie hat mich aus dem Weg geschafft, dann konnte sie machen, was sie wollte.
Warum soll er das wissen? Er hat für sie keine Verantwortung, hat sie nie gehabt, warum soll er mit Uwes Geschichte und Uwes anklagendem Ton belästigt werden? Aber wenn der Sinn darin besteht, dass er ein schlechtes Gewissen bekommen soll, ist es nah dran zu gelingen und er weigert sich, ein schlechtes Gewissen zu haben. Er hat seinen Hals riskiert, er hat sich rechtzeitig herausgewunden, soll er dafür bestraft werden? Die Wut spannt im Kiefer. Wenn Uwe auf diese Weise fortfährt, könnte es damit enden, dass er ihm eine knallt. Der Gedanke wirkt auf irgendeine Art ansprechend.
Uwe ist jetzt betrunken. Selbst spürt er das letzte Bier als eine Schwere in den Beinen und seine Blase pocht bedrohlich. Draußen in der kleinen Toilette stützt er die Hand gegen die Wand, um sich aufrecht zu halten und ist es so, wie er den Rest seines Lebens pissen soll, mit der Hand gegen die Wand, um überhaupt auf den Beinen stehen zu können?
Als er zurück kommt, ist Uwes Platz am Tisch leer. Eine Mischung aus Panik und Erleichterung huscht durch ihn durch, sein Glas ist halbleer und er leert es auf dem Weg zum Tresen. Wozu Uwe sich auch entschlossen hat, ist nicht sein Problem, der Tag ist lang genug gewesen, jetzt will er schlafen und alles von Uwe vergessen. Wenn das möglich ist.
Der Barmann kassiert seine Scheine mit routinierten Bewegungen, inklusive einer Sekunde Zögern beim Wechselgeld, das er bekommt und warum auch nicht? Draußen vor der Tür ist Uwe dabei, seine Hose zuzuknöpfen, eine gelbe Lache hat sich auf dem Bürgersteig ausgebreitet. Die Sonne steht tief im Westen, die Schatten sind lang und bald ist es Nacht.
– Wir können zu mir nach Hause gehen, sagt Uwe. – Wodka habe ich immer. Einen Kurzen, um der alten Freundschaft willen, was sagst du?
Das hier ist seine Chance davonzukommen. Leb wohl und danke, Uwe, wir haben einander nichts mehr zu sagen. Aber selbst wenn er Uwe den Rücken zuwenden kann, kann er nicht das abstreifen, was Uwe aus dem Sack gelassen hat. Der Gestank wird ihm folgen, wie sehr er auch Tourist spielt. Ihm in den Schlaf folgen, es ihm unter die Nase reiben, bei jedem Schritt, den er in dieser Stadt tut.
Die Wohnung ist klein und überfüllt, ein Zimmer und eine minimale Küche, die Toilette draußen auf dem Treppenabsatz teilt sich Uwe mit der Nachbarin, einer alten Frau mit Putzfimmel. Ein Vorteil, sagt Uwe, der zwei Gläser vom Küchenbrett mit einem Stück geblümter Küchenrolle abtrocknet und eine Wodkaflasche aus einem betagten Kühlschrank nimmt. Dasselbe Modell wie das, das in seiner eigenen Wohnung in der Bernauer Straße stand, dasselbe Modell, dass er mit Eva geteilt hatte. Das Sofa, auf dem sie sitzen, ist mit weinrotem Samt bezogen, wo der Stoff an einigen Stellen fehlt. Er geht davon aus, das es auch Uwes Nachtlager ist, der Geruch im Zimmer ist eingesperrt, eine Mischung aus selten gewaschenen Laken und abgestandenem Bier. Der Wodka schmeckt nach purem Alkohol und brennt im Hals. Er hat den Schnaps in mehreren Schlucken mit Pausen getrunken, aber Uwe ist sofort wieder mit der Flasche da.
– Ich war ein staatsfeindliches Element, sagt Uwe und füllt ihre Gläser, bevor er weiterredet. – Das haben sie gesagt und sie hatten recht, das ist es nicht. Ich habe ja gedacht, dass das Scheiße ist, was die machten. Das haben alle anderen auch, aber Staatsfeinde, die kann man nicht frei herumlaufen lassen. Das Problem ist, sie zu finden, aber mit einem kleinen Tipp klappt das gewöhnlich.
Uwe hält das Glas mit den Fingerspitzen, wie seine Nachbarin in Kopenhagen. Sein Hirn sucht einen Ruhepunkt, aber findet nur sie. Einen hageren Körper in einer Sofaecke, gefangen in Alkoholnebeln. Kein aufmunternder Gedanke.
– Wenn du nicht da gewesen wärst, hätte ich sie umgebracht. Dann hätten sie einen Grund gehabt, mich zu bestrafen, ich wäre ganz sicher gehängt worden. Ich weiß nicht, ob ich dir danken oder dir eine knallen soll. Was ist besser, gehängt zu werden oder nicht? Um das zu beantworten, braucht man einen Philosophen.
Uwe lacht, aber das ist nicht lustig.
– Sechs Jahre, sagt er. – Es wurde leichter, als ich mein Urteil bekommen hatte. Alles war leichter als Hohen. Schön. Hausen.
Er betont jeden Buchstaben, so als würde er Figuren auf einem Schachbrett aufstellen, peng, peng, peng.
– Weißt du, wie das ist, nicht zu wissen, wo du bist? Ich meine nicht, wenn du gerade aufgewacht bist. Immer, Tag und Nacht. Niemand weiß, wo du bist und du selbst weißt es auch nicht.
Mein Leben ist so gewesen. Das denkt er und gleichzeitig weiß er, dass das eine beschönigte Lüge ist. Verglichen mit Uwe, hat er nichts, worüber er sich beklagen kann. Drei hungernde Tage in Wien sind ein Spaziergang neben dem, worüber Uwe redet und was er mit noch einem Wodka aus der Flasche, die auf dem abgenutzten Sofatisch beschlägt, runterspült. Eine Stehlampe hinter dem Sofa ist die einzige Beleuchtung im Zimmer. Das Fenster ist hermetisch verschlossen und die Hitze des Tages liegt wie eine erstickende Decke darüber, er braucht Luft.
– Darf ich das Fenster öffnen? fragt er.
Das ist der erste Satz, der aus seinem Mund kommt, seit Uwe vor einigen Stunden seinen Monolog begonnen hat und es klingt wie ein Witz. Die Welt geht unter und wie wäre es mit einem Spaziergang im Wald.
Uwe schüttelt den Kopf.
– Erträgst du es nicht? fragt er. – Hast du einige Jahre gefroren, ist es so, wie du es haben willst.
Uwes Scheitel und Stirn sind mit Schweißperlen bedeckt, wie er selbst aussieht, kann er nur erraten. Er hat Atemnot und in seinem Kopf bewegt sich ein messerscharfer Suchscheinwerfer. Stoppt einen Moment bei etwas, irgendetwas, aber bevor er es fokussieren kann, hat er sich zu etwas Neuem bewegt. In der Flasche auf dem Tisch ist noch ein Rest am Boden. Uwe nimmt sie und setzt sie an den Mund, leert sie in einem schlürfenden Zug.
– Wenn du noch Durst hast, sagt er. – Wir können jemanden besuchen. Es ist nicht so, dass wir miteinander verkehren, aber sie wohnt direkt um die Ecke.
Direkt um die Ecke. Er kennt die Adresse. Auf der Reise hierhin hat er an sie gedacht, aber es fiel ihm schwer, einen Grund zu finden, sie aufzusuchen. Sie war eine alte Geschichte, eine, mit der er mal vor einer Ewigkeit eine Affäre gehabt hat und die er verlassen hatte. Nicht weil er wollte, nicht wegen ihr, es ist wahr, was er im Brief geschrieben hatte, es war wegen ihm selbst. Jetzt hat Uwe sie aus den Schatten heraufbeschworen, sie sitzt zwischen ihnen auf dem Sofa. Das rotblonde Haar schimmert im Lampenlicht, die schmalen Lippen sind feucht, bereit, um zu küssen, ein Kuss, der offenbar mehr als ein gewöhnlicher Kuss sein konnte, falls man Uwe glauben konnte und warum sollte er es nicht? Uwe wirkt nicht wie ein paranoider Mythomane und das, was er sagt, macht furchtbar, unwiderlegbar Sinn.
– Niemand weiß, wo du bist. Uwe wiederholt die Worte. – Zu jedem Schritt, den ich da drinnen gemacht habe, hat sie mich verurteilt. Zu jeder Nacht in Kälte. Zu jedem Tag in einer Zelle aus Gummi, die keine Ecken hatte, wo du in der Dunkelheit in deiner eigenen Scheiße und Pisse liegen und vergessen konntest, wer du bist. Keine Ecken. Du weißt nicht, wo oben und unten ist, zum Schluss hast du vergessen, dass du überhaupt existiert hast.
Er kann sie riechen, so als wäre sie wirklich. Eau de Cologne, darin hat sie ihren Körper gebadet, wenn sie sich morgens gewaschen hat, sie goss es über die Handgelenke, bevor sie zur Bühne ging, das nahm die Spitze der Nervosität, sagte sie. Jetzt sitzt sie neben ihm und falls sie nervös ist, zeigt sie es nicht.
– Ich glaube nicht, dass sie so weit gedacht hatte. Uwe stellt die Flasche weg. – Ich glaube nicht, dass sie diese Art Fantasie hatte. Aber ich wollte sie dafür umbringen. Als du verschwunden bist, hätte ich das tun können, es wäre leicht gewesen, sie nach einer Vorstellung abzupassen, an einem späten Abend. Ich hätte sie erwürgen und mir dafür Zeit nehmen können. Sie auslöschen und ihre Augen schließen. Sie hat auf mich mit Verachtung gesehen, ich war ein Wurm, den sie mit dem Absatz zerquetschen konnte. Ein paar Monate hatte ich Fantasien von dem Schrecken in ihren Augen, wenn ich ihr die Hände um den Hals legte. Erst als irgendwer sagte, dass sie schwanger war, gab ich auf, das Kleine hatte mir ja nichts getan.
Sie rückt sich auf dem Sofa zurecht, zieht die Beine unter sich und fasst sich um die Knie, spreizt die Oberschenkel und etwas kommt aus ihr raus, etwas Lebendiges. Etwas, das zappelt und schreit und sein Leben hat keine Ecken mehr. Sein Leben ist dunkel und Dunkelheit hat keine Ecken. Irgendwo in der Dunkelheit redet Uwes Stimme weiter, aber er hört die Wörter nicht mehr und zum Schluss hören sie auf.
Uwe ist halb vom Sofa geglitten, als er sich vom Sofa hochwinden konnte und sich zur Tür tastet. Die Treppe ist dumpf unter seinen Füßen und er stolpert und gleitet die letzten Stufen auf den Fersen und dem Steißbein runter. Es tut weh, aber es weckt ihn, zumindest so weit, dass er in der Lage ist, zu gehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Es ist immer noch warm draußen und Leute schlendern auf den Bürgersteigen, kleine Gruppen auf dem Weg raus oder nach Hause. Ein junger Kerl mit einem viel zu großen Hund kommt ihm entgegen. Der Hund zerrt an der Leine, als sie ihn passieren, bleckt die Zähne und knurrt und er muss seine Lust bekämpfen, den Hund in die Rippen zu treten, ihn über den Bürgersteig fliegen zu sehen und ihn jammern zu hören. Er hasst Hunde, er weiß, dass das ungerecht ist, Hunde sind weder schlimmer noch besser als ihre Besitzer, aber es ist nicht der Besitzer, der die Zähne in jemandes Oberschenkel schlägt.
Die Fassade am Haus um die Ecke ist noch dieselbe. Selbst jetzt, Jahrzehnte später, sind dort Flecken, wo der Putz nach der Druckwelle einer Bombe abgeplatzt ist und die nackten Mauersteine entblößt hat. Die Jahre haben dem Ganzen eine Art besänftigende Patina verliehen, aber im Grunde ist das Haus dasselbe. Besser als das, in dem er in der Bernauer Straße wohnte, schlechter als das, in dem er jetzt wohnt, das auch eine alte Arbeiterwohnung ist, aber eine, die keinen Bombenangriff erlebt hat.
Hier hatten sie eine eigene Toilette mit Waschbecken, sodass sie nicht gezwungen waren, sich in der Küche zu waschen, ein richtiges Schlafzimmer mit Platz für einen Kleiderschrank. Ein Schlafzimmer, in dem eine Wiege gestanden hat. Wo sie sich über sie gebeugt und das Kind, das darin lag, getröstet hat. Wo sie das Kind ins Bett hochgehoben hat und eine Brustwarze in einen schreienden Mund gestopft hat. Die Zinkwanne in der Küche, in der sie Windeln ausgekocht, im Waschbecken ausgespült hat, sodass die Hände in dem kalten Wasser blau wurden, und sie auf der Wäscheleine unten im Hof aufgehängt hat. Er sieht sie vor sich, die Windeln, weiße Stoffstücke, wie Friedensflaggen, im Wind wehend. Am Tisch, wo sie frühstückten und ein Stück Brot und einen Rest Wurst nahmen, wenn sie nach einer Vorstellung spät nach Hause kamen, hat ein Kinderstuhl gestanden. In dem Stuhl ein Kind. Das Kind ist ein diesiger Fleck, er kann die Konturen nicht erkennen. Vielleicht ist das dort ein Kopf, eine rundliche Hand, ein Fuß in einer Socke, aber er kann keine Farben sehen, kein Haar, nichts, das das Geschlecht verrät, er sieht das Kind wie durch ein vereistes Fenster. Er kennt keine kleinen Kinder, hat sich nie für sie interessiert, Kinder lagen außerhalb seines Horizonts. Ein Kind, das eine Mischung aus seinen und Evas Genen ist, kann er sich nicht vorstellen. Wenn er sich anstrengt, ist es ein Klischee aus einer Fernsehwerbung für Wegwerfwindeln, das er sieht, kein richtiges Kind. Erst recht keins, das etwas mit ihm zu tun hat. Er weiß nicht mehr über das Kind oder ihr Leben, als das, was Uwe liefern konnte, bevor der Alkohol ihn verstummen ließ und zu dem Zeitpunkt hatte er selbst aufgehört zuzuhören.
Ist es im Stich lassen, wenn man nicht weiß, dass man jemanden im Stich lässt? Er ging, ohne zu wissen, dass sie schwanger war. Er liebte sie nicht und ein Kind wäre nur eine weitere Bestätigung dafür gewesen, dass er in einer unmöglichen Situation festsaß, doppelt eingesperrt von inneren und äußeren Kräften, dazu verurteilt sich anzupassen.
Es sieht aus, als wäre dort oben Licht, ein schwacher Widerschein, als läge jemand im Schlafzimmer und läse bei offener Tür. Das Fenster zur Straße ist einen Spalt weit geöffnet, es muss nach einem Tag wie diesem, der dabei ist zu Ende zu gehen, warm unter dem Dach sein. Auf dem Schild mit den Klingeln stehen keine Namen, nur Etagennummern und links und rechts. Er weiß, wo er klingeln muss, aber warum sollte sie ihn reinlassen, warum sollte sie überhaupt ihre Tür für einen Fremden zu dieser Zeit am Tag öffnen und was sollten sie zueinander sagen?
Ach, jetzt kommst du. So circa dreißig Jahre zu spät. Auferstanden aus Ruinen.
Er dreht sich um, um zu gehen, als er jemanden hinter sich bemerkt. Ein junger Mann hält ein Fahrrad mit einer routinierten Hand in Balance, während er mit Schlüsseln klimpert. Er bekommt die schwere Tür auf und zieht das Fahrrad in den Torweg und er hat das schon tausend Mal vorher gemacht, so, und so. Bevor die Tür hinter ihm zufällt, dreht er sich um.
– Wollen Sie rein?
Wenn er nein sagt, wird die Tür zufallen und er in irgendeiner Form von Sicherheit draußen auf dem Bürgersteig stehen, aber er kann nicht nein sagen.
Wie kann man zu seinen eigenen Augen nein sagen? Nicht einmal, wenn sie am Kopf eines anderen Menschen sitzen, kann man nein sagen.
Drinnen im Torweg leuchtet nur eine schwache Lampe und der Bursche ist schon drinnen im Treppenhaus, nimmt die Treppe in langen, kraftvollen Schritten, wie er selbst die Treppe damals genommen hat, dasselbe Tempo, dieselbe Energie. Er folgt ihm und der Rücken unter dem hellgrauen T-Shirt ist muskulös, die Armmuskeln sind gut trainiert. Das Haar ist rot, eine dunkle, dramatische Farbe und es ist länger als sein eigenes jemals gewesen ist, ein glatter Pferdeschwanz legt sich um den Nacken. Er bleibt auf der Etage darunter stehen und hört, wie dort oben ein Schlüssel in das Schloss gesteckt wird.
– Ich bin zu Hause.
Eine andere Stimme, schwächer. Es werden Worte gewechselt dort oben und er geht die letzten Schritte die Treppe hoch. Steht vor der Tür und horcht, schamlos, spioniert bei ihnen, die seine Familie hätten sein können, sein Leben, aber es nicht wurden.
Müde. Nicht hungrig. Schlafen, sagt die junge Stimme hinter der Tür, ein Echo von etwas, das er sich selbst hat sagen hören.
Etwas ist gut gegangen, etwas mit Musik vielleicht. Er kann nicht mehr hören, aber jemand geht drinnen umher. Wasser läuft und etwas, vielleicht ein Möbel, schabt über den nackten Boden. Dann wird es still.
Das Licht im Treppenhaus ist längst ausgegangen. Er drückt den Kontakt und hört das kleine Ploppen, aber das Türschild verrät nichts. Evas Nachname, derselbe wie damals, kein Vorname, keine Initialen. Unten im Torweg steht das Fahrrad. Ein solides Modell, aber keine Luxusausgabe wie sein Kopenhagener, das per Hand hergestellt und das Beste war, das er auftreiben konnte. Das hier ist graugrün und leicht ramponiert, vielleicht ein ehemaliges Militärfahrrad. Alles kann hier zu Geld gemacht werden, heute Morgen hat er ein Souvenirgeschäft nach dem anderen mit alten Flaggen und Uniformdetails, Orden und Symbolen, Stücken der Mauer passiert. Es muss genauso viele davon geben, wie es Splitter von Christi Kreuz gibt, also warum nicht ein Fahrrad von der dahingeschiedenen Volksarmee.
Sein Sohn sollte mit einem ordentlichen Fahrrad fahren.
Sein Sohn. Die Worte haben sich ohne sein Zutun in seinem Kopf geformt, aber selbst wenn er sich entscheiden sollte, das zu ignorieren, ist es ein Fakt. Ein erwachsener Mann mit seinen Genen fährt mit dem Fahrrad in Berlin herum, auf dem Weg von dem einen Ort zum anderen, für die ein oder andere Besorgung und spät am Abend steuert er seinen roten Pferdeschwanz durch den Torweg und trampelt die Treppen zu der Wohnung hoch, die er immer noch mit seiner Mutter teilt, dem Spitzel. Der Verräterin, die einen alten Liebhaber schnurstracks in die Hölle geschickt hat.
Weiß er das? Das dürfte kaum etwas sein, mit dem sie prahlt, aber in diesen Zeiten kommen Geheimnisse eines Tages raus. Archive werden geöffnet, Decknamen enthüllt. Draußen in dem kleinen Hof, wo zu seiner Zeit einer der Nachbarn Gemüse angebaut hatte, hat man eine Grünfläche angelegt. Auf einem Fliesenplatz steht ein Bohlentisch mit dazugehörigen Bänken neben einer grob gemauerten Feuerstelle. Es könnte sein eigener Hof in Kopenhagen sein, wo Sanierungen die alten Viertel verwüsten und die Bewohner raus in die Ghettos im Nordwesten und Westen jagen, wenn die Miete zu teuer wird.
Oben im Schlafzimmer ist das Licht gelöscht worden, das ganze Haus liegt in Dunkelheit. Er setzt sich auf eine der Bänke und stützt die Ellbogen auf den Tisch. Der Kopf ist schwer in seinen Händen. Die Tränen, die auf die Tischplatte fallen, kann er nicht aufhalten.
Warum weine ich? Er hört sich selbst den Satz laut aussprechen. Er wiederholt ihn und er hat keine Antwort.
Als es hell wird, steht er draußen vor dem Tor. Das Fahrradschloss war primitiv, eine der Funktionen des Schweizer Taschenmessers brachte es so leicht wie nichts zum Aufklicken und er schwingt sich auf den Sattel und strampelt durch die leeren Straßen fort. Es ist noch früh, das Poltern der Straßenbahn ist das einzige Geräusch, das er auf seinem Weg zum Hotel hört, wo ihm ein Nachtportier mit ausdruckslosem Gesicht seinen Schlüssel aushändigt und er weiß, wie er nach vielen Stunden des Trinkens riecht, dafür braucht er keinen Nachtportier, der ihm das sagt. Einige Stunden schweißtreibenden Schlafes später, steht er unter der lauwarmen Dusche, auf dem Weg seine normale Temperatur zurückzubekommen. Er öffnet das Badezimmerfenster und stellt sich davor, ohne sich abzutrocknen, die Luft draußen ist bereits quälend warm. Auf der anderen Seite des kleinen Luftschachts schüttelt eine Frau mit Kopftuch einen Staublappen aus und zieht ihren Kopf beim Anblick seines nackten Körpers ein. Unten im Restaurant ist das Personal dabei, abzuräumen und er kann sich gerade noch eine Tasse Kaffee schnappen, der nach zu vielen Stunden auf der Wärmeplatte schmeckt, dann ist er unterwegs.
Das Fahrrad steht da, wo er es abgestellt hat und es verrät ihm, dass der gestrige Tag kein Produkt seiner Fantasie war. Der Besitzer ist sicher jetzt aufgestanden und der Beginn seines Tages ist zweifellos dadurch verkompliziert worden, dass dort kein Fahrrad stand und wartete. Der Tagesportier, eine eifrige, junge Frau in einer tief ausgeschnittenen Bluse, gibt ihm ein paar Adressen und eine Stunde später ist er der Besitzer eines silbernen Rennrades, eine tausendprozentige Verbesserung des Diamants, das damals seine Flucht bezahlt hatte. Vielleicht muss es etwas justiert werden, aber ihr Körperbau ist nicht so unterschiedlich, soweit er das nach dem schlecht beleuchteten Treffen beurteilen kann. In einem Café mit Aussicht auf die vernarbte Fassade trinkt er den ersten richtigen Kaffee des Tages und schreibt einen Zettel.
Ich habe gestern dein Fahrrad geliehen. Hoffe, das hier gefällt dir.
Keine Unterschrift. Den Zettel steckt er in einen Umschlag, den er dafür gekauft hat, zusammen mit der Quittung und dem Code für das Schloss, damit niemand denkt, es handele sich um Diebesgut. Er schreibt den Nachnamen darauf, dann geht er schräg über die Straße und setzt den Finger auf einen zufälligen Klingelknopf. Der dritte Versuch klappt. Die Tür summt wütend, er zieht das Fahrrad in den Torweg und befestigt es an einem Haken in der Mauer. Während er den Briefumschlag unter dem Bremskabel festklemmt, geht die Tür zum Treppenhaus auf.
Wenn er die Sekunde genutzt hätte, in der der Mann in der Tür zu verwirrt ist, um zu verstehen, was da passiert, wenn er die wenigen Schritte zum Tor so schnell wie möglich genommen hätte, wenn er das Tor hätte zufallen lassen und in vollem Galopp die Straße entlang gehastet wäre, hätte er so tun können, als wäre nichts passiert.
Er ist stehengeblieben. Die blauen Augen sehen ihn misstrauisch an.
– Wo ist mein Fahrrad?
Was er auch sagen wird, es wird seltsam klingen, also sagt er nichts. Er zeigt auf das Fahrrad, versucht es mit einer Art Lächeln, von dem er den Eindruck hat, dass es eher einer Grimasse gleicht.
– Das ist nicht meins. Mein Fahrrad. Wo ist es?
– Ich habe es geliehen. Endlich bekommt er etwas hin, das wie ein Satz klingt. – Das war unverschämt und ich hätte es nicht tun sollen. Es ist etwas mit ihm passiert und du bekommst stattdessen das hier.
Sie stehen einander genau gegenüber. Der Mann, der sein Sohn ist, ist nur einige Zentimeter größer, aber es fühlt sich so an, als würde er sich auftürmen.
– Das ist ein teures Fahrrad. Meins war ein Schrotthaufen.
– Nimm es als Entschuldigung. Man soll keine Fahrräder stehlen.
– Woher weiß ich, dass das hier nicht gestohlen ist?
Er fischt den Umschlag unter dem Kabel raus und streckt ihn vor. Die Hände, die ihn entgegen nehmen, haben lange Finger. Ihre Finger, nicht seine, aber die Bewegungen, als er den Umschlag mit den Fingerspitzen aufmacht, sorgfältig, ohne aufschlitzen und reißen, könnten seine eigenen sein.
– Ich verstehe nichts.
– Das ist nicht notwendig. Nimm es an. Es ist ein Geschenk. Das Letzte hätte er nicht sagen sollen.
– Das ist viel zu viel wert. Ich kann es nicht annehmen.
Hier bekommt er ein Luxusfahrrad angeboten, dass er sich selbst niemals leisten könnte und dann ziert er sich. Irritation steigt in ihm auf, nimm doch das Fahrrad, du Dummkopf und lass es uns hinter uns bringen. Du nimmst das Fahrrad, ich gehe und wir müssen nie wieder etwas miteinander zu tun haben.
Das rote Haar hängt heute lose herunter, jetzt sammelt der Kerl es im Nacken und macht mit einer schnellen Bewegung ein Haargummi aus seiner Hosentasche um den Pferdeschwanz.
– Geschenke von einem Wildfremden, das stinkt nach, ich weiß nicht was.
Es kommt aus seinem Mund, bevor er es aufhalten kann.
– Von wem würdest du dann ein Geschenk annehmen?
– Was meinen Sie?
In der Pause hört er seinen Atem, der klingt, als wäre der Sauerstoff dabei auszugehen. Der ganze Sauerstoff auf der Welt. In wenigen Sekunden wird ihm schwarz vor Augen werden, er wird ohnmächtig werden und wenn er aufwacht, wird der Mann mit dem Pferdeschwanz weg sein. Das Fahrrad wird weg sein, er wird auf einer Trage liegen und das Heulen einer Krankenwagensirene über seinem Kopf hören. Auf dem Weg irgendwohin, wo niemand Forderungen stellt.
Aber er wird nicht ohnmächtig. Stattdessen sagt er etwas.
– Würdest du ein Geschenk von deinem Vater annehmen?
Er hätte eine Faust in das sommersprossige Gesicht vor sich hämmern können, das hätte keine größere Wirkung haben können. Die blauen Augen vom Schock aufgerissen, die weichen, jungenhaften Züge ziehen sich zu einer Grimasse zusammen.
– Mein Vater ist tot.
Er erträgt es nicht, das zu sehen. Er dreht sich um, um zu gehen, aber er kann keinen Fuß bewegen und während er dort steht, kommen die Tränen.
– Hilf mir. Das ist das einzige, was ihm einfällt, den blauen Augen zu sagen. Seinen eigenen Augen in einem fremden Gesicht. – Hilf mir.
Den einen Fuß vor den anderen, wie gehen lernen, aber keine liebevollen Hände warten auf ihn, keine Stimme sagt, komm schon, du kannst es, noch einen Schritt und noch einen. Niemand klatscht in begeisterte Hände, oder tätschelt ihm den Kopf, oder tröstet ihn, wenn er unbeholfen fällt, und fallen tut er. Stolpert, zögert, steht auf, stolpert und fällt. Ein Paar blaue Augen verfolgen den Prozess, beobachtend, registrierend. Misstrauisch. Wie man einen Fremden beobachtet, der sich bemüht, bekannt zu wirken. Ein Wesen von einem anderen Planeten, das einen hilflosen Versuch unternimmt, seine grüne Haut und die unkleidsamen Antennen zu verstecken. Er ist ein Fremder. Er hat in diesem Teil des Waldes nichts zu suchen, wo andere Regeln herrschen und wo er nicht damit rechnen kann, für bare Münze genommen zu werden.
Dann sitzen sie dennoch an einem Tisch im Café gegenüber und es stehen Kaffeetassen auf dem Tisch. Kaffeetassen und zwei Gläser Wasser, das eine ist fast schon leer. Aber da sind nicht nur Tassen und Gläser auf dem Tisch. Auf der braunen Tischplatte zwischen ihnen liegen zwei Leben und es sieht aus, als hätte ein Kind einen Turm aus Klötzen gebaut, hoch, hoch und dann dem Turm einen Tritt gegeben.
Wie sie über die Straße gekommen sind, weiß er nicht. Aber jetzt sitzen sie dort und an den anderen Tischen kauen die Leute auf Wurstbroten herum und trinken Kaffee, wie an einem ganz normalen Tag. Im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sitzen zwei Männer nebeneinander, einer mit dunkler Mähne über einem zerfurchten Gesicht, der andere jünger, mit dunkelroten Haaren und blassen, sommersprossigen Wangen. Ihre vier Augen haben dieselbe Farbe wie das Hemd des Älteren.
Hemdsblau, denkt er. Und er denkt, wie soll ich das erklären?
Er lässt die beiden Männer nicht aus den Augen. Er wartet darauf, dass einer der beiden die Stille durchbricht, aber keiner der beiden hat offensichtlich etwas beizutragen. Schließlich sagt der Ältere von ihnen etwas.
– Kannst du nicht einfach Fragen stellen?
– Was soll ich fragen?
Das kommt wie ein Schlag, niemandem wird etwas geschenkt, aber das Schweigen ist durchbrochen. Er wendet den Blick vom Spiegel dem Gesicht neben sich zu, einem verletzlichen Gesicht, jünger als das Alter, das man leicht ausrechnen kann.
– Ich wusste es nicht.
– Wusstest was?
Dass du unterwegs warst. Dass du geboren werden würdest. Dass du zur Welt kommen und im Voraus verurteilt sein würdest. Deinen Vater nicht zu kennen, mit dem Wissen aufzuwachsen, dass da vielleicht ein Mann in der Welt herumlief und dem du ganz egal warst. Oder mit einer Lüge aufzuwachsen. Dein Vater ist tot. Dein Vater war ein Held, ein Schurke, ein Opfer. Alles andere als die Wahrheit.
Ich habe alle Verbindungen gekappt, das war leicht und wie die Dinge lagen, hielt mich nichts zurück. Ich weiß nicht einmal, ob mich der Gedanke an dich, gebremst hätte. Wenn er sagen kann, wie es ist, kann er alles sagen und vielleicht ist das seine Rettung. Die Worte kommen wie Klumpen, er spuckt sie aus, kann sie nicht im Mund haben. Aber sie kommen und dann ist es überstanden.
– Ich kann es nicht beschönigen, sagt er. – Es war, wie es war. Ich habe es selbst gewählt, ich übernehme die Verantwortung dafür. Ich konnte nicht bleiben. Wenn ich geblieben wäre, hätte es mich getötet. Hin und wieder gibt es Dinge, die man einfach weiß und das wusste ich.
Neben ihm ist Stille, lange Finger zupfen an einer Zuckertüte herum, ein Zeigefinger gleitet über die Seite einer Kaffeetasse.
– Ich hatte nicht die Absicht, zurückkommen zu wollen. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich weiß nicht, ob ich es bereuen soll. Ich bin nicht gekommen, um deine Mutter aufzusuchen, ich bin nicht deinetwegen gekommen, weil du nicht existiert hast. In meinem Kopf wurdest du gestern erst geboren.
Plötzlich lachen sie beide.
– Jetzt trinken wir Kaffee, sagt er. Und gleich stehe ich auf und gehe durch die Tür da. Wenn du mich nicht wiedersehen willst, ist das deine Entscheidung. Aber falls du es willst.
Er findet die Karte des Hotels in seiner Hemdtasche und legt sie auf den Tisch. Leert seine Kaffeetasse. Die Knie sind aus Gummi, aber er hält sich zumindest aufrecht.
– Das Fahrrad, sagt er. Es hätte einfach dort stehen sollen. Ein Geschenk von irgendeinem Weihnachtsmann, den du nie hättest kennenlernen sollen. Es ist keine Bezahlung für etwas, es ist kein Köder. Ich kann dich nicht zwingen, es zu behalten, du kannst es ja verkaufen und ein anderes kaufen.
Die Tür fällt hinter ihm zu. Draußen ist Berlin sommergrün, er bemerkt es jetzt. Auch dass es nach Bäumen und Moos duftet, wie in einem Wald.
Es ist zu heiß zum Schlafen. Das kleinste Handtuch aus dem Badezimmer kühlt er in der Minibar, sein eigenes kleines Handtuch wringt er in kaltem Wasser aus und legt es abwechselnd auf die Stirn, die Pulsader des Halses, die Handgelenke. Er steht im Badezimmer mit den Händen im eiskalten Wasser, als das Telefon klingelt. Es gelingt ihm das Glas mit Wasser, das er auf dem Nachttisch stehen hat, umzukippen, als er nach dem Hörer greift und als er endlich antwortet, ist die Verbindung unterbrochen. Wenige Sekunden später klingelt es wieder.
Eine Schauspielerstimme. Gut moduliert, geschult, mit vielen Nuancen im Repertoire. Die aktuelle Ausgabe hat er sie als Gouverneursfrau, die wegen des eigenen Gewinns um das Recht für ein Kind kämpft, verwenden hören. Alles in Betracht gezogen, wirkt sie gut gewählt.
– Du, sagt die Stimme. – Du imponierst mir. Damals warst du nur mittelmäßig. Dein Talent war mittelmäßig, du warst mittelmäßig im Bett, das, was aus deinem Mund kam, war mittelmäßig. Jetzt muss ich den Hut vor deiner Unverschämtheit ziehen, die ist alles andere als mittelmäßig.
Jeglicher Versuch, sie zu unterbrechen, prallt ab. Er gibt auf. Hört zu.
– Wer das Tal bestellt, hat das Recht auf das Tal, sagt sie. – Der, der für das Kind sorgt, ist die Mutter des Kindes. Der, der das geschrieben hat, war ein Genie, er war es, mit dem ich ein Kind hätte haben sollen. Du hast mit nichts dazu beigetragen, nichts, ich zähle eine Samenzelle zu nichts, so eine kann wer auch immer aufbringen und Männer haben keine Garantie dafür, dass Kinder ihre Kinder sind, das ist ein biologisches Faktum.
Eine Sekunde, in der sie Luft holt.
– Eva, sagt er. – Halt mal einen Augenblick die Klappe.
Zu seiner Überraschung bleibt sie stumm, lange genug, bis er weiß, was er sagen soll.
– Wenn ich sage, dass ich mich wie ein Arschloch aufgeführt habe, bist du dann zufrieden?
– Wenn du das sagst und auch so meinst, ist es noch schlimmer als ich dachte.
– Was hast du gedacht?
Er kann hören, dass sie sich bewegt, das Geräusch verändert sich, so als wäre sie in ein anderes Zimmer gegangen. Eine Flasche schlägt gegen ein Glas, es gluckert in einem Flaschenhals.
– Du hast aufgehört, zu existieren, kapierst du das nicht? Du hast einen Brief geschickt, Leb wohl und danke. Was sollte ich denken? Dass du angekrochen kommen würdest, wenn du wüsstest, dass du ein Kind hast? Nie im Leben. Du kannst mich für vieles beschuldigen, aber nicht dafür, dumm zu sein. Meine größte Dummheit war, dass ich dir gegenüber keinen Verdacht hatte. Dass du einfach verschwinden könntest, wenn es so einfach gewesen wäre, es zu verhindern.
Sie nimmt einen Schluck von etwas, das sie husten lässt. Als sie fertig gehustet hat und bereit ist, einen neuen Satz zu beginnen, unterbricht er sie.
– Wie das? Wie hätte das leicht sein können?
Er hört sie nach einer Antwort suchen. Sie nimmt einen neuen Schluck und dieses Mal beschränkt sich der Hustenanfall auf einen einzelnen Huster.
– Das hätte es einfach.
– Das ist keine Antwort.
– Du kommst nicht und machst mich für irgendwas verantwortlich, sagt sie und die Gouverneursfrau hat sich einen freien Tag genommen, jetzt ist es das Marktweib, das auf der Bühne steht. – Du hast den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und auf alles geschissen, du hast uns im Stich gelassen, im Stich gelassen, im Stich gelassen und jetzt kommst du als der Kapitalist mit der dicken Brieftasche und denkst, dass alles käuflich ist.
Sie hustet wieder, trinkt, hustet.
– Ein Rennrad. Das ist pathetisch.
– Da stimme ich dir zu. Aber es wirkte wie eine gute Idee, als ich es getan habe.
– Er behält es, sagt sie. – Er hat immer von einem Rennrad geträumt.
Die Stimme ist plötzlich spröde. Dann wird es still am anderen Ende der Leitung. Selbst hat er auch nichts zu sagen, aber auf der anderen Seite ist dies ein Gespräch, das man nicht einfach abbricht.
Die Sekunden vergehen.
– Wenn du nicht so ein Schwein wärst, sagt sie schließlich. – Wenn du nicht so ein mittelmäßiges Schwein wärst.
– Was dann? Was würde dann passieren?
– Kapierst du nicht, was hier passiert? Kapierst du das nicht? Sie ist jetzt wütend, die Worte stolpern übereinander. – Ich kann nicht hier bleiben, nicht in diesem verdammten Land.
– Wenn ich nicht so ein mittelmäßiges Schwein wäre, was würde dann passieren?
– Vergiss es.
Sie hat den Hörer aufgelegt. Eine lange Minute sitzt er da und starrt das Telefon an. Das Gespräch ist vorbei, so kann man es betrachten. Man könnte auch sagen, dass das Gespräch gerade erst begonnen hat. Der ausdruckslose Nachtportier hebt nicht mal den Kopf, als er die Rezeption passiert. Das Fahrrad steht, wo er es zurückgelassen hat. Ein unabgeschlossenes Fahrrad würde keine Nacht und einen Tag in seinem Viertel in Kopenhagen überstehen, aber das hier hat auf ihn gewartet. Die Straßen haben in dem, was einmal seine Stadt gewesen ist und die es vielleicht, sagt eine Stimme in seinem Kopf, vielleicht immer noch ist, auf ihn gewartet.
Sie hat auf ihn gewartet, oder so wirkt es, jedenfalls macht sie ihm nach einem einzigen Drücken der Türklingel auf. Er nimmt sich die Treppe hoch viel Zeit, er will nicht außer Atem sein. Die Tür steht einen Spalt weit offen und in dem kleinen Flur knarrt dieselbe Diele wie damals. Der Spiegel ist derselbe, es ist nur das Spiegelbild, das sich verändert hat. Die Wachsdecke auf dem Esstisch der Küche hat ein anderes Muster, aber die Tischbeine, dünn und braunlackiert, sind dieselben. Sie sitzt auf ihrem Platz, dort, wo sie am letzten Morgen gesessen hat. Wie an allen anderen Morgen tranken sie Kaffee, jetzt steht eine Flasche vor ihr und etwas, das einem Senfglas ähnelt. Sein Stuhl steht, wo er gewöhnlich steht und er denkt gerade, dass ein anderer auf ihm gesessen hat und wer der andere wohl sei. Sie zeigt auf die Flasche, aber er will einen klaren Kopf haben. In dieser Situation hier zu trinken, wäre ein Fehler, den er sich nicht leisten kann. Die Gläser stehen an ihrem Platz im Küchenschrank, er holt eins und lässt das Wasser laufen, bis es etwas kühler als lauwarm ist. Dann setzt er sich. Sitzt eine Minute, zwei, sieht sie die Flasche nehmen und sich eingießen. Billiger Whisky, der Geruch ist nicht zu verkennen.
– Ich trinke nicht, falls es das ist, was du denkst. Sie nimmt einen Schluck, erschaudert, hustet. – Das wäre ansonsten am leichtesten, aber ein alkoholisiertes Weib wird nicht ernst genommen.
– Ich glaube gar nichts.
Er leert sein Wasserglas, geht rüber zum Waschbecken und füllt es neu.
– Warum bist du gekommen? Wenn du um ihn kämpfen willst, ist es zu spät.
– Ich bin nicht darauf aus zu kämpfen. Tatsächlich möchte ich einen Friedensvertrag vorschlagen oder wie so etwas heißt.
Gelächter. Das, das sie benutzte, wenn sie Leute heruntermachen wollte, sowohl auf als auch neben der Bühne.
– Ich habe doch gesagt, es ist zu spät.
Die Jahre haben sie gut behandelt. Das Haar ist etwas blasser als damals, aber die Frisur ist dieselbe, nach hinten aus der gewölbten Stirn gerafft, mit den sorgfältig gezupften Brauen mit denselben zwei Spangen aus silberfarbenem Metall. Die Augenlider hängen ein wenig, ansonsten ist das Gesicht mit den hellen Sommersprossen in Takt. Unter dem dünnen Kimono ist der Körper nicht mehr so angenehm abgerundet wie damals, die Konturen sind schärfer, die Schlüsselbeine pressen gegen die Haut, aber betrachtet er sie wie eine Fremde, hat sie immer noch eine gewisse Anziehung.
Sie ist eine Fremde. Das sagt er sich selbst. Eine Fremde, mit der er zufälligerweise ein Kind hat, einen erwachsenen Mann, der gerade jetzt auf seinem Rennrad durch Berlin fährt. Das Fahrrad stand nicht im Torweg, als er kam. Das nimmt er zur Kenntnis, auch, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Das, weshalb er gekommen ist, involviert drei Personen und vielleicht ist der Sohn nur für eine Besorgung draußen und kommt gleich zurück.
Er hat den ganzen Tag Wasser in sich gekippt und das letzte Glas bringt seine Blase dazu, zu reagieren. Im Bad ertappt er sich dabei, die Hand gegen die Wand zu stützen und als er die Hand wegnimmt und seinem Blick im Spiegel begegnet, ist er entschlossener, als er sich fühlt. In dem Spiegelregalfach steht ein Zahnputzbecher mit einer Bürste und einer Tube Zahnpasta, ein zweites Fach enthält ihre Cremetiegel und eine Flasche des üblichen Eau de Cologne. Kein Rasierzeug, kein maskulines Deodorant, nichts, das verrät, dass auch ein Mann in der Wohnung wohnt. Als er zurückkommt, ist die Küche leer. Drinnen im Wohnzimmer sitzt sie auf einem Sofa, das seinem eigenen in Kopenhagen ähnelt, ein Schlafsofa, er geht davon aus, dass es seinem Zweck entsprechend gebraucht wird. Der niedrige Sofatisch ist mit einer Glasplatte bedeckt. Auf dem Glas liegt ein Schlüsselbund, unter ihm liegen Zeitungsausschnitte. Bilder von Vorstellungen. Von ihr. Von anderen Kollegen. Von ihm selbst. In der Mitte ein Bild vom Dramatiker mit der gewöhnlichen runden Brille und der Zigarre.
– Wo ist er?
– Woher soll ich das wissen? Er hat einfach seine Schlüssel dahin geworfen, er hat keine Spur hinterlassen.
– Sie beugt sich runter und zieht eine Schublade unter dem Sofa hervor.
– Leer, sagt sie. – Du kannst in den Schrank da gucken, wenn du mir nicht glaubst.
Das Lachen balanciert auf der haarscharfen Grenze zum Weinen. Sie schnieft, findet eine Papierserviette in der Kimonotasche und putzt sich die Nase.
– Du hast mich zu einer Lügnerin gemacht, sagt sie. – Als ob es nicht besser wäre, einen toten Vater zu haben, als einen Vater, der ein Scheißkerl war.
– Ich habe dich zu nichts gemacht. Du hast selbst entschieden, was du ihm erzählen wolltest.
Die Schublade, die sie unter dem Sofa hervorgezogen hat, gafft leer. Im Badezimmer war keine Spur von ihm. Vielleicht stimmt es, was sie sagt. Eine Konfrontation. Eine Auseinandersetzung. Es wird mit Türen geknallt, Anschuldigungen, Drohungen, Verwünschungen werden ausgesprochen und Entscheidungen getroffen. Sich loszusagen. Abstand zu halten. Genauer betrachtet, hat er dafür keine Verantwortung, aber tief in sich weiß er, dass er es sich zu leicht macht. Wenn es tatsächlich passiert ist, hat sich der Junge entschieden, keine Mutter mehr zu haben. Ob er einen Vater hat, der für etwas anderes als leere Gesten gut ist, ist eine andere Frage. Rückblickend wird es zu deutlich. Ihm ein Rennrad aufzudrängen, war übertrieben, nahe daran lächerlich zu sein, aber die Situation ist nicht zum Lachen, sie ist vor allem traurig und er weiß nicht, was er tun kann, um die Überreste zu retten. Falls da etwas zu retten ist.
– Ich weiß nicht, was ich sage, sagt er. – Entschuldige.
Sie schnieft wieder.
– Verschwindet er, habe ich nichts mehr, sagt sie. – Und er wird verschwinden. Nicht nur deinetwegen, dieses verfluchte Land hier ist das Paradies der Heuchler. Das ist es immer gewesen, jetzt ist es schlimmer, als es jemals war.
Die Wut lässt sie stammeln.
– All die scheinheiligen Arschlöcher. All jene, die ihren Heiligenschein putzen. Ich übergebe mich über sie. Dieses verfluchte Land hier. Jetzt kann man es plötzlich sagen, aber das Land gibt es nicht mehr und die Leute sind nur damit beschäftigt, sich daran zu bereichern und ich rede nicht davon, Fahnen oder Parteisymbole zu verkaufen, nein, du, jetzt waren sie alle zusammen Dissidenten, sie riskierten ihren Hals, keiner war ein Mitläufer, niemand hat jemanden verraten, niemand hat irgendeine Verantwortung.
Das Fenster hinter ihr steht sperrangelweit offen, der Vollmond gießt Silberlicht über ihre Schultern in dem weißen Kimono. In diesem Licht ist sie eine Erinnerung an die Schönheit, die sie einmal war und die sowohl Genies als auch Mittelmäßigkeiten dazu brachte, ihr zu verfallen. Uwes verbrauchtes Gesicht gleitet vor seine Netzhaut und er kann sich irren, aber ihre Tirade lässt ihn glauben, dass er Fragen stellen soll.
– Warum hast du es getan?
Damals, als sie zusammen gelebt hatten, war sie ohne harte Kanten, mädchenhaft und es war angenehm mit ihr auszukommen, jetzt ist sie eine gereizte Katze. Geschärfte Krallen, den Kopf zurückgelehnt, in einem Augenblick bleckt sie ihre Zähne.
– Was getan? Ein kurzes, trockenes Lachen. – Ich habe so viel getan. Ich war tüchtig, sagten sie. Du bist tüchtig. Hier hast du etwas Geld, etwas Westgeld, um im Intershop einzukaufen. Ein neues Sofa, sagst du? Kein Problem.
– Bagatellisieren. Bagatellisieren. Eigener Gewinn, ein paar Vorteile, das machte den Alltag ein wenig leichter und wenn man sich einbilden konnte, dass man gleichzeitig der Sache nützte, dass man den Frieden und den faktisch existierenden Sozialismus unterstützte, war das nicht so schlimm. Eine leicht undurchsichtige Geschichte, wie so viele andere, nichts, woraus man eine große Sache machen würde. Wenn er ihre Erklärung kaufte, könnte es dort aufhören, aber irgendein Unterton hält ihn zurück.
– Du sagst nichts, sagt sie. – Du sitzt da auf deinem hohen Ross und glaubst, du hättest das Recht, mich zu verurteilen.
– Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.
Sein Mund ist wieder trocken. Raus in die Küche, den Hahn laufen lassen, das Glas füllen. Trinken. Als er zurückkommt, steht sie am Fenster. Das Mondlicht hüllt sie in Eisblau und die Hitze des Raumes fühlt sich plötzlich weniger stickig an.
– Habe ich etwas anderes getan? Warum, fragst du, und ich gebe dir die Erklärung. Was willst du sonst noch haben?
– Die Wahrheit.
– Die Wahrheit. Sie äfft das Wort nach. – Wo bekommst du diese Klischees her?
Sie hatten nie eine Auseinandersetzung, als sie zusammenwohnten. Sie waren beide gut darin, sich anzupassen, auf den anderen zu warten, dem anderen zuvorzukommen, ihren Alltag, ihren geschäftigen, arbeitsreichen Alltag, so unkompliziert wie möglich zu machen. Es gibt keine Fußspuren, in die man treten könnte, keine Routine für Konfrontationen und unter allen Umständen ist die Situation neu.
– Können wir das auf diese Weise sagen? fragt er und er kann selbst hören, dass er provokativ ruhig klingt. – All das, was du sagst, wirkt, als wolltest du, dass ich dir irgendwie auf den Leim gehe, nur um mich loszuwerden? Können wir sagen, dass ich glaube, dass du voller Lügen bist?
– Du glaubst, du weißt etwas, sagt sie. – Du weißt einen Scheiß.
Er hat sich auf das Sofa gesetzt und jetzt steht sie hinter ihm. Er nimmt den schwachen Duft Eau de Cologne wahr, hört ihre Atemzüge kürzer werden und hat sie sich bewaffnet? Wird ihn ein Lampenfuß fertigmachen, wird die Polizei eine Erklärung annehmen, dass sie in Notwehr gehandelt hat, ein Einbrecher, ein Vergewaltiger? Er wartet nicht auf die Antwort, stattdessen streckt er eine Hand nach hinten und bekommt ihr dünnes Handgelenk zu fassen. Sie taumelt über den Sofarücken und landet neben ihm. Der Kimono ist zur Seite gerutscht. Ihr nackter Körper ist offen und wehrlos und ihre Hände sind leer.
– Ach so, du wolltest mich gar nicht umbringen.
Es ist Einbildung, das weiß er. Es geht nur in seinem eigenen Kopf vor sich, aber in diesem Augenblick bricht sie mit einem Laut, wie ein Zweig, der abgebrochen wird. Sie ist ein Zweig, den er abgebrochen hat, jetzt kann er ihn benutzen, wie er will. Mit ihm wedeln, jemanden damit gegen den Kopf schlagen. Ihn verbrennen.
Er legt den Arm um sie. Zieht sie an sich, spürt, wie sich ihre Brust hebt und senkt, viel zu schnell und sie leistet keinen Widerstand, sinkt gegen ihn, wie jemand, der alles gegeben hat, was das Zeug hält, um ein Ziel zu erreichen, das sich die ganze Zeit bewegt hat. Er streicht ihr über das Haar, über den Rücken, wiegt sie, bis die Atmung normal geworden ist. Sie macht sich los, reibt die Wangen, richtet sich das Haar, eine Spange ist herausgefallen und er sammelt sie auf, gibt ihr die Möglichkeit, den Kimono zurechtzuziehen.
– Irgendjemand sollte es machen, sagt sie. – Ich dachte, lieber ich als ein anderer, ein Parteitreuer. Ich habe nur das banalste berichtet. Dass es den politischen Diskussionen an Tiefe mangelte, solche Sachen. Ohne auf jemanden zu zeigen, es war der Arbeitsplatz, um den es sich handelte, ich wollte niemandem schaden.
Sie stockt und er ist kein Verhörleiter, hat sie mehr zu sagen, muss es von selbst kommen und es kommt. Wie etwas, das durch einen Deich bricht und alles auf seinem Weg mit sich spült. Schlamm und Mauerblöcke, umgestürzte Bäume. Menschenkörper, die in den Stromschnellen um ihr Leben kämpfen und mit fuchtelnden Händen untergehen.
– Uwe glaubte, er würde mich besitzen, also musste Uwe verschwinden und es war leicht, nur ein Wort fallenzulassen. Bei ihr war es schwerer, als es darauf ankam, war es unmöglich, das musste ich einsehen. Es wurde einfacher, als du auf der Bildfläche erschienst und sie etwas anderes bekam, woran sie denken konnte.
– Du wusstest es?
– Kapierst du eigentlich gar nichts? Ihr dachtet, ihr wärt unsichtbar, aber sie und ich teilten ein Hotelzimmer in Paris, ich kam von ihm, sie kam von dir, so etwas können Frauen riechen. Als wir zurück nach Berlin kamen, musste ich ihr nur folgen. Sehen, wo sie nach der Probe hin ging. Ich dachte, das würde ihn dazu bringen, sie zu verlassen, aber er hat mich einfach abgewimmelt.
Ein Turm aus Klötzen, hoch, hoch. Jemand hat ihn gebaut, jemand gibt ihm einen Tritt, jemand, der nichts zu verlieren hat.
– Ich weiß nicht, was du in ihr gesehen hast. In diesem Bündel Knochen.
Sieh es von außen, mit ihren unbarmherzigen Augen, sieh, wie lächerlich sie sich benommen haben, wie pathetisch ihr Verhältnis gewesen ist, wie sich selbst in einem Film zu sehen, als wäre jeder einzige Augenblick von einer unbarmherzigen Überwachungskamera eingefangen, jeder Seufzer von gefühlvollen Mikrofonen aufgefangen, jede Bewegung registriert. All die Zärtlichkeit, all die Lust, all der Respekt gegenüber etwas, das größer als er selbst war, reduziert auf die groteske Entfaltung eines ungleichen Paars, auf Wandgröße projiziert, so dass es alle sehen können, sodass alle sie auslachen können.
Sie sitzen in jeweils ihrem Ende des Sofas und sie massiert einen nackten Fuß mit ihren langen Fingern, als wäre sie einen Schuh losgeworden, der zu eng war.
– Als er starb, hat sie die Macht übernommen. Die ganze Macht. Das Erbe hat sie auch in Anspruch genommen, du warst meine Kompensation. Wenn es sie störte, war das die Belohnung, aber natürlich rächte sich das, als du abgehauen bist. Warum sollte sie mich behalten, talentierte Schauspielerinnen in meinem Alter gab es wie Sand am Meer und es hätte auch nie funktioniert. Man kann in diesem Job nicht alleine mit einem Kind sein, das passt nicht zusammen.
– Warum hast du ihn bekommen?
Wieder das Lachen, das höhnische, schneidende Lachen, das Idioten erwarten dürfen, wenn sie idiotische Fragen stellen.
– Wegen deinen blauen Augen.
– Hör auf. Was ist passiert?
– Das willst du nicht wissen.
Erst jetzt sieht er es ein. Sie muss die kleine Macht, die sie wegen ihm hatte, verloren haben. Das Vertrauen der Behörden verloren haben, Privilegien, Positionen verloren haben und noch schlimmer. Sie muss unter Verdacht gestanden haben, ihm geholfen zu haben.
Sie ist aufgestanden, er hört sie in die Küche gehen, ein Flaschenhals, der gegen den Gläserrand klirrt. Dann ist sie zurück.
– Du siehst es wohl wie eine Art höhere Rechtfertigung, sagt sie. – Man kann sagen, dass ich meine eigene Medizin zu schmecken bekommen habe.
Hohenschönhausen, sagte Uwe. Ein Ort, wo man die Liebe zu spüren bekommt. Unendliche Verhöre, unerträglicher Druck. Und die ganze Zeit wuchs der Fötus in ihr.
– Ich bin milder davongekommen, weil ich schwanger war. Aber er war die ersten Monate seines Lebens im Gefängnis, es war ein Wunder, dass sie ihn mir nicht weggenommen haben. Er war das Einzige, das mich am Leben gehalten hat. Er ist das Einzige, dass mich am Leben hält. Verschwindet er, ist da nichts.
Ihre Stimme ist fast unhörbar, aber er erträgt es auch nicht, mehr zu hören. Da, wo sie sich befindet, kann sie nichts erreichen, keine Vergebung, kein Trost. Der Raum fühlt sich eng an, ein Kerkerloch, wo er zusammen mit ihrem Unglück eingesperrt ist.
Die Diele im Flur knirscht unter seinen Füßen, dann fällt die Tür hinter ihm zu, dann ist er die Treppe runter. Draußen auf der Straße steht das Fahrrad, wo er es abgestellt hat. Die Straßen empfangen ihn und er tritt kräftig in die Pedale, bis er das Hotel erreicht.
Er hat es seit 20 Jahren verschoben, jetzt ist die Zeit gekommen.
Das Paket ist auf den Boden der Tasche gerutscht. Das Gummiband um der Irma-Tüte zerbröselt, als er es abnehmen will, aber die Tüte ist noch ganz die Alte. Er faltet sie sorgfältig zusammen, die nächste auch, dann liegt das Paket dort in seinem grauen Papier und der Bindfaden hat viele Knoten.
Den ersten Knoten kann er mit den Fingernägeln öffnen. Der nächste ist steinhart, er kämpft mehrere Minuten mit ihm und er ist nicht länger alleine in dem Raum, ein Paar Augen folgt ihm, ein Paar munterer, schwarzer Augen und die Stimme. Musst du noch lange daran herumfummeln, Kerl. Buberl. So nannte sie ihn, ein Kosewort und sie ist in dem Paket, nicht als ein Knochenbündel, über das man mit Verachtung spricht, sondern als sie selbst. Das Schweizermesser bringt die Knoten schließlich dazu, nachzugeben und er schneidet vorsichtig das spröde Papier auf, befördert den Inhalt auf den Tisch.
Kladden. Wie die, die er in der Schule benutzt hatte, liniertes Papier, brauner Umschlag und die Linien sind voll von ihrer Schrift.
Auf dem Umschlag des ersten Heftes steht ein einziges Wort.