Читать книгу Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen - Страница 5

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Kopenhagen 1991

Impfstoffe stellt man aus Krankheitserregern her, das weiß jeder. Man spritzt die Krankheit, gegen die man sich schützen will, in den Körper und der Körper mobilisiert alle Streitkräfte zur Selbstverteidigung, baut einen Panzer auf, der einen beschützt, wenn die Gefahr das nächste Mal angreift.

Eines nachts zwischen zerknitterten, sommerverschwitzten Laken weiß er es. Kehrt er nicht zurück, werden ihn die Bilder den Rest seines Lebens verfolgen, seine wachen Stunden verpesten, ihn in seinen Träumen verfolgen. Gegen Morgen dämmert er dahin und als er aufwacht ist Sonntag. Ein Sonntag mitten in den Ferien, die kein Ende nehmen wollen und wo er sich unaufhörlich dabei erwischt, sehr laute Selbstgespräche zu führen.

In dem Sommer, als er es mit einer Charterreise versuchte, hatte er nicht vorhergesehen, wie er auf eine Grenze reagieren würde, auf die Uniformen der Beamten, auf den Gedanken, jemandem, der ihn zurückhalten könnte, seinen Pass vorzeigen zu müssen. Anstelle einen neuen Versuch zu wagen, bemüht er sich, jeden Tag ein neues Ziel für seine Fahrradtour zu finden, um sich nicht zu Tode zu langweilen. Heute aber muss das Fahrrad im Keller bleiben, wo das geringste Risiko dafür besteht, dass es jemand stiehlt. Stattdessen muss er einen Plan schmieden, solange das Eisen noch heiß ist und bevor er selbst kalte Füße bekommt.

Heute Nacht wusste er es und jetzt am Morgen ist es weiterhin eine Tatsache, die er nicht ignorieren kann. Viele Monate konnte er den Fernseher nicht einschalten, ohne es an den Kopf geworfen zu bekommen. Eine jubelnde Versammlung nach der anderen, aber auch Enthüllungen, Rechtsverfolgungen, der beschämende Zusammenbruch eines beschämenden Systems und eines Tages befindet sich sein altes Land nicht bloß in Auflösung, es ist verschwunden. Sein Vaterland existiert nicht mehr und paradoxerweise macht die Nationalhymne erst jetzt irgendwie Sinn. Er singt, während er sich sein Sonntagsbrötchen schmiert und die erste Tasse Kaffee des Tages kocht, das ganze Lied, alle drei Strophen und die Poesie ist immer noch hilflos, aber als er ans Ende kommt, sind die Worte wenigstens keine Lügen mehr.

Deutsche Jugend bestes Streben unsres Volks in dir vereint wirst du Deutschlands neues Leben Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.

Dort in der Küche in der kleinen Essecke, wo exakt genug Platz für seine Tasse und seinen Teller ist, fühlt er sich genauso übermütig, wie damals, als er sich mit seinem Schauspielvertrag in der Tasche in den Zug nach Berlin setzte. Heute sind seine Hände von physischer Arbeit gegerbt, Kulissen aufbauen, Kulissen schleppen und Arbeitshandschuhe sind nur was für Waschlappen, das hat er schnell gelernt. Das äußerste Glied des linken kleinen Fingers ist weg, aber was soll man auch mit dem Glied eines kleinen Fingers, die Hand funktioniert trotzdem für alles und nur feine Damen spreizen den kleinen Finger ab, wenn sie Kaffee trinken. Darüber belehren ihn die Kollegen, als er aus dem Krankenhaus wiederkommt. Keine Situation ist für einen Witz zu ernst, die Jungs werden noch auf ihrem Totenbett Witze machen.

Er ist um dreißig Jahre Erfahrung reicher und trotzdem spürt er, dass eine andere Person ihr eigenes Leben unter seiner Haut lebt. Der Junge mit dem kurz geschnittenen Haar und dem FDJ-Halstuch, voll von Energie und Gutgläubigkeit an ein System, von dem er ein Teil war. Er, der zu dem Zwanzigjährigen wurde, der aus seinem provinziellen Leben ausbrach und lernte, was das Theater war, was ein Schauspieler war und obendrein in dem Ganzen die Erlaubnis bekam, etwas zu erleben, das man, wenn man einen Hang zu Romantik hatte, die große Liebe nennen könnte.

Im Spiegel des Badezimmers leuchten seine Augen noch blauer als sie es sonst schon tun. Niemand weiß richtig, wie andere Menschen einen sehen, sagt man, aber er weiß auf jeden Fall, dass die anderen seine Augen sehen. Ungewöhnlich blau, sagen die Frauen und die Männer schlagen die Augen nieder, als hätten sie Angst, geblendet zu werden. Blaue Augen sind etwas Ungewöhnliches bei seinen dunklen Haaren, die mit den Jahren dunkler und bisher nur etwas grau geworden sind. Der Körper ist immer noch muskulös, sehniger als damals und es ist Kraft in ihm, um schwere Versatzstücke zu heben, um Lampen aufzuhängen, gegenüber dem andere aufgeben müssen. Militärdienstverweigerer, die die Plätze füllen, die das Budget des Theaters nicht fassen kann, stehen daneben und staunen, wenn er loslegt.

Die Arme werden dafür gebraucht. Nicht um zärtlich den Rücken einer Frau zu halten, nicht um den Körper eines anderen Menschen eng an sich zu drücken. Das ist zu anspruchsvoll, eine Beziehung setzt voraus, dass man bereit ist, von seinem Leben zu erzählen, die wichtigsten Dinge bloßzulegen, jedenfalls in den einleitenden Phasen. Erzähl von deinem Leben, sagten die Frauen, auf die er sich ausnahmslos eingelassen hatte und er war nicht bereit. Ist es nie gewesen. Vielleicht wird es jetzt anders, das weiß er nicht.

Er hat zwei Urlaubswochen übrig und hier wird ihn niemand vermissen. Am Hauptbahnhof kauft er eine Fahrkarte für den Nachtzug, eine Einzelfahrkarte, denn wenn er es dort nicht aushalten kann, muss er nicht für einen Liegewagen bezahlen, den er nicht braucht. Vielleicht dreht er um, bevor er die Grenze erreicht, lange bevor er einen Fuß auf den Bahnsteig setzen kann, aber heute Abend wird er sich im Zug schlafen legen, so viel ist klar. Wenn er morgen wach wird, wird er im besten Fall dort unten auf den Bahnsteig treten und vielleicht ist es derselbe Bahnsteig wie der, von dem er vor all den Jahren aufgebrochen ist. In der Einzelfahrkarte liegt nichts Symbolisches, es ist ja nicht so, dass er sich überlegt hat, dort zu bleiben. Sein Leben ist hier, er lebt sicher, materiell gesehen ist er gut versorgt, kann das beste Fahrrad kaufen, ordentliches Essen essen und guten Wein und anständigen Kaffee trinken, ins Restaurant gehen, wenn er Lust dazu hat.

Er steht mit der Fahrkarte in der Hand auf den dunkelroten Fliesen des Bahnhofs, inmitten des Stroms von Urlaubsreisenden mit schreienden Babys und übervollen Koffern und irgendwo hinter den dunklen Fenstern versteckt sich die Polizeistation. Man behält die Dealer und Taschendiebe im Auge, normale Menschen haben nichts zu befürchten, wenn man mit „normale“ Menschen Dänen oder diejenigen meint, die ihnen ähneln. Die Leute schubsen und drängeln, ein Zug ist eingefahren und jetzt haben sie es eilig in die Stadt zu kommen, sich in einem der Missionshotels in seiner Straße einzuquartieren und dann raus zu den Vergnügungen, zum künstlichen Lächeln des Tivoli und dessen unverschämten Preisen, all das, wie er gelernt hat, das man lieben muss, wenn man dänisch sein will oder zumindest so tun will als ob.

Dann ist plötzlich eine Frau vor ihm stehengeblieben. Zuerst hört er nicht, was sie sagt, dann wird ihm klar, dass sie Deutsch gesprochen hat und dass sie nach dem Weg fragt. Ihre Erleichterung, als er auf ihrer Sprache antwortet, ist mit Händen greifbar, sie streift eine nervöse Hand durch blondes Haar, lächelt mit einem Mund, der in derselben dunkelrosa Farbe geschminkt ist, die ihr Kleid hat und bedankt sich überschwänglich, bevor sie mit ihrem kleinen Koffer zur Treppe am hintersten Ausgang davonrollt. Ihr Po wiegt leicht. Er ist rund, vielleicht etwas zu rund für seinen Geschmack, aber ihre Beine sehen kräftig aus und da ist etwas an ihrer ganzen Erscheinung, etwas Offenes und Schutzloses, das ihn dazu bringt, ihr zu folgen. An der Treppe holt er sie ein.

– Soll ich den Koffer nehmen?

Die blauen Augen erledigen ihre Arbeit. Sie entscheidet, dass er nicht gefährlich ist und überlässt ihm den Griff. Unterhalb der Treppe sagt er, dass sie denselben Weg haben und sie folgt ihm, geht rechts neben ihm und ihre Schritte passen zusammen, weder zu schnell noch zu langsam. Sie passieren Pornoläden mit ihren Dildos und Handschellen und er sieht sie dorthin schielen, aber zu seiner Erleichterung kommentiert sie das nicht. Ihr Hotel liegt einige Straßen entfernt und er geht an seiner eigenen Ecke vorbei und bringt sie bis zur Tür.

Sabine heißt sie. Geschichtslehrerin aus Berlin, Die Freie Universität. Die Reise nach Kopenhagen war eine Eingebung mitten in den langen Sommerferien. Viel zu lang, sagt der Unterton und es scheint, als wolle sie noch mehr sagen, hält aber inne.

Pläne, ja schon, sie ist vorher noch nie in der Stadt gewesen, also wird sie wohl das tun, was Touristen tun. Tivoli. Meerjungfrau. Was macht man noch?

In seinem Kopf sagt eine Stimme, sonst geht man noch mit mir ins Bett und sie klingt wie eine, die er nicht überhören sollte. Die Fahrkarte in seiner Hemdtasche hat seinen Blutkreislauf angeregt, der Tag ist bereits warm und es wird noch wärmer werden. Der Körper kribbelt von einer Energie, die mehr als eine Fahrradtour verlangt.

– Sabine, sagt er. – Ich zeige dir die Stadt.

Das hier kann er, konnte er schon immer, selbst in seinen naivsten Jugendtagen. Eine schnelle Entscheidung treffen und handeln, natürlich ohne dass ein möglicher Widerstand in die Überlegungen mit eingeht. Er wartet an der Rezeption, während sie den Aufzug nach oben nimmt und den Koffer wegbringt und er kommt nicht dazu, es zu bereuen, bis sie wieder unten ist. Im selben Kleid, aber in anderen Schuhen. Flachen, mit denen man gut auf Platten laufen kann.

Als sie durch die Drehtür rausgehen, weiß er, welche Geschichte er erzählen wird, wenn sie fragt, denn natürlich wird sie fragen. Die DDR ist nicht nur ein Strich auf der Landkarte, in seinem Leben hat die DDR nie existiert. In der Botschaft in Wien hat man ihn für einen Österreicher gehalten, in diese Rolle kann man leicht schlüpfen, er muss sich nur an eine Adresse erinnern und an ein paar Details aus dem Fernsehen, einen schwachen Dialekt kann er auch aufbringen. Er hofft nur, dass sich nicht herausstellt, dass die blonde Sabine in Wirklichkeit aus Salzburg stammt und einen Onkel in Wien hat.

Es ist das einfachste, ein anderer zu werden. Heute jener, morgen ein ganz anderer, seit 30 Jahren schwebt er unter allen Umständen frei und die Frage ist, ob er irgendwann einen Ort findet, wo er landen kann. Selbst das, was am stabilsten aussieht, ist vorläufig. Alles ist Zwischenstation und ob es überhaupt eine Endstation gibt, ist noch zu früh zu sagen.

Sabine plappert los, das meiste über ihren Job, all das Spannende, das passiert, jetzt, wo die Universität Zugang zu einer ganz neuen Rekrutierungsbasis erhält. Direkt von jungen Leuten, die gezwungen wurden etwas anderes zu studieren, als das, wofür sie sich interessierten, zu hochbegabten Forschern, die Schullehrer in irgendeiner Einöde gewesen sind und jetzt endlich mit dem arbeiten können, was sie sich wünschen. Sabine ist ein Kind der Jugendrevolte, die Universität ist ihr Zuhause gewesen. Mein Zuhause, sagt sie, alle meine Freunde habe ich dort, ich liebe meine Studenten, mein ganzes Leben kreist um diesen Ort. Das klingt wie ein Entschluss, den sie getroffen hat und er weiß, wovon sie redet. Sich entscheiden, dass die Wahl, die man getroffen hat, die richtige ist.

Sabine trabt neben ihm in ihren vernünftigen Schuhen energisch weiter, als habe das Treffen mit ihm einen Überschuss ausgelöst, der sie selber überrumpelt. Was er auch vorschlägt, sie ist einverstanden. Der Tag segelt stetig mit ihm am Ruder voran, er führt sie am Tivoli und der Meerjungfrau vorbei, zu all den Orten, die er selbst mag und sie genießt es wie ein kleines Mädchen. Ein »Stjerneskud« in einem der alten Gasthöfe lässt sie laut lachen, ein so poetischer Name für so viel Mayonnaise. Sie sitzen unter dem Sonnensegel mit ihren großen Fassbieren und einem Stück Apfelkuchen zum Kaffee und trotz ihres Protestes, bezahlt er die Rechnung. Dann ist es spät geworden und er muss noch ein paar Sachen regeln, bevor der Zug abfährt, aber es eilt trotzdem nicht zu sehr, sodass er sie zum Hotel zurückbegleitet. Begleitet sie im Aufzug nach oben, legt seinen Arm um ihren festen Körper und spürt, wie sie nachgibt, in ihn schmilzt und ihre Haut ist unter dem cerisefarbenen Kleid weich und duftet gut, auch wenn sie feucht und heiß wie der Tag draußen ist und sie will und sie will nicht. Der Körper will, das merkt er, aber sie verbirgt etwas. Er hat Frauen wie sie schon früher getroffen. Gebrannte Kinder, die das Feuer scheuen, das er entzünden könnte.

Sie liegen auf der Bettdecke und in seinem Hinterkopf tickt die Uhr, aber das soll sie nicht spüren, er überstürzt nichts und als er fertig ist, ist sie es auch. Sie hat im Zug schlecht geschlafen, dass hat sie bereits erzählt und jetzt ist sie satt und müde und er bleibt liegen, bis sie eingeschlafen ist. Er wirft sich in seine Klamotten und stiehlt sich aus der Tür, Leb wohl Sabine, wir werden uns nicht wiedersehen. Es gibt keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, Sabine hat mehr bekommen, als sie wollte. Das redet er sich selbst ein, während er seine Waschsachen und Kleidung zum Wechseln in seine Tourneetasche packt, plus die gewöhnlichen kleinen Dinge, die ihn dazu bringen, sich jeder Eventualität gewappnet zu fühlen. Es ist viele Jahre her, dass er Kondome auf Lager hatte, aber das Schweizermesser muss mit und eine Plastiktüte mit einem kleinen Handtuch, Schuhputzsachen in der Außentasche, ein Buch. Der Umschlag ist grün, der Text auf Dänisch, eine Übersetzung, die er vor einigen Jahren gekauft hatte. Aus Neugier. Oder etwas, dass man wohl Verlangen nennt. Mutter Courage und ihre Kinder. Es stand ungelesen in seinem Regal, jetzt begleitet es ihn auf der Reise.

Dies ist kein Entschluss. Seine Füße bestimmen selbst, seine Hände haben ihren eigenen Willen. Das Sofa knirscht, als er die Rückenlehne hochklappt, es ist nun alt und er hat angefangen darüber nachzudenken, es auszutauschen. Das Plastikpaket liegt dort, wo es die ganze Zeit gelegen hat, die Irma-Tüte mit ihrem Kunstwerk hat sich nicht verändert, Irma-Tüten sind solide. Genauso wie gewisse Erinnerungen überleben sie alle Veränderungen, werden nicht vom Zahn der Zeit angegriffen. Das Paket bekommt einen Platz in der Tasche, er schiebt es längs an einer der Seiten zurecht, ohne etwas zu zerknittern.

Es an den Ort zurückbringen, wo es herkommt. Es in den Fluss werfen, es auf dem Friedhof begraben. Oder es öffnen, falls er sich traut.

Die Süßkirschenzeit

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