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Prolog

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Das Erste, was ich höre, als ich aus der Kabine trete, ist der Lärm. Er ist ohrenbetäubend. Wie ein Teppich aus Klatschen, Grölen und Jubel von vierzigtausend Stimmen legt er sich über das Stadion und dämpft alle anderen Geräusche, die aus dem Inneren zu uns dringen.

Unbekannte Nervosität ergreift von mir Besitz. Das hier ist echt, es ist wahr – es passiert wirklich. Auf diesen Moment habe ich so lange gewartet. Seit fast zwanzig Jahren spiele ich Fußball. Seit fast zehn Jahren als Profi. Seit ein paar Jahren in der Bundesliga. Für die Borussia. Für Dortmund. Ich habe in meiner bisherigen Karriere einige Tiefschläge einstecken müssen. Verlorene Finalspiele. Komplizierte Klubwechsel. Den einen oder anderen Clinch mit der Boulevardpresse. Private wie berufliche Niederlagen.

Aber ich habe auch einige Siege errungen. Vor sechs Jahren wurde ich mit der U20-Nationalmannschaft Vizeweltmeister. Ein Jahr später gewann ich mit Bayer Leverkusen den UEFA-Cup. Ich bin erst 25.

Ich hebe den Kopf und lasse meinen Blick wandern. Meine Mitspieler sind genauso angespannt wie ich. Michael Schulz. Stefan Klos. Günter Kutowski. Gerhard Poschner. Michael Rummenigge. Und Ned Zelic. Jeder hat eine andere Strategie, mit der Nervosität umzugehen. Einer macht Scherze, einer hört nicht auf zu reden, andere beschäftigen sich mit den Einlaufkindern, manche haben die Augen geschlossen und murmeln irgendetwas vor sich hin.

Hinter mir steht Stefan Reuter. Er fängt meinen Blick auf, lächelt unsicher. Auch ihm ist die Anspannung deutlich anzusehen. Er ist nur zwei Jahre älter als ich und auch in seinem Kopf scheinen die Gedanken Achterbahn zu fahren. Oder ist sein Kopf leer? Keine Ahnung.

In diesem Moment kommt Ottmar Hitzfeld aus den Katakomben, unser Trainer. Er geht an uns vorbei, spricht Mut zu, klopft Schultern. Bei Michael Zorc bleibt er stehen. Susi ist unser Kapitän. Die beiden besprechen sich ein letztes Mal. Ich kann sie nicht verstehen.

Endlich kommt unser Gegner aus den Kabinen. Die Superstars vom AS Rom. Sie sind laut, viel lauter als wir. Sie scheinen so viel heiterer, aber sie sind ja auch der Favorit in diesem Spiel. Wenn wir so Spitzenleute wie Thomas Häßler, Ruggiero Rizzitelli, Sinisa Mihaj­lovic oder die brasilianische Abwehrkante Aldair in unseren Reihen hätten, würde es mir vielleicht ähnlich gehen. Es ist das Viertelfinal-Rückspiel im UEFA-Cup 1993. Die Römer haben das Hinspiel vor heimischem Publikum mit 1:0 gewonnen. Ein Grund mehr für ihren Optimismus.

Die Italiener stellen sich hintereinander auf. Neben mir reiht sich Icke Häßler hinter einem Kollegen ein. Er nickt mir zu. Man kennt sich, natürlich.

Das Hinspiel haben wir vergeigt – immerhin mit nur einem Gegentor. Der Jugoslawe Mihajlovic hat unter Beweis gestellt, warum die ganze Welt seine Fernschüsse fürchtet. Aber eigentlich sind wir gerade gut drauf. In der Bundesliga sind wir Vierter, nach einigen Startschwierigkeiten zu Beginn der Saison läuft es jetzt gut. Im November sind wir im DFB-Pokal gegen Werder rausgeflogen. Im Achtelfinale. Das war ärgerlich, aber Werder spielt eine überragende Saison. Vielleicht werden sie sogar Meister. Doch das hier ist der UEFA-Cup und neben uns steht der AS Rom. Der Europapokal hat einfach noch einmal einen ganz anderen Reiz als die nationalen Turniere.

Die Italiener quatschen ununterbrochen. Obwohl ich kein Wort verstehe, ist ihre gute Laune Gift für meine Konzentration. Also versuche ich mich auf das zu fokussieren, was vor uns liegt. UEFA-Pokal. Viertelfinale. Schon einmal habe ich diesen Wettbewerb gewonnen, 1988 mit Bayer Leverkusen. Ich kenne das Gefühl des Triumphes. Doch das ist lange her. Heute ist der 19. März 1993 und gleich wird das Spiel angepfiffen. Das Westfalenstadion ist fast komplett ausverkauft. Unsere Fans jubeln uns zu, kreischen, schreien, toben, stampfen mit den Füßen. Auf der Südtribüne, dort, wo unsere treuesten Anhänger stehen, singen sie die Vereinshymne.

Noch nie hat Dortmund im UEFA-Cup ein italienisches Team geschlagen. Ich hoffe, dass wir die Ersten sind, denen das gelingt. Aber wir haben einige Baustellen in unserer Mannschaft und mussten im letzten Moment umdisponieren. Stéphane Chapuisat kann nicht spielen. Für ihn bringt Hitzfeld die Doppelspitze Lothar Sippel und Flemming Povlsen. Damit fehlt uns ein Mann in der Mitte. Was heißt: mehr Einsatz, mehr Laufen, mehr verbrauchte Energie, die uns im nächsten Spiel fehlen wird. In so einer langen Saison kann das entscheidend sein.

Im Hinspiel in Rom war ich nicht in der Startelf. Ich konnte einfach nicht mehr, mir fehlte die Kraft. Ich war ausgepumpt und leer, kaum mehr in der Lage, ein Bein vor das andere zu setzen. Eigentlich unvorstellbar, dass ich heute wieder spielen kann. Eine Inzolen-Infusionstherapie mit Elektrolyten und Spurenelementen hat das möglich gemacht. Ich fühle mich so fit und kraftvoll wie seit Jahren nicht. Zum Glück. Wenn wir heute gewinnen wollen, brauchen wir jeden Mann.

Noch einmal schließe ich die Augen und atme tief durch. Die Geräuschkulisse ist wirklich gigantisch. Die Vorfreude auf dieses Spiel ist zu riechen, zu spüren. Es wird eine harte Prüfung werden, wir werden alles in die Waagschale werfen müssen, wenn wir gewinnen wollen.

Eine Stimme sagt: „Noch eine Minute.“

Mein Herz schlägt schneller. Ich kann das Blut hören, wie es in meinen Ohren rauscht. Ein paarmal atme ich tief ein und aus, versuche meiner Aufregung Herr zu werden. Die bisher größte Prüfung meines Lebens. Sie steht unmittelbar bevor.

Eine Glocke erklingt. Ich höre trippelnde Schritte, die von hinten auf mich zukommen. Ich bin verwirrt. Sind das die Einlaufkinder?

Nur Sekunden später schieben sich zwei kleine Körper flüsternd und kichernd an mir vorbei durch die hellbraune Tür, die ich seit einigen Minuten anstarre. Auf ihr klebt ein Zettel, darauf steht: Pantherklasse F5. Der Lärm im Raum hinter der Tür ist ohrenbetäubend.

Ich nehme die Schultern zurück, strecke die Brust raus und greife nach der Türklinke. Meine erste Unterrichtsstunde.

Anpfiff.

Wenn Fußball Schule macht

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