Читать книгу Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen - Lisa Lamp - Страница 8
ОглавлениеDer Mond geht auf
Liebe Marie!
Ich erinnere mich noch haargenau an den Moment, als ich im Schulgang vor den Spinden der dritten Klasse stand und an meinen Fingernägeln kaute. Damals war mir noch nicht klar, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich das kalte Blech an meinem Rücken spüre und sich eine Ecke in meine Wirbelsäule drückt.
Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen und es war immer noch unerträglich heiß, als würde der Sommer dieses Jahr gar nicht mehr vorübergehen wollen. Schweiß rann über meine Stirn und am liebsten hätte ich mir den Hoodie vom Leib gerissen oder die Ärmel hochgekrempelt. Meine hüftlangen Haare waren zu einem festen Zopf gebunden und lagen über meiner linken Schulter.
Ich keuchte vor Schmerz als ich mein Gewicht auf mein anderes Bein, das in der Zwischenzeit eingeschlafen war, verlagerte, bevor ich mich wieder auf meine Lernunterlage konzentrierte. Während ich in mein Französischbuch sah, schob ich meine Brille auf meine zu groß geratene Nase und las mir die Vokabeln durch, die in der fünften Stunde zu einer Wiederholung drankommen würden. Doch bis dahin hätte ich eigentlich noch Zeit gehabt, denn die dritte Stunde hatte noch nicht angefangen.
Emma, meine Klassenkollegin, die ich am ehesten noch als meine Freundin bezeichnen konnte, stand neben mir und erzählte gerade von ihrem Wochenende.
Ich weiß, was Du jetzt denkst, aber Emma wollte gar nicht, dass ich ihr wirklich zuhöre. Sie wollte nur über ihr Leben reden, ohne dass sie wirkte, als würde sie mit sich selbst reden. Es war eine stille Übereinkunft, die wir schon vor Jahren getroffen hatten. Wir hatten weder die Telefonnummer der jeweils anderen, noch verbrachten wir außerhalb der Schule Zeit miteinander. Nur während der Schulzeit hielten wir uns gegenseitig Sitzplätze frei und sammelten Mitschriften und Hausaufgaben, wenn die andere krank war. Wir verbrachten die Pausen zusammen, damit wir nicht alleine in einer Ecke stehen mussten, als hätten wir keine Freunde. Traurigerweise war genau das der Fall. Ich war nie ein Opfer von Mobbing und ich war auch nie beliebt. Ich war einfach immer unsichtbar. Die Schüler gingen an mir vorbei und selbst wenn ich fehlte, fiel es niemandem auf. Meine Mutter, eine Psychologin, die mit ihrem Beruf verheiratet war, meinte einst, als ich weinend in meinem Zimmer saß, dass es meine Schuld sei, dass niemand freiwillig mit mir Zeit verbringen will. Ich würde mich nicht genug bemühen, nett zu anderen Menschen zu sein und den Weg Gottes nicht befolgen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht auch erwähnen, dass meine Mutter eine gottesfürchtige Katholikin, ohne Bezug zur Realität, war.
Sie war nicht immer so, aber als mein Vater uns für seine schwangere Sekretärin verließ und eine neue Familie gründete, drehte sie von einem Tag auf den anderen durch. Seitdem war sie nicht wiederzuerkennen. Aber genug davon.
Emma und ich waren am Ende des Ganges angekommen, als es passierte. Ich weiß noch exakt, was sie damals zu mir sagte. Ziemlich erschreckend, dass ich genau auf ihren letzten Satz geachtet habe, aber von dem restlichen Vortrag keine Ahnung mehr hatte.
»Read, kannst du dir vorstellen, dass dir das passieren könnte?«, hatte Emma gesagt und im Nachhinein wünschte ich, ich wüsste, worüber sie gesprochen hatte. Aber ich konnte nicht mehr nachfragen. Ich war wie erstarrt, fast gelähmt. Eine von IHNEN hatte die Eingangstüren geöffnet und der Wind schlug die Glastür hinter ihr wieder zu. Sie schwebte über den Boden des Schulflurs und ich konnte hören, wie die Schüler um mich herum scharf die Luft einzogen, bevor ihr Atem stockte. Ich konnte meine Mitschüler verstehen. Sie war wirklich wunderschön. Ihr hellblaues Seidenkleid umschmeichelte ihre Taille und erinnerte mich an die Farbe ihrer Augen. Ihr langes blondes Haar fiel über ihren Rücken und an ihren spitzen Ohren hingen große Kreolen. Auch wenn ihr Lächeln wirklich bezaubernd war und ihre Füße, an denen sie keine Schuhe trug, über den Boden schwebten, wie bei einer guten Fee aus einem Märchen, machte sie mir Angst. Ich wusste nicht warum.
Ich wusste nur, dass dieses kleine Menschlein nicht hierhergehörte, doch wie alle anderen wusste ich, was von uns erwartet wurde, wenn jemand wie sie hier auftauchte.
Ich neigte den Kopf zur Brust und murmelte: »Fatum viam invenit.«
Damals hätte mich niemand fragen dürfen, was diese Phrase bedeutet, denn ich hatte keine Ahnung und ich schätze, Emma und den anderen Jugendlichen in meiner Schule ging es genauso wie mir. Natürlich war das nicht der richtige Moment, um mit meinen Gedanken in die Vergangenheit abzuschweifen, aber ich musste sofort wieder daran denken, dass uns schon im Kindergarten diese Zeilen beigebracht wurden und wie sehr ich es verabscheut hatte, da es für mich nie einen Sinn ergeben hatte. Zu meiner Verteidigung wäre zu sagen, dass ich auch dachte, niemals in die Situation zu kommen, einer von IHNEN gegenüberzustehen. Doch nun war es soweit. Auch wenn ich wusste, dass es sich nicht gehörte oder sogar streng verboten war, hob ich den Kopf, um das Geschöpf vor mir zu betrachten. Bei kurzer Betrachtung sah sie wie ein normaler Mensch aus, mit ihren hellblauen Kulleraugen und ihrem Piercing im rechten Nasenflügel. Doch sobald ich an ihrem Körper hinabsah, konnte ich sehen, dass das unschuldig aussehende Mädchen keinesfalls normal war. An ihren Schultern, wo das Kleid die zarte Haut freilegte, stachen mir blaue kleine Tattoos ins Auge. Sie sahen aus wie Wassertropfen und schienen sich unter meinem Blick zu bewegen. Als die Farben immer dunkler wurden, sah ich panisch zurück in das Gesicht des Mädchens. Sie lächelte. Es war absurd. Sie stand einfach da, grinste mich an und klatschte drei Mal in die Hände.
Plötzlich wurde alles schwarz um mich herum und ich konnte nichts mehr sehen. Weder die grässlichen Schulwände, deren Farbe an ein Gefängnis erinnerte, noch das zierliche Gesicht mit den puppenhaften Augen. Auch mein Gehörsinn verließ mich nach und nach. Ich konnte das Atmen der anderen Schüler nicht mehr hören, auch wenn ich mich penetrant darauf konzentrierte. Bumm, bumm, bumm, hörte ich mein eigenes Blut in meinem Kopf pochen. Ich lehnte mich, um nicht zu fallen, an den Spinden hinter mir an.
»Read!«, schrie jemand und ich sah mich panisch um,
ohne auch nur einen Funken zu sehen.
»Read!«, hörte ich die Stimme wieder und drückte meine Handflächen auf meine Ohren.
»Wir brauchen dich, Read. Komm nach Hause!«
Die Stimme wurde immer lauter. Meine Sicht verschwamm, doch anstatt wieder die kalten Schulmauern und meine idiotischen Mitschüler zu sehen, sah ich Flammen. Vor mir loderte ein Feuer und Menschen liefen wie wild durch die Gegend. Eine lange Straße erstreckte sich vor mir und überall war es schmutzig. Es war heiß durch das Glühen des Feuers und es stank bestialisch. Ein Kind, höchstens zehn Jahre alt, saß in einer Ecke zwischen zwei Häusern und hatte eine alte Porzellanpuppe in der Hand. Das Gesicht der Puppe war voller Ruß und auch die Kleidung des Mädchens war kohlrabenschwarz vor Dreck. Doch am schockierendsten war, dass am Saum des Kleides trockenes Blut klebte. Das Kind wippte vor und zurück und sang leise vor sich hin. So leise, dass ich sie kaum richtig verstehen konnte.
»Kleines Püppchen, kleines Püppchen, die Welt ist grausam und gemein«, summte sie vor sich hin und streichelte dem Spielzeug über die künstlichen Haare. Die Flammen kamen näher und die Schreie der Menschen gingen mir durch Mark und Bein. Sie versuchten, sich hinter Häusern und in kleinen Spalten zu verstecken, doch überall wurden sie gefunden. Das Meer aus Flammen verschlang alles. Das Gemurmel der Kleinen war tröstlich in dieser Umgebung. Sie wirkte unbekümmert, auch wenn ich durch die Puppe ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Als die Hitze nur noch wenige Meter von der Kleinen entfernt war, sprang sie auf und drehte sich zum Feuer, sodass ich ihren Rücken sehen konnte. Ihr Kleid war hinten aufgerissen und ihre Haut war verkrustet. Ihre langen blonden Haare waren verfilzt und ein Käfer krabbelte an einer fettigen Strähne entlang. Die Puppe baumelte an ihrer rechten Hand hinunter. Die Nägel des Kindes waren eingerissen und auch auf ihren Handrücken sammelte sich der Schmutz der Straße.
»Lauf!«, schrie ich ihr zu, als das Feuer das Haus vor dem Mädchen verschlang und für immer zerstörte.
»Wohin?«, fragte das Mädchen und streckte die Arme aus, als wollte sie mir zeigen, dass alles zerstört war und es für sie keinen Ort mehr gab.
»Weg vom Feuer!«, rief ich hysterisch vor Angst, weil die Flammen das Mädchen fast erreicht hatten.
»Wenn wir nicht brennen«, fing sie an und drehte sich zu mir um, »wie wird dann die dunkle Nacht erleuchtet?«
Im ersten Moment entglitten mir die Gesichtszüge. Kurz setzte mein Herz für mehrere Schläge aus, um mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Mein Blutdruck stieg drastisch an und meine Atmung beschleunigte sich. Ich musste diesem Mädchen einfach helfen. Ohne länger zu überlegen, rannte ich los, um sie wegzuziehen. Ich rannte so schnell mich meine Beine trugen, doch es kam mir vor, als ob der Weg immer länger und länger werden würde. Tränen begannen meine Wangen hinunterzufließen und meine Füße verloren den Halt, sodass ich auf den Beton unter mir mit den Knien voran aufschlug.
»Vergiss nicht. Nihil fit sine causa«, flüsterte sie und trotz der Entfernung konnte ich ihre helle Stimme hören. Als die Flammen kamen, blieb sie still. Als ihre Haut Blasen warf und dunkelrot wurde, grinste sie. Ihre
Haarpracht zerfiel zu Staub und sie lachte. Nihil fit sine causa, nichts geschieht ohne Grund. Ja vielleicht. Doch damals, als meine Sicht wieder schwarz wurde und ich nur noch das Lachen des armen Mädchens im Ohr hatte, hätte ich lieber alles und jeden verklagt, als mir darüber Gedanken zu machen, ob sie recht hatte.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als ich wieder sehen konnte, stand Emma neben mir. Sie schien sich nicht einmal bewegt zu haben. Das Miststück, das nicht hierhergehörte, stand einfach da, als wäre es das Normalste auf der Welt und versuchte uns mit ihrem Blick zu röntgen. Ihre hellblauen Augen funkelten, während sie den einzelnen Schülern ins Gesicht sah. Bei jedem hielt ihr Blick kurz inne. Bei einigen länger als bei anderen und ich konnte diese Schüler unter ihrem Blick erzittern sehen.
Als sie bei Emma und mir ankam, wandte sie ihren Blick nicht mehr ab. Mir war bewusst, dass ich den Kopf eigentlich wieder senken müsste, da es angeblich Unglück brachte, eine Chooserin, wie die Wesen von uns genannt wurden, anzusehen. Doch der Schock darüber, dass das Geschöpf direkt auf uns zukam, lies mich die Regeln vergessen. Es war mir im Grunde auch egal wer sie war. Ich wollte einfach, dass sie wieder verschwindet. Vor uns angekommen, erschien ein noch breiteres Lächeln auf ihrem Gesicht, sodass eine Reihe perfekter weißer Zähne zum Vorschein kam. Emma lächelte die
Dame an, doch ich lies einfach meine Bücher vor Angst fallen. Selbst meine Mutter und ihre Bestrafungen lösten in mir nicht die Panik aus, die das Wesen in mir verursachte. Meine Hände waren in der Zwischenzeit schweißnass geworden und ich bekam eine Gänsehaut, als sie mich ansprach.
»Was wollen Sie hier?«, fragte ich mit einem genervten Ton, um die Furcht zu überspielen.
Die Chooserin zuckte zusammen und kurz hatte ich das Gefühl, dass sie auch nicht gerne hier war. Ich seufzte im Stillen und wünschte mich zurück auf meine alte Matratze.
Das strahlende Lächeln, das sie bis jetzt aufgesetzt hatte, verschwand aus ihrem Gesicht und sie murmelte: »Es tut mir so leid, dass dir das passieren musste«, bevor sie ihre Hand auf mein Schlüsselbein legte und ein stechender Schmerz durch meine Brust fuhr, noch bevor ich ihre Hand von mir stoßen konnte.
Ich hatte das Gefühl, als würde der Schmerz mich auflösen und gleichzeitig wieder zusammensetzen. Er zog sich über meine Haut in mein Blut und dann tief in meine Knochen, wo er noch einmal explodierte. Mein Gesicht verzog sich zu einer Fratze und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, lies mich fast vergessen zu atmen. Mein Herz klopfte gegen meine Rippen, als würde ich einen Marathon laufen. Ich bekam nicht mit, wie meine Füße unter mir nachgaben und ich auf den kalten Boden fiel oder wie Emma meinen Namen schrie, weil sie nicht wusste, was hier los war. Aber ich wusste es. Mutter hatte uns eingebläut wir sollen weglaufen, wenn wir einen Chooser sahen, weil sie gefährlich, böse und wider die Natur waren. Doch ich hatte ihr immer gesagt, dass es dazu nie kommen würde. Jetzt war es zu spät. Die Chooserin hatte mich als Anwärterin erkannt und mich solange gesucht, bis sie mich in meiner Schule gefunden hatte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und mir wurde eiskalt. Als wäre schon tiefster Winter. Ein Schweißfilm lag auf meiner Haut und mein Körper fühlte sich nicht mehr an wie ein Teil von mir. Das Buch, das mir heruntergefallen war, stach gegen mein Bein, doch ich konnte mich nicht bewegen, weshalb ich nichts dagegen tun konnte. Kurz bevor ich dachte, dass ich nun sterben müsste, verschwand die Qual und lies nur ein Kribbeln auf meinem Dekolleté zurück.
Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass auf meinem Schlüsselbein nun ein Brandmal war, das mich wie ein Vieh als Anwärterin kennzeichnete. Ich brauchte auch keine schreiende Emma, die auf und ab sprang, um schlussendlich panisch wegzulaufen. Ich verdrehte meine Augen und starrte in das Gesicht des Mädchens, das mein Leben, wie ich es bis jetzt kannte, zerstört hatte. Ihre Augen waren hell wie der See, an dem ich als Kind immer schwimmen war. Kurz dachte ich daran, dass ich mich wohl nie wieder an den See setzen würde, um meine Füße in den Sand zu stecken und den Wellen beim Fließen zuzusehen.
»Wir erwarten dich im schwarzen Wald«, flüsterte sie mir ins Ohr und küsste meine Wange.
Danach erhob sie sich und ging einfach den Weg zurück, den sie gekommen war. Es war grausam, die wunderschöne Frau gehen zu sehen. Sie ließ mich allein auf dem kalten Boden zurück und noch nie zuvor in meinem Leben wünschte ich mir so sehr, unsichtbar zu sein, wie vor einer Viertelstunde. Ausnahmslos alle, die nicht weggelaufen waren, sondern sich nur hinter Spinden versteckt hatten, krochen aus ihren Verstecken und starrten mich an. Ihre Blicke trafen mich wie Messerstiche und ich fürchtete mich davor, in ihre Gesichter zu sehen. In den Augen von ihnen war ich wohl jetzt ein Freak, genauso wie Cassandra Middleton damals ein Freak für mich gewesen war, als ich davon gehört hatte, dass die vierfache Klassensprecherin auserwählt wurde. Geholt trifft es wohl eher, denn danach sah man sie nie wieder. Das war das übliche Vorgehen. Jemand wurde gebrandmarkt, an einen geheimen Ort verschleppt und tauchte nie wieder auf. Niemand, der nicht auserwählt wurde, hatte je erfahren, was aus den Kindern wurde. Auch mich würden sie nicht wiedersehen. Alle Schüler waren sich diesem Umstand bewusst.
Im Endeffekt war ihre Meinung auch nicht wichtig und ich wollte mich jetzt nicht mit ihnen beschäftigen. Das
Einzige, das ich wollte, war allein zu sein und mich vor der restlichen Welt zu verstecken.
Nun gab es für mich nur zwei Möglichkeiten und beide fand ich nicht besonders berauschend. In den nächsten Tagen sterben oder dem mysteriösen Mädchen folgen. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, sammelte meine Sachen vom Boden auf, erhob mich und rannte, so schnell meine Beine es zuließen, aus der Schule. Die Kapuze meines Hoodies zog ich tief in mein Gesicht, um mich für Passanten unkenntlich zu machen. Wir lebten in einem kleinen Ort und es würde nur wenige Stunden brauchen, bis ausnahmslos alle Bewohner Bescheid wussten. Die aufgeregten Schreie ignorierend, und mein altes Leben hinter mir lassend, sprintete ich über den Rasen des Schulhofs. In mir war immer noch die kleine Hoffnung, dass ich morgen aufwachte und alles nur ein Traum war. Vielleicht hoffte ich auch einfach, dass sich alles regeln würde. Doch wie falsch ich damit lag, sollte ich erst merken, als ich an unserem Gartenzaun ankam. Wie so oft hatte ich auf dem Weg nach Hause zu Gott gebetet, oder wer auch immer mit unserem Leben Schach spielte, dass meine Mutter nicht im Haus war, wenn ich ankam. Doch wie immer wurde ich nicht erhört. Sie stand in der Küche und telefonierte mit Elizabeth Fletscher, der Mutter von einer meiner Mitschülerinnen, die ich natürlich nicht näher kannte. So leise wie möglich kletterte ich die Rosenranke zu meinem Zimmerfenster hinauf und war zum ersten Mal froh, dass meine Erzeugerin mir nicht erlaubt hatte, in den Dachboden einzuziehen.
»Danke für den schnellen Anruf Elizabeth. Das ist ja furchtbar. Wie sich die Eltern wohl fühlen müssen. Stell dir das vor«, erklang die scheinheilige Stimme meiner Mutter von unten und ich bewegte mich noch schneller. Ich stieg durch die kleine Fensteröffnung, die ich immer offen ließ und fühlte wieder festen Boden unter meinen Füßen. Ich nahm meine Weste aus meinem schwarzen Lederrucksack und tauschte sie gegen den Kapuzenpullover, sodass das Mal auf meiner Haut nicht mehr zu sehen war.
»Das arme Mädchen ist bei Gott in Ungnade gefallen. Wir sollten dringend für sie beten. Nicht auszumalen, was nun mit ihrer armen verstümmelten Seele passiert, wo der Teufel für sie Sorge trägt. Ich hoffe, die Eltern sind so besonnen und tun das einzig Richtige mit dem Mädchen«, ertönte erneut Mamas Stimme und obwohl ich nicht wusste was Mrs. Fletscher darauf erwiderte, ließen Mutters nächste Worte das Blut in meinen Adern gefrieren.
Natürlich hatte ich schon damit gerechnet, dass meine Erzeugerin mich nicht mit offenen Armen ohne einen Pfarrer empfangen würde. Immerhin hatte sie mich bei jedem kleinen Fehler eingesperrt, um Buße zu tun. Sie hat auch schon an mir einen Exorzismus durchführen lassen, als ich einmal ohne nachzudenken gesagt hatte, dass Gott ein alter Mann ohne Gewissen sei, der sich nicht mehr um die Menschen kümmere, seit er bemerkt hatte, dass uns die zehn Gebote nicht im mindesten interessierten. Doch mit der Kälte und der Endgültigkeit in ihrer Stimme hatte ich nicht gerechnet.
»Der Tod wäre am gnädigsten.«
Der Satz hallte in meinem Kopf wieder und auch meine letzte Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde, zerbröselte. Aber um ehrlich zu sein, hatte sie recht. Der Tod war eine der zwei Möglichkeiten. Doch wäre es wirklich besser, als zu diesen Monstern, die sich von der restlichen Welt abschotteten, in den schwarzen Wald zu gehen? Ehrlich gesagt war ich überrascht, wie schnell sich die Nachricht über mich verbreitet hatte, doch gleichzeitig war ich froh über die Lückenhaftigkeit, denn anscheinend hatte meine Mutter keine Ahnung, dass ihre eigene Tochter das Mädchen war, das sie zum Teufel jagte.
Die fünf kleinen Worte hatten mich aus der Bahn geworfen. Ich sank auf dem Boden zusammen und Tränen liefen mir ungehindert über meine heißen Wangen. Schon wieder weinte ich.
Glaub mir, ich war nie ein gefühlsduseliger Mensch gewesen und zweimal am Tag hatte ich bestimmt noch nie geheult wie ein Schlosshund. Die Angst, dass jederzeit meine Mutter durch die Tür kommen könnte, um mein Leben zu beenden, ließ mich jedoch schon nach wenigen Minuten wieder aufspringen und meine Sachen zusammenpacken. Ich wusste noch nicht wohin ich gehen sollte, doch eins war klar: Ich musste sofort hier weg, solange ich selbst die Entscheidung treffen wollte, was ich nun mit meinem Leben anfing.
Als mein schwarzer Lederrucksack vollgefüllt war, steckte ich noch ein Bild von meinem Bruder und mir in die Hosentasche und stieg aus dem Fenster. Ein letztes Mal wandte ich mich zu meinem alten Zimmer um. Bis auf die löchrige Matratze und die Dutzend Kreuze an der Wand wirkte es kalt und leer.
»Melde dich bei Zeit wieder, Elizabeth«, meinte Mutter gerade und ich erschrak aufgrund des Klangs ihrer Stimme.
Ich rutschte ab und kam auf meinem linken Knöchel auf. Fest biss ich meine Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Die Tränen verschleierten immer noch meine Sicht, doch ich durfte nicht stehen bleiben. Das Mal kribbelte auf meinem Schlüsselbein und meine Lippen zitterten. Ich zog die Kapuze meiner Weste über meinen Kopf und atmete tief durch. Die Mittagssonne schien in voller Pracht und als mein Magen anfing zu knurren, bereute ich langsam, nicht gefrühstückt zu haben. Kurz übermannte mich der Schmerz beim Auftreten, doch ich zwang mich, meinen Weg fortzusetzen. Zuerst lief ich die verlassenen Straßen entlang. Vorbei an den Häusern, in denen die Menschen, mit denen ich aufgewachsen war, wohnten. Ich rannte und rannte, ohne mich noch einmal umzudrehen. Die Katze unserer Nachbarn kreuzte meinen Weg und miaute unzufrieden, da ich sonst immer anhielt, um ihr schwarzes Fell zu streicheln. Früher hatte ich mich extra hinausgeschlichen, um mit dem Tier zu spielen, doch nun hatte ich dafür keine Zeit. Das Adrenalin schoss durch meine Blutbahnen und auch wenn ich eine geübte Läuferin mit hartem Training war, ging mir langsam die Puste aus, weshalb ich anhielt, um zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
Zurück konnte ich schlecht. Unvorstellbar, was meine Mutter mit mir tun würde, wenn ich zurückkam. Kurz bekam ich ein schlechtes Gewissen wegen meines Bruders und das Knattern des Bildes bei jedem Schritt machte es nicht besser. Doch dieses eine Mal musste ich an mich denken, auch wenn ich ihn damit allein ließ.
Meine Großmutter wäre eine Option, immerhin redeten Mama und sie kaum noch miteinander, seit Vater uns verlassen hatte. Sie würde Mama aber verraten, dass ich bei ihr war, wenn meine Mutter sie anrufen und gespielt weinen würde. Das war häufig passiert, wenn ich wieder einmal bei Großmutter untergekommen war, weil ich einen Fehler gemacht oder schlechte Noten geschrieben hatte. Jedes Mal hatte es für mich in Schlägen und einer Woche Zimmerarrest geendet. Mehr Verwandte hatte ich nicht. Genauso schlecht sah es mit Freunden aus.
Um mich besser konzentrieren zu können, spazierte ich durch die fremden Straßen, bis ich eine kleine Pension fand. Ich hatte von zuhause genug Geld für mehrere Nächte mitgehen lassen, weshalb nichts dagegensprach. Ich checkte ein.
Der Herr am Empfang interessierte sich nicht dafür, woher ich das Geld hatte und gab mir ein Zimmer, das ich im Voraus für eine Nacht bezahlen musste. Vermutlich wollte er sicher gehen, dass ich mir das Zimmer leisten konnte, doch mich kümmerte das nicht. Ich war unglaublich müde vom Laufen und meine Beine schmerzten. Wahrscheinlich hatte ich jetzt große Blasen an den Füßen, aber darauf konnte ich zum jetzigen Zeitpunkt keine Rücksicht nehmen. Mehr humpelnd als gehend suchte ich mein Zimmer mit der Nummer 13. Passend oder nicht?
Als würde ich noch mehr Anzeichen dafür brauchen, dass ich verflucht war. Die Pension war nicht besonders modern, doch dafür war alles sauber. Gegen die Farbe Blau hatte ich nichts, aber es erschien alles ein wenig eintönig. Die Tapete war dunkelblau, die Vorhänge hellblau, die Kommoden waren kobaltblau glasiert worden und sogar die Türen waren eisblau gefärbt.
An meinem Zimmer angekommen, steckte ich den Schlüssel ins Loch und drehte ihn nach links. Die Holztür schwang nach innen auf und gab den Blick auf ein kleines Zimmer frei. Auch hier war alles blau und nur die Bettwäsche war weiß. Die Fensterbank war mit Blumen verziert und ein Spiegel hing neben dem Fenster. Im Zimmer standen ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein richtiges Bett. Ich ließ meinen Rucksack in die nächstgelegene Ecke und mich mit dem Rücken voran auf die Matratze aus Daunenfedern fallen. Zu lange war es her, seit ich das letzte Mal in einem Bett gelegen hatte. Meine Augenlider waren schwer wie Blei und ich hatte nicht mehr die Kraft, um mir die Schuhe auszuziehen, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Es war kühl und ich spürte kleine Wassertropfen auf meiner Haut. Vor mir erstreckte sich eine lange, gerade Straße, doch durch den Nebel konnte ich nicht erkennen, wohin sie führte. Nicht einmal meine eigene Hand vor meinen Augen konnte ich sehen. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich zuckte zusammen, als ich das laute Miauen einer Katze hörte. Erschrocken versuchte ich, in der Ferne etwas zu erkennen, doch es war alles still. Nirgendwo war etwas zu sehen. Ich begann, die Straße hinunterzulaufen. Vorbei an den grauen Häusern und weg von dem Nebel, der mich einhüllte, doch er schien immer dichter zu werden. Der Wind wehte und bewegte das Seidenkleid, das sich an meine Haut schmiegte, hin und her. Meine dunklen Haare flogen mir immer wieder ins Gesicht. Das Blut rauschte in meinem Kopf und ich versuchte, schneller zu laufen, um von der leergefegten Straße wegzukommen, aber der Weg schien endlos zu sein. Je weiter ich ging, desto dunkler wurde meine Umgebung, bis ich fast nichts mehr sah.
Im nächsten Augenblick blieb ich stehen, da sich der Boden unter meinen nackten Füßen veränderte. Mit meinem auf wundersame Weise geheilten Bein tastete ich den Boden ab.
Statt des rauen Asphalts fühlte ich nun Grashalme zwischen meinen Zehen. Langsam kamen auch die Farben wieder zurück und der Nebel verflüchtigte sich. Jetzt konnte ich den Vollmond am Himmel leuchten sehen, wodurch meine Umgebung heller wurde. Mein Blutdruck beruhigte sich und eine angenehme Stille trat ein. Ich konnte den Geruch von Laub, der sich mit Kiefernnadeln mischte, riechen und schloss genießerisch die Augen. Die Zweige zerbrachen unter meinem Gewicht und ich konnte Tiere herannahen hören. Besorgt schluckte ich und versuchte, mich unauffällig zu verhalten. Ich wusste nicht, wo ich war, aber seltsamerweise gefiel es mir und ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Bäume sammelten sich vor mir und versperrten mir den Weg. Die Äste zerkratzten meine Unterarme, mit denen ich mein Gesicht zu schützen versuchte, und ich blieb mit dem knielangen Kleid an den Sträuchern des Waldes hängen. Es war so eng, dass ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen.
Wieder miaute eine Katze und ich fiel vor Schreck auf die feuchte Erde. Genervt stöhnte ich auf, als ich versuchte aufzustehen, da ich auf dem nassen Boden ausrutschte. Blätter klebten auf meinen geröteten Handflächen und meine nackten Beine lagen mitten im Matsch. Es schüttelte mich vor Ekel und ich sprang schnell auf. Ich lief weiter über den Waldboden, bis das Dickicht sich auflöste und eine kleine Lichtung sich vor mir erstreckte. Der Weg war mit weißen Blumen, die mich an die Schneeglöckchen im Garten meiner Großmutter erinnerten, von der Wiese abgegrenzt. Um den Platz versammelten sich die Tiere. Eine einsame schwarze Katze saß auf einem gigantischen Steinbrunnen, aus dem klares Wasser floss, das in den Farben des Regenbogens schimmerte. Doch das alles war mir einerlei. Es wirkte unbedeutend neben der eineinhalb Meter großen Frau, die vor dem Brunnen stand.
Sie wirkte zierlich und gleichzeitig machtvoll. Ihr silbernes Haar hing über ihre Schulter. Auf ihrem Haupt war eine Krone aus Blättern, die perfekt zu ihrem bodenlangen Kleid in sattem Grün passte. Sie war in meinen Augen wunderschön, doch je näher ich ihr kam, dest mehr ängstigte sie mich. Mitten in ihrem Gesicht befand sich eine gezackte Narbe und auf ihrer Stirn prangte das rote Brandmal der Auserwählten, ein dreizehnzackiger Stern. In ihrer durchsichtigen Iris spiegelte sich der Mond und ein tiefes Lächeln zierte ihre Lippen.
»Willkommen zurück Read.«
»Zurück?«, murmelte ich fragend.
Wenn ich schon einmal an einem Ort wie diesen gewesen wäre, könnte ich mich daran erinnern. Ich zuckte zusammen und sah mich verwirrt in der Gegend um. Ich atmete tief durch und versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen.
»Alles ist gut, hab keine Angst«, hörte ich die geflüsterte Stimme wieder.
Doch es war niemand, der geredet haben könnte, da. Die Lippen der Frau hatten sich keinen Millimeter bewegt. Es ist nur ein Traum. Nichts von alledem ist echt, versuchte ich mir einzureden.
»Es ist zwar ein Traum, doch es ist trotzdem real«, meinte die Stimme geheimnisvoll.
Ich schnaubte unzufrieden. Die Frau musterte mich und das Lächeln verschwand. Sie begann mit ihrer rechten Hand die schwarze Katze hinter ihr zu streicheln und setzte sich auf den Rand des Brunnens. Ein Zipfel ihres Kleides hing ins Wasser, doch die Frau schien sich nicht daran zu stören.
»Setz dich zu mir«, hörte ich die helle Stimme wieder in meinem Kopf, aber ich dachte nicht einmal daran, mich von der Stelle zu bewegen. Ich verstand nicht, warum ich hier war und was sie von mir wollte. Verdammt, ich wusste noch nicht einmal, wo »hier« genau war.
»Du wirst in Zukunft lernen müssen, dass vieles, was dir unverständlich scheint, doch klarer ist, als du zu Anfang dachtest. Aber ich bin nicht hier um dir das mitzuteilen, Read.«
Ich wartete, dass die Dame ihre Worte erklären würde, doch sie ließ den Satz einfach offen. Auch erklärte sie nicht, woher sie verdammt nochmal meinen Namen kannte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich sie von früher kannte, doch ich hätte schwören können, diese Frau noch nie gesehen zu haben.
»Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Ich war dabei, als du laufen und essen gelernt hast. Auch war ich anwesend, als du ängstlich an deinem ersten Schultag in deine Klasse gewandert bist. Selbst als du dein erstes Zeugnis bekommen hast, war ich bei dir. Du jedoch kennst mich nicht. Wer ich bin ist auch nicht wichtig. Viel wichtiger ist, wer du bist.«
Am liebsten hätte ich mir mit der Hand auf die Stirn geschlagen. Ich wusste, wer ich war. Ich war Read Silverton, 18 Jahre alt und Schülerin der Santa Guerra Hochschule.
Doch noch während ich nachdachte, merkte ich, dass es nicht mehr stimmte. Ich war nicht mehr die Tochter meiner Mutter, die Schulfreundin von Emma oder Schülerin an einer der besten Schulen dieses Landes. Ich war eine Ausreißerin auf der Flucht, ohne gute Perspektiven für die Zukunft.
»Warum sind sie hier? Was wollen Sie von mir?«, schrie ich der Frau entgegen, die einfach ruhig mit der Katze auf dem Schoß am Brunnen saß und wieder begann mich anzulächeln.
»Mein Name ist Diana. Zumindest nannte mich die Menschheit früher so. Ich bin hier, um dich zu erinnern, dass du in die falsche Richtung läufst.«
Zum ersten Mal bewegte die Dame ihre Lippen, wodurch ihre Stimme noch wärmer klang. In ihren Augen glitzerte etwas Wissendes und auf einmal wirkte sie wahnsinnig alt auf mich, auch wenn sie höchstens dreißig Jahre alt sein konnte.
»Der schwarze Wald befindet sich in der anderen Richtung.« Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand. Der schwarze Wald, der Ort für all die Unglückseligen, die von den Choosern, den Dienern des Bösen, auserwählt worden sind. Zugegeben, diese Erklärung stammte von Mama, aber es würde schon etwas Wahres dran sein.
»Was soll ich dort?«, fragte ich aufgebracht.
Ich war aufgewühlt und spürte innerlich große Wut in mir. Wut auf die Chooserin, die mich in diese Lage gebracht hatte. Wut auf mich, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte und Wut auf Diana, die nur in unverständlichen Rätseln sprach.
»Dein Schicksal erfüllen«, erwiderte die Frau und verzog ihr Gesicht mitleidig.
»Nein, danke für das Angebot«, gab ich ohne nachzudenken von mir und setzte ein gespieltes Grinsen auf.
Ich wollte bloß nicht zeigen, dass meine Beine vor Angst zitterten, deshalb hob ich zusätzlich das Kinn und erwiderte den starren Blick der Göttin. Mein Gegenüber schüttelte traurig den Kopf.
»Dir wird aber nichts anderes übrigbleiben. Fatum viam invenit.«
Sie betonte jedes Wort und ich wollte sie nur anschreien, denn nach all den Jahren wusste ich endlich, ohne eine Antwort darauf bekommen zu haben, was diese beschissene Phrase bedeutete. Das Schicksal findet seinen Weg. In diesem Moment hasste ich diesen Satz und alles, wofür er stand. Ich hätte schreien können vor Hass, doch ich schrie nicht. Ich tat gar nichts. Dabei wollte ich nichts lieber als ihr verständlich zu machen, dass ich ein normaler Mensch war. Ich blieb einfach nur wie erstarrt stehen, als sie aufstand und auf mich zukam.
»Du schaffst das. Dafür wurdest du geboren, Tochter der
Nacht. Dein gesamtes Leben wird sich ändern.«
Mein Leben war kein Zuckerschlecken gewesen, doch Veränderungen bedeuteten nie etwas Gutes. Die Frau sah die zwanzig Zentimeter zu mir auf, bevor sie ihre Hand ausstreckte und mein Schlüsselbein entlangfuhr. Meine Lippen bebten und mein Herz schlug gegen meine Brust. Mein Atem ging stoßweise. Fest biss ich die Zähne zusammen und unterdrückte den Drang, ihre Hand wegzuschlagen.
»Vergiss nicht, du bist nicht allein. Du wirst nie wieder allein sein.«
Ich war gut im Alleinsein, wollte ich sagen, doch wieder blieb ich stumm. Mein Brustkorb begann zu kribbeln und dann wurde alles schwarz.
Ich schreckte aus dem Schlaf, als ich ein Klopfen an der Tür hörte.
»Einen Moment!«, rief ich und sprang aus dem Bett. Ich öffnete die Tür, doch auf dem Gang war niemand zu sehen. Als ich mit meinem verletzten Fuß auftrat, spürte ich einen schmerzhaften Stich und seufzte frustriert. Das würde eine Weile weh tun. Ich schmiss die Tür wieder zu, in dem Glauben, es mir eingebildet zu haben, und ging in das kleine Badezimmer neben dem Fenster. Es sah sauber aus und ich beschloss, mir den Angstschweiß dieser Nacht abzuwaschen. Ich fühlte mich klebrig, weshalb ich froh war, dass ich mein Duschgel von zuhause eingepackt hatte. Während warmes Wasser aus dem Duschkopf floss, zog ich mir die enganliegende Hose aus und schälte mich aus meinem Tanktop.
Gerade als ich meine Unterwäsche auf den geschlossenen Toilettensitz legte, klopfte es wieder an der Tür. Verärgert schnappte ich mir ein Handtuch und wickelte meinen Körper darin ein. Ich humpelte zum Eingang und riss die Tür mit Schwung auf, doch wieder war niemand zu sehen. Ich atmete tief durch und schloss die Tür wieder mit einem lauten Knall.
Kurz darauf stand ich unter der Dusche. Der Dampf fühlte sich sanft auf meiner Haut an und das Wasser entspannte meine Muskeln. Genießerisch schloss ich die Augen und ließ mich von der Wärme einlullen. Wie aus weiter Ferne hörte ich wieder ein Klopfen, doch diesmal ignorierte ich es. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Fliesen der Badezimmerwand, die sich kühl an meinem erhitzten Körper anfühlten. Langsam fiel der Schockzustand von mir ab und ich konnte endlich tief durchatmen, ohne dass mir die Angst die Kehle zuschnürte. In meinen Wimpern schimmerten Wassertropfen und meine nassen Haare klebten an meinem Rücken. Es klopfte wieder und ich begann, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, bis ich Kopfschmerzen bekam. Ich rollte genervt mit den Augen, weil die angenehme Atmosphäre der Glückseligkeit wieder verschwunden war. Das Duschgel stand griffbereit und ich seifte mich Zentimeter für Zentimeter ein. Das Klopfgeräusch wurde lauter. Ich duschte mich ab, um den dreckigen Schaum abzuspülen, und auch Minuten später, als der Seifenschaum schon verschwunden war, ließ ich das Wasser noch über meinen Körper fließen. Danach nahm ich das Handtuch und rubbelte meine Haut trocken. Als ich an meinem Dekolleté ankam, erstarrte ich. Mein Schlüsselbein zierten weinrote Verschnörkelungen, die wie Blätter aussahen. In der Mitte der Verzierungen befand sich das Brandmal der Anwärter, doch es sah für mich fast so aus wie ein Gemälde, denn das Mal war nicht mehr nur ein dünner Umriss, sondern es war ein ausgefüllter Stern, der sich von innen nach außen zu bewegen schien. Mit dem Finger zog ich gebannt die Konturen des Zeichens nach, bis ich realisierte, dass es für immer auf meiner Haut bleiben würde.
Das penetrante Klopfen hielt an, während ich mich im großen Spiegel des Badezimmers betrachtete. Als ich das nervige Geräusch nicht mehr aushielt, legte ich mir das Handtuch um die Hüften und stellte mich zur Tür. Als das nächste Klopfen ertönte, riss ich noch währenddessen die Holztür beiseite, doch es war niemand zu sehen.
»Was zum Teufel ist denn hier los?«, schrie ich verärgert, weil mich das Klopfen an die kindischen Telefonscherze aus der Unterstufe erinnerten.
Wütend schlug ich mit der Faust gegen den Türrahmen und knallte die Tür wieder zu. Im Nachhinein erinnere ich mich nicht mehr, wie genau es damals passiert ist. Ich weiß nur noch, dass ich mich plötzlich in einer Menge von Scherben wiederfand, nachdem alle Fensterscheiben im Haus, zur selben Zeit als mein Schrei ertönte, zersprangen. Meine Arme waren mit kleinen Wunden versehen und Blut rann über meine Finger. Schmerzhaft bohrten sich die Glassplitter in meine nackte Haut und ich biss meine Zähne zusammen, als mir die Tränen in die Augen traten. Minutenlang saß ich da wie ein kleines Häufchen Elend, nachdem meine Beine unter mir weggesackt waren. Dann rollte ich mich auf dem Scherbenhaufen zusammen. Das Handtuch war in der Zwischenzeit von meinem Körper gerutscht und gab die Sicht auf meinen vernarbten Rücken frei. Vorsichtig zog ich die erste Scherbe aus meiner Hand und eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel.
Als fremde Stimmen laut wurden, konnte ich nur daran denken, dass ich so schnell wie möglich hier weg sollte. Ohne auf die Qualen und das Blut zu achten, zog ich die Splitter nacheinander aus meiner Haut und zwang meine Beine, aufzustehen. In Windeseile zog ich mir neue Kleidung über und stopfte die alten Klamotten zurück in meinen Rucksack. Ich schulterte meine Tasche und putzte flink meine Zähne, um den ekelhaften Geschmack loszuwerden. Als es wieder klopfte, hatte ich das Gefühl, den Verstand zu verlieren, aber diesmal öffnete sich die Tür von alleine. Im Türrahmen befand sich kein menschliches Wesen, sondern eine dünne schwarze Katze, die mich ansah und unzufrieden miaute. Das Tierchen mit den weißen Augen ließ ihren Schwanz schwingen, machte einen Katzenbuckel und setzte zum Sprung an. Aus Reflex fing ich die Katze auf, die sich mit der Zunge über die Nase strich.
»Wer bist du denn?«, fragte ich und schüttelte im nächsten Moment schon meinen Kopf.
Ich verlor wirklich langsam meinen Verstand, sonst würde ich mich nicht mit einer Katze unterhalten und eine Antwort erwarten. Als ich das eigensinnige Tier absetzen wollte, krallte es sich an meine Kleidung und meine geschundene Haut. Das Fell kitzelte mich an der Nase und ich musste mehrmals hintereinander niesen. Fluchend versuchte ich, das Tier abzuschütteln, doch es gelang mir nicht. Kurz mahlte ich meine Zähne aufeinander und beschloss, die streunende Katze einfach ein Stück mitzunehmen, da ich wieder aufgeregte Stimmen hinter der Tür hörte. Auf schnellsten Weg verließ ich die Pension. Von Menschen, die meinen Weg kreuzten, bekam ich nur einen verwunderten Blick geschenkt, doch niemand hielt mich auf. Zu groß war die Hysterie über das Chaos im Hotel. Mit gesenktem Blick und Kapuze über dem Kopf kam ich an einer Bushaltestelle an. Ich blieb stehen, um die kleine Raubkatze loszuwerden. Glücklicherweise fuhr sie ihre Krallen diesmal nicht aus. Jedoch folgte sie mir, als ich meinen Weg fortsetzte.
»Geh doch einfach!«, bat ich die Katze, aber sie miaute nur und beschleunigte ihre Schritte, um mit mir mithalten zu können.
Stur versuchte ich eine Zeit lang, das Tier zu ignorieren, doch als wir nach mehreren Stunden an einem Bahnhof ankamen und ich mich hinsetzte, um auf den Zug zu warten, legte sie sich auf meinen Schoß. Kaum legte ich ihr die Hand ins Fell, schnurrte sie los und schmatzte zufrieden. Zwei Züge ließ ich unbeachtet ein- und ausfahren. Beim Dritten stieg ich in den einfahrenden Zug. Auch wenn ich meinen Wegbegleiter gewaltsam von meinem Schoß stieß, folgte die Katze mir in das Zugabteil. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Zug gesessen hatte. Wahrscheinlich bei der Auslandswoche in Rom, als wir fast sechs Stunden zusammengepfercht in einem Zugabteil saßen und unsere Lehrerin uns erklärt hatte, wie toll die kommende Woche werden würde. Ohne zu übertreiben konnte man sagen, dass die Woche furchtbar gewesen war. Im Nachhinein verfluchte ich mich selbst, dass meine Mutter mich mit dem Argument überredet hatte, dass alle mitfahren würden und es aussähe, als ob wir es uns nicht leisten könnten, wenn ich nicht mitfuhr. Danach blieb nur die Frage zurück, ob eine Woche auf engsten Raum mit drei anderen Mädchen in einem Zimmer besser war, als meine Mutter mit ihren göttlichen Konsequenzen.
In dem Moment, als ich mich hinsetzen wollte, stützte ich mich am Sitzpolster der Lehne ab. Meine Handfläche erhitzte sich und begann zu glühen. Langsam löste sich der Stoff rund um meine Finger auf, als würde er schmelzen. Der Gestank nach verbrannten Fasern und Plastik kroch mir in die Nase und ich musste würgen. Fasziniert konnte ich für wenige Sekunden nur auf die verkohlten Fäden starren. Als ein richtiges Feuer ausbrach, riss ich meine Hand reflexartig zurück und presste sie geschockt gegen meinen Brustkorb. Doch sie war wieder abgekühlt, als wäre nie etwas passiert. Die Katze machte mit einem lauten Miauen auf sich aufmerksam. Sie saß auf dem Nebensitz, während ihre Augen die Brandstelle und das Feuer reflektierten. Das Tier miaute, als würde es über mich lachen. Schnellstmöglich schnappte ich mir die Katze, deren Schwanz bereits leicht angekokelt war, weshalb sie herzzerreißend quietschte. Panisch klopfte ich auf den Türöffner und stieß erleichtert ein Keuchen aus, als sich die Zugtür öffnete. Ich sprintete zurück auf den Bahnsteig und presste das Kätzchen an meine Jacke, die danach wahrscheinlich einen Staubsauger benötigen würde, um die Tierhaare wieder loszuwerden. Meine langen Haare hingen mir ins Gesicht und Schweißtropfen rannen an meinen Schläfen entlang. Wieder spürte ich diese Angst vor der Zukunft in mir, als ich das Kribbeln in meinen Fingern bemerkte. Ich umklammerte das schwarze Tier und hielt nach einer Bank, auf der ich mich ausruhen konnte, Ausschau.
Ich war erschöpft von der Anstrengung. Der Blutverlust durch die vielen Wunden machte mir zu schaffen. Als ich eine kleine Eisenbank gefunden hatte, setze sich gerade jemand auf die Sitzfläche und erwiderte meinen Blick. Ich blieb angesäuert stehen und wollte mich bereits nach einer anderen Sitzgelegenheit umsehen, als ich die Gestalt genauer begutachtete. Sie war klein und hatte langes, blondes Haar. Ein schwarzes enges Kleid zierte ihren Körper und ihre Haare waren im Nacken zusammengebunden. Wie ein Blitz traf es mich, als ich ihr Lächeln wiedererkannte. Ich hatte sie schon einmal gesehen. Erst vor wenigen Stunden war ich ihr das erste Mal begegnet. Sie grinste, doch ihre Augen wirkten traurig. Nur wenige Meter entfernt saß das Wesen und streckte mir seine Hand entgegen.
»Komm!«
Das war alles, was es zu mir sagte.
»Wohin?«, fragte ich, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
Schon wieder liefen mir salzige Tränen übers Gesicht. Für meinen Geschmack hatte ich in den letzten Stunden zu viel geweint. So oft heulte ich normalerweise nicht einmal in einem ganzen Jahr.
Mit den blutigen Schnitten auf den Armen, meinem verletzten Bein, das durch den Sprint wieder angeschwollen war, und dem verquollenen Gesicht, musste ich für sie aussehen wie das Opfer eines Verkehrsunfalls. Als sie nach Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, immer noch nicht geantwortet hatte, versuchte ich eine Reaktion von ihr zu erzwingen.
»Verschwinde! Lass mich in Ruhe! Ich bin keine von Euch merkwürdigen Wesen. Halt dich gefälligst von mir fern«, brüllte ich und wollte mich zum Gehen abwenden.
»Hexen! Du bist kein sonderbares Wesen, sondern eines der mächtigsten Geschöpfe dieser Welt. Du bist eine Hexe«, sagte sie.
Geschockt riss ich die Augen auf, bevor ich lauthals anfing zu lachen. Natürlich, ich war eine Hexe, was auch sonst? Das war einfach lächerlich!
Mit einer fließenden Bewegung erhob sich das Mädchen von der Bank, während ihr Blick an mir hoch und runter wanderte. Sie kam direkt auf mich zu und ich hatte keine Möglichkeit, ihr auszuweichen, da sich hinter mir nur die Bahngleise befanden. In der Mitte des Bahnsteigs blieb sie jedoch abrupt stehen, worüber ich mehr als froh war. Ich wusste, dass mein Verhalten kindisch war, aber ich wollte unter allen Umständen verhindern, dass sie mich berührte. »Du kannst weiterhin hier stehen und mich angaffen, aber es wird nicht ändern, was du bist. Auch deine Flucht wird dich nicht vor deinem Schicksal retten können. Entweder du kommst jetzt mit mir mit, oder du wartest noch länger und bringst auf deinem Weg unschuldige Menschen durch deine Unwissenheit um«, zischte sie erzürnt.
Vor meinem inneren Auge sah ich das Mädchen mit der Porzellanpuppe aus meinem Tagtraum und ich stellte mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn ich für ihren Tod verantwortlich wäre. Ich schniefte leise und meine Knie begannen bei der Vorstellung, wie das Feuer aus meinen Händen ein Haus in Brand setzte und die Haut von einem kleinen Mädchen Blasen warf, zu zittern. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und ich schüttelte panisch den Kopf, um die Bilder von schreienden Kindern loszuwerden. Eine kühle Hand, die mein Handgelenk umklammerte, zog mich aus meiner Trance.
»Es gibt eine andere Möglichkeit«, flüsterte die Chooserin und plötzlich war es mir egal, ob wir Hautkontakt hatten, solange sie mir helfen würde die Horrorszenarien zu verhindern.
Lieber würde ich eine gewisse Zeitspanne mit Verrückten verbringen, als Unschuldigen Leid zuzufügen. Mit etwas Glück würden diese Freaks in ein paar Tagen bemerken, dass sie bei mir einen Fehler gemacht hatten und mich gehen lassen. Ich schluckte schwer, bevor ich zögerlich nickte. Die Umgebung um mich begann sich zu drehen und ich spürte, wie die Müdigkeit von mir Besitz ergriff. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in meinem Kopf aus und ein stechender Schmerz ließ mich zusammenzucken, als mein verletztes Bein unter mir wegbrach. Kurz bevor alles um mich schwarz wurde, konnte ich nur noch das mürrische Miauen der Katze hören und sehen, wie das Lächeln der Chooserin verschwand. Sie würde auch lange nichts mehr zu lächeln haben, nicht wahr? Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es nur der Anfang allen Übels sein würde und ich ihr am Ende mehr verdanken würde als jedem anderen. Selbst wenn sie mich zum schwarzen Wald bringen und mein Leben für immer verändern würde.
Alles Liebe, Deine Read