Читать книгу Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen - Lisa Lamp - Страница 9
ОглавлениеDie Nacht beginnt
Liebe Marie Estelle Lauro!
Das erste Mal, als ich im Hexeninternat aufwachte, glaubte ich in einem schlechten Horrorfilm gefangen zu sein. An den Wänden hingen alte Bilder, die großteils verstaubt waren. Die Fenster waren durch dunkelrote Vorhänge verhüllt und auf dem Tisch, in der Mitte des Raums, stand ein Kerzenleuchter, an dem drei Kerzen heruntergebrannt waren. Überall hingen Spinnennetze und die stickige Luft machte das Atmen kaum möglich. Mein Hals war ausgetrocknet und schrie nach Wasser, doch augenscheinlich gab es neben fehlendem Strom auch keine Wasserleitungen. Alles erschien mir alt, verdreckt und kurz vor dem Zusammenbrechen zu sein. Kurz dachte ich daran, was Emma wohl sagen würde, wenn sie hier wäre. Wahrscheinlich würde sie Witze über klischeehafte Hexen reißen und fragen, wo die Besen, auf denen sie durchs Wunderland reiten können, waren.
Meine Glieder brannten schmerzhaft und es war unerträglich heiß in dem Zimmer, das dem Geruch nach nie gelüftet wurde. Ich lag auf einer weißen Matratze, die mit Flecken übersät war. In meiner Position wollte ich lieber erst gar nicht darüber nachdenken, woher die Überreste stammten. Ein wenig erinnerte mich die Schlafunterlage an meine Matratze zuhause. Auch die war mit der Zeit, trotz Spannleintuch, fleckig geworden,
weil die Wunden an meinem Rücken nicht gänzlich geschlossen waren, als ich mich auf den Schaumstoff legte.
Außer mir war der Raum leer und es herrschte eine unheilvolle Stille, weshalb ich aufsprang, um die Gegend zu erkunden. Jedoch legte ich mich sofort wieder unter die Decke, da ich splitterfasernackt war und mein Rucksack sich auch nicht in diesem Raum, der an Draculas Höhle erinnerte, befand. Plötzlich hörte ich ein Knarren und schloss schnell meine Augen, weil ich noch nicht bereit war, mich mit einem der Verrückten auseinanderzusetzen.
Während ich mich schlafend stellte, öffnete sich eine der schwarzbraunen Türen, die mit goldenen Verzierungen umrandet waren.
»Und was willst du tun, wenn sie aufwacht? Du hast sie quasi gekidnappt«, sagte eine weibliche Stimme aufgeregt.
»Früher oder später hätten ihre Kräfte sie umgebracht. Was ist, wenn sie zu lang gebraucht hätte, um hierher zu kommen oder sich unbeabsichtigt selbst in die Luft gejagt hätte? Du hast das Feuer, das sie im Zug gelegt hat, nicht gesehen. Es war riesig und hat sich rasend schnell ausgebreitet. Außerdem hat sie zugestimmt, mir zu folgen, bevor sie das Bewusstsein verloren hat. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie den Blutverlust nicht verkraften würde«, erwiderte eine andere Stimme und ich hätte schwören können, dass ich die Stimme kannte.
»Hoffentlich kooperiert sie auch jetzt, obwohl sie nicht freiwillig hierhergekommen ist. Wir brauchen sie noch«, flüsterte die erste Frau geheimnisvoll.
Ich spitzte meine Ohren. Obwohl ich die beiden Sprecherinnen zu gern gesehen hätte, traute ich mich nicht, die Augen einen Spalt zu öffnen, da sie vermutlich ihre Unterhaltung beenden würden, wenn ich wach wäre.
»Kümmere dich um sie und hilf ihr, zurechtzukommen! Das bist du ihr schuldig«, sagte die fremde Stimme, bevor eine Hand mir eine Strähne aus dem Gesicht strich.
»Bring sie in ihr Zimmer, sobald sie aufwacht, decke ihre Narben ab und sei vorsichtig! Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn andere Schüler erfahren, dass sie nicht von allein zu uns gekommen ist«, befahl die Fremde. Die kühle Hand verschwand und kurze Zeit später konnte ich wieder das Knallen der schweren Türen hören.
»Du machst es uns wirklich nicht leicht, Read«, murmelte die helle Stimme und langsam konnte ich sie einem Gesicht zuordnen.
Das Mädchen in meiner Schule. Natürlich kannte ich ihre Stimme, doch wovon hatten die andere Frau und sie gesprochen? Warum war es wichtig, dass ich hier war und warum hatte die Chooserin mich mitgenommen? Schon klar, nach dem Flammenmeer wäre ich sowieso nicht mehr lange auf der Flucht gewesen, aber normalerweise wurden Menschen auserwählt, von den Choosern markiert und mussten selbst den Weg zum schwarzen Wald finden oder starben auf dem Weg dahin.
Ich zitterte und bekam eine Gänsehaut. Es war immer noch sommerlich warm in dem Raum, doch das Mal auf meinem Schlüsselbein begann sich zu erhitzen, bis ich es kaum noch aushielt, ohne einen Laut von mir zu geben. Als ich im Hintergrund auch noch eine Katze miauen hören konnte, war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei und ich zuckte zusammen.
»Sehr gut, du bist endlich wach«, meinte die Chooserin belustigt. Ich öffnete die Augen und sah wieder ihr dümmliches Lächeln.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie und in dem Moment wäre ich ihr am liebsten an die Kehle gesprungen.
Wie sollte ich mich denn fühlen? Ich war kilometerweit von Zuhause entfernt, hatte riesige Brandzeichen oberhalb meiner Brust, würde meinen früheren Klassenkollegen als Freak, der markiert wurde, in Erinnerung bleiben, hatte ein Gespräch mit einer Fremden, die sich einbildete, sie könnte sich in mein Leben einmischen und wurde praktisch entführt. Natürlich sollte auf dieser Liste auf keinen Fall meine neue stalkende Katze fehlen, die sich gerade an meinem Bein rieb. Innerlich schrie ich mir die Seele aus dem Leib, doch alles, was ich resignierend herausbrachte war:
»Gut.«
»Dann lasse ich dich kurz allein. Im Schrank hängt eine Schuluniform für dich. Willkommen im Internat St.Ghidora, der Heimat der Hexen.«
Ich versuchte, schwach zu lächeln, doch mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Danke, dachte ich und wollte mich am liebsten übergeben, noch bevor die Verrückte den Raum verlassen hatte. Zittrig stand ich von der unbequemen Matratze auf und bewegte mich durch den Raum. Die Kerzen leuchteten hell und ich fragte mich, wie lange ich wohl geschlafen hatte. War es schon Nacht oder noch Nachmittag? Im Endeffekt spielte es keine Rolle, doch ich fühlte ein nagendes Gefühl in meinem Inneren, als ob es wichtig wäre, wie spät es war. Ich war sowieso schon viel zu spät dran. Ich bewegte mich weiter in die Richtung des großen Holzkastens, der mich stark an den Horrorfilm »Conjuring« erinnerte, bei dem das besessene Mädchen plötzlich auf dem Kleiderschrank lag.
Ein wenig überrascht war ich schon, als die Uniform exakt meine Größe hatte, aber ich beschloss, nicht darüber nachzudenken, da es mit Abstand nicht das Seltsamste war, dass mir in den vergangenen Stunden passiert war und mir die Antwort keinesfalls gefallen hätte. Der Rock war in schwarz gehalten und dazu gab es eine rote Bluse mit kurzen Ärmeln. Auch wenn eine Krawatte dabei hing, verzichtete ich darauf, sie mir um den Hals zu binden und ließ sie einfach im Kasten hängen. Stattdessen zog ich lieber die schwarze Weste mit silbernem Reißverschluss über. Meine langen Haare band ich mit dem Haargummi, das um mein Handgelenk gebunden war, zusammen. Keine zehn Sekunden später stand die Chooserin in der Tür und hielt mir rote Ballerinas vors Gesicht. Sie selbst war nun ebenfalls mit Rock und Bluse bekleidet, doch sie trug die skurrile Krawatte und ihre Uniform, die im Internat nur zu besonderen Anlässen getragen wurde, war in Grüntönen gehalten. Schnell schlüpfte ich in die mädchenhaften Schuhe und sah mein Gegenüber wartend an. Innerlich verfluchte ich die Schühchen, die an meiner Ferse rieben, jetzt schon. Bestimmt würde ich am Ende des Tages mehrere Blasen an meinen Füßen wiederfinden.
Ohne ein Wort drehte sich die Chooserin um und lief leichtfüßig über den Marmorboden.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich verwirrt und versuchte,
mit ihr schrittzuhalten.
Sie ging nicht besonders schnell, doch wegen meinem verletzten Bein konnte ich nur schwer mit ihr mithalten, weshalb ich nach wenigen Metern anfing zu keuchen.
»Zu Direktorin Enyo Terrent, dem Verderben der Schule und danach bringe ich dich in dein Zimmer«, sagte sie und lachte über sich selbst.
Irritiert sah ich sie an, doch sie winkte ab. Während wir den Gang entlangliefen, versuchte ich, mir jedes Detail einzuprägen, aber schon nach wenigen Minuten gab ich auf. Dieses Gebäude war ein einziger Irrgarten. Die
Wände waren weiß und hin und wieder waren rote Pentagramme auf den Mauern, doch nirgendwo sah ich auch nur eine einzige Tür. Jeder Gang glich bis ins kleinste Detail dem Letzten. Von der Decke hingen alle zwanzig Meter Fackeln, die den Weg beleuchteten. Der Boden war schwarz. Obwohl, genaugenommen war er nicht nur schwarz, sondern in verschiedenen Schwarztönen schattiert. Immer wieder schien der Boden an einer Stelle heller und dann wieder dunkler zu werden. Noch während ich versuchte, zu verstehen, wie das Gebäude belüftet wurde, da es keine Fenster gab, blieb die Chooserin plötzlich vor einem der Pentagramme stehen. Ich kam ins Straucheln und beinahe hätte mein Gesicht Bekanntschaft mit dem Marmorboden gemacht, wenn die Blondine mich nicht festgehalten hätte. Die Chooserin rollte mit den Augen und meine Wangen färbten sich rötlich.
»Pass auf, wo du hintrittst«, zischte sie und klopfte in die Mitte des Sterns.
Sie fuhr mit dem rechten Zeigefinger die Zacken nach. Kurz sah ich sie verwundert an und war nicht mehr weit davon entfernt, zu fragen, ob sie nun völlig den Verstand verloren hatte, doch dann qualmte es unter der Wand hervor. Das Pentagramm begann zu glühen. Meine Führerin trat einen Schritt zurück und die Mauer schien sich zusammenzuziehen, bis in der Wand ein Loch entstand und den Blick auf ein kleines Zimmer freigab. Es war schlicht eingerichtet, doch auch hier befanden sich keine Fenster. Ein großer Kasten und ein Schreibtisch nahmen den halben Raum ein und eine Frau, Mitte vierzig, saß hinter dem Tisch und spielte gerade mit der Maus eines Computers. Wenigstens waren wir nicht ganz von der Zivilisation abgeschottet, dachte ich beim Anblick des technischen Geräts.
Die Chooserin räusperte sich und die Dame sah auf. Kurz schweifte ihr Blick über uns und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. Ganz ehrlich, warum grinsen diese Freaks ständig? Sah ich heute irgendwie komisch aus oder wird das Leben lustiger, wenn man den Verstand verloren hatte?
»Willkommen Read«, flüsterte die Frau, deren lockige Haare ihr ins Gesicht hingen.
Leicht kicherte meine Begleiterin, bevor sie zu Boden sah. Mit ihren grünen Augen, den Sommersprossen und der roten Haarpracht sah die Direktorin aus wie das lebende Klischee einer Hexe. Dennoch wäre sie auf eine eigenartige Weise schön gewesen, wenn sich nicht von ihrem linken Auge bis unter ihren Hals eine rote vernarbte Brandwunde gezogen hätte. Die Narbe verdeckte einen Teil ihrer blauen Tattoos, die die Form von Buchseiten, die sich in Vögel verwandelten, hatten.
»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich«, sagte die Direktorin ehrfürchtig und ihre schmalen Lippen vertieften ihr Lächeln.
Ich brachte nicht einmal ein Schnauben zustande, denn das war eine glatte Lüge. Meine Mutter war so ziemlich das Gegenteil von mir. Sie war blond, ich war schwarzhaarig. Sie hatte braune Augen, ich hatte grüne. Sie war schlank, ich hatte überall Fettpolster, die ich nicht loswurde. Ihre Stupsnase war klein und süß, während meine die Hälfte meines Gesichts einnahm. Auch brauchte meine Erzeugerin keine Brille, die ihre miserablen Augen ausbesserte.
»Wir brauchen für Read ein Zimmer, Madame Terrent«,
meinte die Chooserin mit ihrer hellen Stimme.
Kurz blieb der Blick der Ältesten an mir haften, bevor sie sich umdrehte und einen Schlüssel aus der Schublade des Schreibtischs holte.
»Bitte schön«, wisperte sie und drückte mir einen kleinen silbernen Schlüssel in die Hand.
Ihre Finger umfassten mein Handgelenk und ihr Blick lag ungewöhnlich lang auf mir, bevor sie sagte: »Wir hoffen, dass du dich hier wohl fühlst. Marie wird dir bei allem helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wende dich einfach an sie.«
Das war der Moment, in dem ich endlich wusste wie die Chooserin, die mir alles genommen hatte, hieß. Endlich hatte ich für das personifizierte Böse in meinem Leben einen Namen.
Marie sah mich aufmerksam an, machte auf dem Absatz kehrt und deutete mir an, ihr zu folgen. Natürlich hätte ich jetzt schreien, weinen und fluchen können. Ich hätte toben und von der Direktorin verlangen können, dass sie mich nach Hause brachte, doch jetzt war ich schon einmal hier und es bestand die Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu überstehen. Also folgte ich Marie auf Schritt und Tritt, während die schwarze Katze sich immer wieder zwischen meinen Beinen hindurchschlängelte und mein Knöchel mich fast umbrachte. Bei jeder Bewegung fühlte ich mein Fußgelenk pochen, aber ich ging einfach weiter, als wäre nichts.
»Süß. Woher hast du sie?«, fragte mich Marie und ich sah sie verwirrt an.
Augenrollend deutete sie auf das schwarze Tier zu meinen Füßen und bückte sich, um die Katze zu streicheln.
»Sie gehört nicht mir«, beharrte ich auf meinem Standpunkt und versuchte, nicht über das Fellknäuel, das sich an meinen Unterschenkel drückte, um sich vor Marie in Sicherheit zu bringen, zu stolpern.
»Das scheint sie aber anders zu sehen. Katzen sind eigensinnige Wesen. Sie suchen sich ihre Gefährten aus, doch wenn eine dich erwählt hat, kannst du dich glücklich schätzen, denn sie wird dir treu bleiben und dich vor Unheil bewahren. Du solltest ihr einen Namen geben«, riet die Chooserin mir.
Sollte ich ihr nun erklären, dass ich nicht vorhatte hier zusammen mit einer Katze, die nicht mal mir gehörte, zu leben? Oder sollte ich einfach schnauben und ihr mit meiner Faust die Nase brechen, weil sie sich schon wieder in mein Leben eingemischte?
In dieser Situation hätte es so viele Reaktionen gegeben und was tat ich? Ich überlegte mir im Stillen schon einmal einen Namen für ein Tier, das anscheinend einen Narren an mir gefressen hatte.
»Vorsicht Stufe!«, riss Marie mich aus meinen Gedanken und das keine Sekunde zu früh.
Ich hob meinen Fuß reflexartig über die Erhebung und spürte wieder einen schmerzhaften Stich, der sich bis in meine Hüfte zog. Das Licht des Feuers an den Wänden war angenehm, sobald ich mich daran gewöhnt hatte, doch gleichzeitig wirkte es unheimlich auf mich. Es erinnerte mich ein wenig an ein Lagerfeuer im Wald, bei dem jemand Geräusche machte, um den Rest der Leute zu erschrecken. Noch beängstigender war jedoch, dass die Gänge wie ausgestorben waren. Das hier war doch so etwas wie ein Internat, oder nicht?
Wo waren die ganzen Schüler? Bis jetzt war uns noch niemand begegnet.
»Die anderen haben Unterricht«, antwortete Marie mir auf meine unausgesprochene Frage.
»Es ist mitten in der Nacht«, sagte ich und versuchte, nicht verwirrt zu klingen oder die Chooserin darauf hinzuweisen, dass ich glaubte, dass sie den Verstand verloren hatte.
»Wir haben auch immer nachts Unterricht. Der Mond macht uns stärker, weil die Göttin uns näher ist, deshalb findet auch der Schulbetrieb zu ihrer Zeit statt«, erklärte die Blonde mir und ihre hellblauen Augen funkelten wie Diamanten.
Am liebsten hätte ich gefragt, von welcher Göttin sie redete, denn obwohl Mutter streng religiös war, hatte ich von einer weiblichen Gottheit noch nie etwas gehört. Doch ich schob es auf und ermahnte mich, später das Gespräch noch einmal aufzunehmen, da wir wieder vor einem Pentagramm standen und mir die Begegnung mit Diana wieder einfiel. Die Chooserin steckte den Schlüssel, den sie mir aus der Hand gerissen hatte, in den Schlitz in der Mitte des Sterns und drehte ihn dreimal. Die Mauern erbebten und zogen sich zusammen, wie vor ein paar Minuten im Direktorat. Ein wenig Putz löste sich von der Wand und das Zeichen begann zu glühen. Ohne zu zögern trat Marie in das geräumige Zimmer, das in zwei Teile aufgeteilt war und ließ sich auf einem Bett mit roter Bettwäsche aus Baumwolle nieder. Sie nickte mir zu und winkte mich in den Raum. Ihrer Aufforderung folgend, sah ich mich im Zimmer um. Eine Seite war komplett kahl, doch im anderen Bereich, in dem die Blondine saß, lagen Kleidungsstücke am Boden und selbstgemalte Bilder hingen in willkürlicher Reihenfolge über dem Bett. Zwischen den Kunstwerken hingen verschiedenste Fotos. Auf den meisten war Marie mit einem Mädchen abgebildet. Die Chooserin sah auf allen Bildern ungefähr gleich aus. Manchmal waren ihre Haare kürzer und auf einigen hatte sie noch nicht die Tätowierungen auf den Schultern, doch sie hatte sich nicht groß verändert.
Das andere Mädchen jedoch war auf einigen Bildern nur aufgrund ihrer Gesichtszüge wiederzuerkennen. Auf älteren Bildern war sie in fröhlichem Orange oder Gelb gekleidet. Sie hatte lange blonde Haare und blaue Augen. Ihr Gesicht zierte ein Lächeln. Doch auf den neueren Bildern war bis auf ihre strahlend blauen Augen alles von ihr verschwunden. Statt Farben trug sie nun Schwarz. Statt den langen Haaren trug sie nur noch Zöpfe, die bis kurz unter ihren Nacken hingen. Sie war dürr. Abnormal dürr und das Lächeln war verschwunden. Stattdessen wurden ihre traurigen Augen ein Blickfang ihrer Seele. Damals konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass zwei so unterschiedliche Charaktere miteinander befreundet sein sollen, doch insgeheim bewunderte ich sie und war neidisch auf die lange Freundschaft der beiden.
»Das ist Taranee Waters. Sie wird deine Zimmergenossin. Du wirst sie mögen«, sagte Marie und mir entging nicht, dass die beiden sich wohl besser kannten als sonst irgendjemand.
»Tara und ich sind beste Freundinnen«, antwortete die Blondine mit den hellen Augen wieder auf eine meiner unausgesprochenen Fragen.
Ich zuckte vor Schreck zusammen, als plötzlich Glocken zu hören waren.
»Mitternacht«, meinte Marie nur gelassen und zuckte mit den Schultern, während sie mich aufgrund meines Verhaltens auslachte.
»Geisterstunde«, redete sie weiter und ihr Schmunzeln wurde zu einem richtigen Kichern.
»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, grölte Marie und bekam Schluckauf. Sie lief rot an und sah aus, als wäre sie kurz davor, zu ersticken.
»Hör auf sie zu ärgern, Mel!«, sprach eine Stimme, die ich noch nicht kannte. Sie war leise und klang erschöpft. Die Chooserin hörte auf zu lachen und wandte ihren Kopf dem Mädchen im Türrahmen zu. Ich folgte ihrem Blick und musste schockiert feststellen, dass Taranee Waters in der Realität noch dünner aussah als auf den Bildern. Sie trug eine schwarze, an den Knien zerfetzte Hose und ein schwarzes Top mit der weißen Aufschrift: Ein guter Tag zum Sterben. An ihrem Handgelenk baumelte ein schwarzes Perlenarmband und auf ihrem Schlüsselbein befand sich auch das Zeichen der Hexen. Das Brandmal bestand bei ihr im Gegensatz zu meinem nur aus dünnen Linien, die fast zu verschwinden schienen. Auch wenn sie zerbrechlich wirkte wie eine Porzellanpuppe, war sie wunderschön und schien von innen heraus zu leuchten.
»Du musst Read sein«, sagte sie und es klang nicht gerade nach einer Frage. »Mein Name ist Tara, aber das hat Mel dir ja sicher schon verraten.«
Taranees Aussage verstand ich nicht. Wer war diese Mel? Ich dachte, die Chooserin hieß Marie. Und woher kannte sie meinen Namen?
»Wir alle kennen deinen Namen, Read«, meinte die Blondine und ich starrte sie an.
Woher wusste sie, dass ich mir diese Frage gestellt hatte? Hatte ich etwa laut gesprochen?
»Nein, hast du nicht«, kicherte die Chooserin. Ängstlich ging ich ein paar Schritte zurück, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern, weil mir die Situation und der Stimmungsumschwung nicht geheuer war.
»Mel!«, schrie Tara. »Hör jetzt auf!«
Doch Mel dachte nicht einmal daran aufzuhören und lachte einfach weiter.
»Erinnere dich, wie es uns am Anfang ging!«, tobte Taranee und zum ersten Mal glaubte ich, dass die Chooserin recht haben könnte. Vielleicht würde ich Tara wirklich mögen.
Die Blondine mit den hellen Augen stellte das Lachen ein, worüber ich mehr als nur froh war, da ich mich langsam unwohl in meiner Haut fühlte.
»Na schön, dann wird es Zeit, mich endlich vorzustellen. Mein Name ist Marie Estelle Lauro, aber alle nennen mich Mel. Ich bin eine Chooserin, wie die Menschen uns gerne nennen, und ich kann hören was du denkst, wenn ich mich darauf konzentriere.«
Gedanken lesen? In welchem schrägen Film war ich gelandet? Anscheinend in einer Mischung aus Harry Potter und Twilight, aber wenn sie schon meine Gedanken lesen konnte, sollte ich das zu meinem Vorteil nutzen.
Hörst du mich, Blondie? Ich bin ein Mensch. Ich gehöre nicht hier her und ich will nur dieses Brandmal auf meinem Schlüsselbein loswerden, um wieder nach Hause zu können.
»Du bist kein Mensch«, erwiderte Mel genervt. »Diese Stümper würden niemals ein Feuer erzeugen können, wie du es im Zug getan hast.«
Genervt rollte ich mit den Augen. Mich interessierte gar nicht erst, woher die Chooserin über die Geschehnisse im Zugabteil Bescheid wusste. Eigentlich interessierte mich in diesem Augenblick gar nichts, außer dem bedrückenden Gefühl in meiner Brust, dass ich nie wieder von hier wegkommen würde, ohne in einem Leichensack zu stecken.
Tara hatte während unserer Unterhaltung einfach nur dagestanden, doch ihre Anwesenheit hatte mich ein wenig beruhigt. Sonst wäre ich vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt Amok gelaufen, oder Dir an die Gurgel gesprungen, Mel. Du machtest mir Angst, da ich Dich nicht einschätzen konnte. Dieser Umstand störte mich, weil ich es nicht gewohnt war. Ich war dafür bekannt gewesen, mich niemals bei Horrorfilmen zu fürchten oder mich von irgendwem erschrecken zu lassen. Selbst meine Mutter und ihre geliebte Geißel konnten mich nicht einschüchtern. In nicht mal zwei Tagen hattest Du es geschafft, mein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen und mich das Fürchten zu lehren. Ich hatte Dich gehasst und manchmal tue ich es immer noch. Deine Read