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KAPITEL 3 STEELE

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Meine morgendliche Joggingrunde am Strand führte mich an zahlreichen Villen vorbei, von denen eine größer war als die andere. Sie ragten aus dem weißesten Sand hervor, den ich je gesehen hatte. Es musste schön sein, wenn man so reich war. Theoretisch beging ich wahrscheinlich Hausfriedensbruch, aber ich glaubte nicht, dass ich so früh am Morgen jemanden stören würde.

Ich nickte einem alten Mann grüßend zu, der vom Strand aus seine Angel in der Brandung ausgeworfen hatte. »Glück gehabt?«

»Die Fische schon.«

Ich lachte und lief weiter, meine Füße trafen in stetigem Rhythmus auf den festen, nassen Sand. Schweißperlen rannen mir übers Gesicht und brannten mir in den Augen, doch da mein gesamter Körper in Schweiß gebadet war, blieb mir nichts anderes übrig, als es zu ertragen. Die Luftfeuchtigkeit war eben verdammt hoch hier im Süden. Immerhin wehte eine leichte Brise vom Golf herüber und brachte mir etwas Abkühlung, und der hypnotischen Wirkung des sanften Plätscherns der heranspülenden Wellen konnte ich mich kaum entziehen.

Ich hörte nie Musik beim Joggen, sondern genoss die Ruhe. Laufen war meine Art der Meditation. Dabei konnte ich wunderbar meine Gedanken ordnen, während ich gleichzeitig etwas für meine körperliche Fitness tat. Und nach allem, was gestern bei und nach der Beerdigung passiert war, gab es eine Menge, worüber ich nachdenken musste. Erinnerungsfetzen aus meiner Zeit beim Militär blitzten vor meinem inneren Auge auf und machten mir bewusst, wie viel mehr Spaß ich am Laufen hatte, wenn ich keine fünfunddreißig Kilo schwere Ausrüstung mit mir herumschleppen musste und unterwegs noch dazu eine solch schöne Aussicht genießen konnte.

Angenehm überrascht hatte ich festgestellt, dass sich in einem der Außengebäude auf Charlies Grundstück ein voll ausgestattetes Fitnessstudio befand. Das war sehr praktisch, sollte ich einmal keine Lust haben, die wenigen Meter zum Strand zurückzulegen. Charlies Haus bot alles, was man sich nur vorstellen konnte: eine Sauna, einen Whirlpool, ein Dampfbad, einen Pool und einen Weinkeller. Es musste schön sein, so viel Geld zu haben. An den Luxus könnte ich mich wirklich gewöhnen.

Jedenfalls für die Dauer meines Aufenthalts.

Die lange Hecke, die Charlies Grundstück von dem der Nachbarn abgrenzte, kam in Sicht, und ich verlangsamte mein Tempo und lief die letzten Meter zur Rückseite des Hauses ganz gemächlich. An der steinernen Feuerstelle, die sich unter einem der vielen Balkone befand, traf ich auf Agent Shook, der gerade das Fitnessstudio verließ.

Oh, Entschuldigung, es hieß ja »Special Agent Shook«. Der liebe Gott mochte verhüten, dass ich je vergaß, wie speziell er war. Vor allem jetzt bestand da nicht die geringste Gefahr.

Shooks Brust war schweißnass, sein Atem ging schwer. Er war durchtrainiert, aber eher ein drahtiger Typ. Wie bei einem Boxer zeichneten sich seine Armmuskeln wie Taue unter der Haut ab, und so ein Sixpack wie seins bekam man nur durch eine Kombination aus genetischem Glücksfall, eisernem Training und strikter Diät.

Ja, ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen. Ich war auf keinen speziellen Typ Mann festgelegt, und große Kerle wie er waren perfekte Partner für guten, harten Sex, wie ich ihn ab und zu schätzte.

»Alvarez«, begrüßte er mich, als ich näher kam.

»Agent Shook.« Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm ich das Handtuch entgegen, das er mir reichte.

»Ich habe gesehen, wie du den Strand entlanggejoggt bist, und du wirkst etwas verschwitzt.«

Sein Blick folgte dem Handtuch, mit dem ich mir über die Brust wischte. Er schien die Show zu genießen, also nahm ich mir Zeit und trocknete mich gründlich ab, darauf bedacht, jeden Schweißtropfen zu erwischen. Da ich nichts weiter anhatte als meine knappen Laufshorts, gab es sehr viel Haut, die abgetrocknet werden wollte.

»Du wirst bestimmt schnell braun«, bemerkte Shook.

»Nein.« Ich hakte einen Daumen unter den Bund der Shorts und zog sie an der Seite ein Stückchen herunter, damit er sich davon überzeugen konnte, dass sich dort kein Bräunungsstreifen abzeichnete. »Ich bin von Natur aus ein dunkler Hauttyp.«

»Nun ja«, er verschränkte die Arme. »Du tust offensichtlich sehr viel für deine Fitness.«

War das etwa ein Beinahe-Lächeln? »Berufliche Notwendigkeit, aber nett, dass du es erwähnst. Und bitte sag Steele zu mir, nur meine Mutter nennt mich Alvarez.«

Er runzelte die Stirn, wodurch sich die Falte über seiner Nasenwurzel noch weiter vertiefte. Mir kam der Verdacht, dass sie nie ganz verschwand. »Tatsächlich?«, fragte Shook.

Ich lächelte ihn an. »Nein, und wenn sie noch mit mir spräche, würde sie mich ›Cassie‹ rufen.«

»Cassie?« Er grinste breit.

»Sie ist die Einzige, die mich so nennen durfte.«

»Warum spricht sie nicht mehr mit dir?«

Das Klappern von Geschirr und das Geräusch von Metallstühlen, die über Beton gezogen wurden, klangen zu uns herüber. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund. »Lass es mich so formulieren: Sie war nicht immer mit den Entscheidungen einverstanden, die ich in meinem Leben getroffen habe.«

Er brach überraschend in Lachen aus. »Und welche genau? Ich wette, deine Mutter hatte eine große Auswahl.«

Ich schüttelte lachend den Kopf. »Fast alle. Angefangen damit, dass ich mich zum Militärdienst gemeldet habe. Und die Tatsache, dass ich ihr nie ein nettes Mädchen als potenzielle Schwiegertochter vorstellen werde, hat ihr den Rest gegeben.«

Shook rieb sich mit einer Hand über den Dreitagebart. Wenn er mich nicht gerade musterte, als ob er mich am liebsten verhaften würde, war Agent Shook ein gut aussehender Mann. Mir gefiel es, wenn ich nach einer leidenschaftlichen Begegnung die Spuren von Bartstoppeln auf meinen Oberschenkeln spürte. Er seufzte. »Ja, meine Eltern waren davon auch nicht begeistert. Von beidem nicht.«

»Du hast auch gedient?«

Er überschattete die Augen mit einer Hand und blickte aufs Wasser hinaus. »Ich hätte jetzt wirklich gern eine Tasse Kaffee.«

Das war ein Ja. Aber ich wollte nicht weiter nachhaken. Jeder hatte das Recht auf seine Geheimnisse, und offensichtlich hatten wir alle mindestens eins. »Ich wette, das lässt sich einrichten. Der gute alte Charlie hat hier bestimmt irgendwo einen von diesen schicken Kaffeevollautomaten herumstehen.«

»Er war nicht alt«, bemerkte Shook, während wir am Pool vorbei zu der schattigen Terrasse vor der Küche gingen.

»Wer?«

»Charlie. Er war jünger als ich, und ich kann es immer noch nicht fassen, dass er tot ist.«

»Ich auch nicht«, sagte Josie, die auf der Terrasse wartete. »Es ist so traurig.« Sie hatte an diesem Tag auf die Hausmädchenuniform verzichtet und trug stattdessen eine leichte Caprihose und ein mädchenhaftes T-Shirt. Die legere Kleidung ließ sie jünger wirken.

»Wow, Miss Josie, das sieht fantastisch aus«, sagte ich beim Anblick des üppigen Frühstücks, das uns erwartete. Sie hatte mehrere Schüsseln mit aufgeschnittenem Obst auf dem großen Tisch im Schatten verteilt und jeden Platz eingedeckt. Auf einem langen Nebentisch standen ein Toaster sowie eine Auswahl verschiedener Brotsorten und Aufstriche. Josie war entweder schon vor dem Morgengrauen zur Arbeit gekommen, oder sie hatte hier übernachtet.

»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, Josie«, fügte Shook hinzu, griff aber gleichzeitig nach einer Kaffeetasse und einer Thermoskanne.

Josie zuckte mit den Schultern. »Was um Himmels willen soll ich denn sonst mit meiner Zeit anfangen? Stricken? Fernsehen? Ich koche eben gern für Gäste.«

Die Frau brachte mich ins Grübeln. Welche Aufgabe hatte sie eigentlich, und wer bezahlte sie dafür? Wohnte sie auch auf dem Grundstück? Vielleicht in der kleinen Wohnung über dem Poolhaus?

»Ist sonst noch jemand wach?«, erkundigte sich Shook.

»Nicht, dass ich wüsste, Agent Shook.« Josie nahm auf einem der Stühle Platz und schenkte sich ein Glas Orangensaft aus einem Krug ein, der in einer Schale mit Eiswürfeln stand.

Shook löffelte Zucker in seinen Kaffee, gab einen ordentlichen Schuss Kaffeesahne dazu und lächelte sie an. »Bitte nennen Sie mich doch Leo.« Er prostete mir mit der Tasse zu. »Das gilt auch für dich, Steele.«

»Ich fühle mich geehrt«, sagte ich.

Er verzog den Mund zu einem Grinsen, nippte an seinem Kaffee und seufzte zufrieden, als das Koffein seine Wirkung tat.

»Ich hätte dich eher für den Typ gehalten, der seinen Kaffee schwarz trinkt.« Ich nahm mir einen Orangenschnitz aus einer der Schalen.

»Die schwarze Brühe muss ich oft genug im Büro trinken. Wenn ich kann, verwöhne ich mich ein bisschen.«

»Du lässt es ja ganz schön krachen, Shook.«

Ich wollte mich neben Josie setzen, als mir aufging, wie sehr ich nach Schweiß riechen musste. Es wäre wirklich unfair, meinen üblen Gestank anderen Leuten zuzumuten, vor allem beim Essen.

»Ich gehe duschen und wecke dann die anderen, Miss Josie, damit sie zum Frühstück runterkommen. Sollte nicht länger als eine Viertelstunde dauern. In Ordnung, Ma’am?«

»Das ist absolut in Ordnung, Steele, mein Lieber. Und bitte sag Du zu mir.«

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, aber das geht nicht. Meine Mama würde aus Georgia einfliegen und mir schon allein für den Versuch eine Ohrfeige verpassen.«

Das brachte Josie zum Lachen. »Na schön.«

»Ich werde auch schnell duschen«, verkündete Leo. »Bis gleich. Ich habe so ein Gefühl, dass wir eine Menge zu besprechen haben werden.«

Ich stimmte zu. Allerdings konnte ich nicht behaupten, dass ich mich besonders darauf freute.

Ich schlenderte durch die Schiebetür in Charlies riesige Essküche. Auf der gepolsterten Eckbank fanden mindestens acht Personen Platz. Eine viereinhalb Meter lange Kücheninsel mit Herd, Arbeitsfläche und Theke mit Barhockern dominierte die Mitte des Raumes. Einbauschränke verdeckten eine Wand, unterbrochen von einem Spülbecken, in dem man eine Dänische Dogge hätte baden können. Gegenüber führte ein breiter Durchgang in den Wohnbereich.

Das große Wohnzimmer, in dem Miranda uns am Tag zuvor empfangen hatte, hatte eine hohe Decke wie in einer Kathedrale und bot einen Panoramablick auf den Strand. Sonnenlicht strömte durch die Glasfront, und trat man durch die Terrassentüren hinaus, fand man sich nur ein paar Meter von der Stelle entfernt wieder, wo Josie für das Frühstück gedeckt hatte.

Im ersten Stock befanden sich sechs Schlafzimmer – als ob jemand mit gesundem Menschenverstand jemals so viele brauchen würde –, und jedes verfügte über ein eigenes Bad. Wir hatten uns jeder ein Zimmer ausgesucht, nachdem Miranda uns mitgeteilt hatte, dass wir alle im Haus wohnen sollten. Wesley hatte die Villa übrigens sofort auf den Spitznamen »Bat-Höhle« getauft. Wir hätten uns auch auf die Außengebäude verteilen können, aber in unausgesprochenem Einverständnis blieben wir zusammen. Miranda hielt das möglicherweise für ein Zeichen unserer wachsenden Verbundenheit, tatsächlich wollten wir uns aber aus mangelndem Vertrauen lieber gegenseitig im Auge behalten.

Ich klopfte zuerst an Wesleys Tür. So, wie ich ihn kannte – und das tat ich eigentlich nicht besonders gut, wie ich hatte feststellen müssen –, war er noch wach. Er gehörte definitiv zur nachtaktiven Sorte.

Wie ich vermutet hatte, saß er an dem breiten Tisch, der ausschlaggebend dafür gewesen war, dass er sich für dieses Zimmer entschieden hatte. Obwohl er ständig herumjammerte, weil er auf seine geliebte technische Ausrüstung verzichten musste, hatte er anscheinend doch einiges mitgebracht. Der Tisch war ziemlich vollgepackt. Wes trug ein Headset wie aus einem Science-Fiction-Film und blaffte Befehle in das Mikrofon, das knapp vor seinem Mund schwebte.

Auf dem Bildschirm des größten Laptops, den ich je gesehen hatte, umringten gut einhundert Krieger ein schlangenartiges Monster und versuchten, es zu töten. Ich konnte allerdings nicht sagen, ob erfolgreich oder nicht.

»Shit, shit!«, rief Wesley. »Rad, verschwinde aus dem AOE! Bleib in Reichweite des Heilers, und alle anderen nutzen gefälligst ihre Buffs, verdammt noch mal!«

Ich wartete, bis er entnervt den Controller von sich warf.

»Schlechtes Spiel?«

»Schlechtes Team, aber das Spiel ist gut.« Er wirbelte in seinem Drehstuhl herum und sah mich an. »Was gibt’s?«

»Außer dass es helllichter Tag ist?«, fragte ich grinsend.

Wes drehte sich zum Fenster, wo helles Sonnenlicht unter den Rändern des Vorhangs hervorblitzte. »Na so was.«

»Komm runter, Josie hat Frühstück gemacht. Ich gehe schnell duschen, wir treffen uns unten.«

»Klingt super. Mehr Kaffee ist jetzt genau das Richtige.« Er lehnte sich im Stuhl zurück, gähnte und streckte die Arme über den Kopf.

»Das bezweifle ich.«

* * *

Carson hatte sich ein durchschnittlich großes Zimmer ausgesucht, wie es in jedem Mittelklassehotel des Landes zu finden war. Wahrscheinlich war genau das für Carsons Entscheidung ausschlaggebend gewesen. Ich klopfte an die Tür. Obwohl ich Stimmen hörte, reagierte niemand. Ich wartete ein paar Sekunden lang und klopfte erneut.

»Moment.« Carson klang verärgert. Ich hörte ihn leise vor sich hin murmeln, als er die Tür aufschloss und sie einen Spaltbreit öffnete.

»Nettes Outfit«, sagte ich. Carson war nur halb angezogen. Von der Taille aufwärts war er gekleidet wie ein Koch, allerdings waren die Initialen auf dem weißen Jackett nicht seine. Von der Hüfte abwärts trug er nichts weiter als mit Flamingos bedruckte Boxershorts.

»He, Meisterkoch«, drang eine blechern klingende Stimme aus den Lautsprechern des auf der Kommode stehenden Laptops. »Bist du noch da?«

Ich beschloss, gar nicht erst zu fragen.

»Bin gleich zurück!«, rief Carson mit einem entschieden nicht britischen Akzent über die Schulter und wandte sich wieder mir zu. »Was willst du? Wie spät ist es überhaupt?«

»Zeit fürs Frühstück.«

»Ich frühstücke nie.« Er sprach nun wieder mit dem gelangweilten britischen Tonfall, den ich bereits vom Vortag kannte. Er versuchte, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber ich hielt sie mit einer Hand offen.

»Miss Josie hat sich viel Mühe gegeben, also werden wir uns alle schön brav an den Tisch setzen und essen. Und dann sprechen wir über den Auftrag.« Ich war mir ziemlich sicher, dass einzig der Wunsch, das alles bald hinter uns zu bringen, uns zusammenhielt. »Je eher wir ihn erledigen, desto schneller können wir unserer Wege gehen. Also beendest du jetzt besser das FaceTime-Geturtel mit deinem Freund oder Anwalt, oder wer auch immer das ist, und kommst runter. Wir treffen uns auf der Terrasse.«

»Ach, zum Teufel.« Er lehnte sich gegen den Türpfosten und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bevor er sich darauf besann, dass er einen seriösen Eindruck machen wollte. »Gibt es Kaffee?«

»Gibt es.«

Carson rieb sich die Augen und schaute hinüber zu seinem Laptop. »Der Zeitunterschied«, erklärte er vage. »Ich beeile mich.«

»Ich werde mit angehaltenem Atem auf dein Erscheinen warten.«

Grinsend schüttelte er den Kopf. »Gib mir eine Viertelstunde.«

Damit schloss er die Tür.

* * *

Ich duschte, dann ging ich zu Ridges Zimmer. Wir hatten uns gestern auf dem falschen Fuß erwischt, und das war wahrscheinlich mein Fehler gewesen. Es war zwar schwer zu glauben, aber nicht jeder war sofort betört von meinem Charme. Ridge war reizbar und abweisend, und dafür gab es sicher einen guten Grund. Außerdem war ich noch nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass er wirklich einen Zwillingsbruder hatte. Das würde ich erst glauben, wenn ich beide zusammen im selben Raum sah.

Sollte es je dazu kommen, konnte mir aber niemand Vorwürfe wegen meiner schmutzigen Gedanken machen.

Ich klopfte leise an Ridges Tür, es tat sich jedoch nichts. Ich klopfte lauter, wieder ohne Erfolg.

»Ridge?« Keine Reaktion.

»Engelchen? Lebst du noch?« Immer noch regte sich nichts.

Es war noch früh, vielleicht sollte ich ihn schlafen lassen? Keine gute Idee. Wir mussten schnellstmöglich herausfinden, welchen Auftrag Charlie für uns hatte und wie wir an die Sache herangehen sollten.

Der Mistkerl hätte uns einfach sagen können, was er von uns wollte, so in der Art von »Ihr Auftrag, sollten Sie ihn annehmen, ist …«. Aber nein, er hinterließ uns nur ein paar mysteriöse Fotos. Wenn er nicht schon tot gewesen wäre, hätte ich ihn dafür erwürgen können. Mir war nicht entgangen, dass Miranda sich aus dem Zimmer geschlichen hatte, bevor wir den Umschlag öffneten, damit wir ihr keine Fragen stellen konnten. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zusammenzuarbeiten.

Friede, Freude, Eierkuchen.

Ich drehte am Türknauf, und zu meinem Erstaunen sprang die Tür auf. Hm. Ridge war es anscheinend egal, ob sich jemand Zutritt verschaffte.

Drinnen war es kalt wie in einem Kühlschrank, und in dem dämmrigen Licht, das durch die schweren Vorhänge drang, konnte ich ein Bett ausmachen. Unter einem Stapel von Decken zeichnete sich ein schlafender Körper ab.

»Ridge?«, rief ich leise und blieb in der Tür stehen. Ich kannte zu viele Leute, die mit einer Waffe unter dem Kopfkissen schliefen und mir eine verpassen würden, wenn ich sie aufweckte und dabei dem Bett zu nahe kam. Ridge hingegen bewegte sich nicht einmal. Ein leichtes Atemgeräusch war der einzige Hinweis darauf, dass er noch lebte.

»Ridge«, sagte ich etwas lauter. »Hallo, Engelchen. Aufgewacht, Frühstück ist fertig.«

Er murmelte etwas Unverständliches in das Kissen und drehte sich auf die andere Seite, wobei er sich die Decke über den Kopf zog, bis nur noch die blonden Locken hervorlugten. Ich fand das überraschend niedlich.

Ich musste ihn unbedingt dazu bringen, mich zu mögen. Mir gefielen Leute, die mich durchschauten und mir nichts durchgehen ließen. So gewann man am schnellsten mein Herz, oder wenigstens meine Freundschaft. Meine Liebhaber hingegen durften gern eine bessere Meinung von mir haben.

Dummerweise würde ich mit meiner Flirtmasche bei ihm wahrscheinlich nicht weiterkommen, sondern musste wohl ganz offen zu ihm sein, wenn ich seine Meinung über mich ändern wollte. Ich ging vor dem Bett in die Hocke und rüttelte ihn an der Schulter. Niemand möchte beim Aufwachen einen riesigen Typen bedrohlich über sich gebeugt sehen. »Hallo, Ridge, guten Morgen.« Seine Haut war weich, das gefiel mir.

»Hau ab, Alvarez«, murmelte er mit geschlossenen Augen.

»Oh, begrüßt man so etwa einen Freund?« Immerhin hatte er mir keine verpasst. Ich wartete einen langen Moment, bevor mir klar wurde, dass er wieder eingeschlafen war. So lief das also, wenn Ridge sich einer Sache mit Leib und Seele verschrieb. Ich kitzelte ihn sacht am Ohr. »Na komm, Pfeiffer. Es ist helllichter Tag.«

»Hau ab.« Jetzt zog er sich die Decke komplett über den Kopf, worüber ich lachen musste.

»Steh auf, du Morgenmuffel. Miss Josie hat ein Spezialfrühstück für uns aufgefahren und freut sich darauf, uns richtig reinhauen zu sehen. Wir wollen sie doch nicht enttäuschen, oder?«

Er seufzte tief. Anscheinend konnte er keinerlei Verständnis für den Teil der Weltbevölkerung aufbringen, der vor dem Mittag aufstand. »Also schön.« Mit einer übertrieben theatralischen Geste warf er die Decke von sich. »Gibt’s Kaffee?«

»Aber sicher. Und gebratenen Speck.«

»Oh verdammt, die Frau kennt meine Schwächen.« Er blinzelte mich mit seinen blauen Augen an. »Ich bin in fünf Minuten unten.«

Ich stand auf. »Toll. Da wäre übrigens noch etwas, Ridge.«

»Hmm?«

»Miranda hat die Fotos zwar mir gegeben, aber offensichtlich betreffen sie auch dich. Wir müssen uns dringend unterhalten.«

Er erwiderte meinen Blick und nickte. »Ich weiß. Aber nach einer Tasse Kaffee. Wie spät ist es eigentlich?«

»Ungefähr halb acht.«

»Morgens?« Er klang ehrlich entsetzt. »Was hab ich nur verbrochen?«

Ich lachte. »Fünf Minuten, Pfeiffer. Und mach dich schick und sexy.« Zugegeben, so ganz konnte ich das Flirten nicht lassen.

»Zisch ab, und schenk mir schon mal Kaffee ein.« Er setzte sich auf, und als er sich streckte, war nicht zu übersehen, dass er nackt schlief.

»Weißt du, was? Das, was du gerade anhast, ist völlig in Ordnung. Komm einfach so. Keiner wird sich daran stören.«

Ich duckte mich unter dem Kissen weg, das er nach mir warf, und ließ ihn allein.

* * *

Wie versprochen leistete Carson einem frisch geduschten Shook bereits Gesellschaft, als ich unten ankam. Über einer weißen Leinenhose trug er ein himmelblaues Guayabera-Hemd mit den typischen vier Taschen. Shook hatte sich für klassische Cargoshorts und ein T-Shirt entschieden, genau wie ich.

»Was trägst du unter deiner Leinenhose?«, fragte ich Carson. »Bei mir zeichnet sich immer die Unterhose ab. Und wenn ich auf Unterwäsche verzichte, kann man jedes verdammte Haar auf meinem Hintern sehen. Und alles andere auch.«

»Worauf wir alle gern verzichten, Steele.« Leo schenkte sich frischen Kaffee nach.

»Du vielleicht, aber viele würden gern einen Blick auf diesen Traumhintern ergattern.« Ich deutete kurz auf ebenjenen Traumhintern und setzte mich.

»Bitte sehr«, sagte Josie und servierte Leo ein Eiweiß-Omelett mit Spinat und Käse.

»Du musst mir das nicht bringen, Josie. Ich kann mich selbst bedienen.«

Sie winkte ab und setzte einen zweiten Teller, den sie in der anderen Hand hielt, vor Carson ab. »Bitte sehr, wie bei Muttern.« Auf dem Teller häuften sich Rührei, Schinken, gebackene Bohnen und etwas, das an eine Kreuzung aus einem Eishockeypuck und einem Würstchen erinnerte.

»Danke, Josie.« Carson wirkte verblüfft über dieses unerwartete Frühstück. »Das sieht köstlich aus.«

»Genau«, nuschelte Leo mit vollem Mund. »Danke. Es schmeckt ganz hervorragend.«

»Ich weiß«, erwiderte sie.

Ich beugte mich zu Carsons Teller hinüber und zeigte mit der Gabel auf einen merkwürdig aussehenden roten Klumpen.

»Ist das eine Tomate?«

Carson schlug meine Gabel beiseite. »Lass die Finger von meinem Essen, Alvarez, und beschäftige dich mit deinem eigenen.«

»Würde ich gern, wenn ich welches hätte.«

Ridge kam aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse. In einem Polohemd, schmal geschnittenen karierten Baumwollshorts und Sandalen sah er aus wie ein Model, das Inbild eines jungen, reichen Mannes auf dem Weg zum Country Club oder Golfplatz.

»Setz dich, mein Lieber.« Josie klopfte ihm auf die Schulter. »Für dich habe ich etwas ganz Besonderes zubereitet.«

Wesley griff nach der Kaffeekanne, aber Josie schnappte sie ihm vor der Nase weg. »Kein Kaffee für dich, junger Mann. Du kriegst Kamillentee. Hast du letzte Nacht überhaupt ein Auge zugetan?«

Wes schnappte nach Luft, sein Mund klappte auf und zu wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. »Ich schlafe mich später aus, versprochen.«

»Mmmhmm.« Josie verschwand in der Küche.

»Morgen«, grüßte Ridge in die Runde.

Mehr gab es wohl auch nicht zu sagen. Leo und Carson widmeten sich ihrem Frühstück. Wesley spielte mit seinem Handy, während Ridge und ich uns Orangensaft einschenkten. Josie klapperte in der Küche herum und sang laut die Countrysongs im Radio mit.

Wenn man drei Nullen vom Kaufpreis des Hauses gestrichen und den Golf gegen den Okefenokee-Sumpf ausgetauscht hätte, hätte ich mich glatt wie daheim gefühlt.

Josie kam mit zwei weiteren Tellern zurück. Pfannkuchen mit Speck für Ridge und ein vollgehäufter Teller für Wesley.

»Josie, das ist mehr, als ich sonst am ganzen Tag esse.« Wesley spießte ein Stück Speck auf und starrte es an, als hätte er so etwas noch nie gesehen.

»Ich weiß. Und ich werde mein Bestes geben, dich ein bisschen aufzupäppeln.«

»Und was ist mit mir? Wollen Sie mich nicht auch mästen?« Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich hatte Hunger und kein Problem damit, mir notfalls auch selbst etwas zu machen.

»Für dich habe ich etwas ganz Spezielles.« Josie ging zurück in die Küche und kam mit zwei Tellern zurück, auf denen sich jeweils eine Tortilla mit Spiegelei und Chilisoße befand.

»Chilaquiles! Mein Lieblingsgericht.«

»Weiß ich«, sagte sie. »Eine Portion für dich, eine für mich.« Sie zog sich einen Stuhl heran und quetschte sich zwischen Wesley und Ridge, wahrscheinlich in der Absicht, dafür zu sorgen, dass die beiden brav aufaßen.

Ich fischte das knusprigste Tortillastück heraus und packte ordentlich Ei, Käse und Salsa darauf, ehe ich es mir in den Mund schob. »Köstlich«, seufzte ich.

Josie lächelte. »So wie bei deiner Mama?«

»Nein. Meine Mutter ist mit sechzehn von zu Hause abgehauen und wollte seitdem von ihrer Familie und deren Lebensweise nichts mehr wissen. Ich habe zwar kubanische Wurzeln, aber von der Erziehung her bin ich ein typisches Südstaatengewächs. Ich kann nicht mal richtig Spanisch.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie schade.«

Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Nur das Kratzen des Bestecks auf den Tellern und die Rufe der Seevögel durchbrachen die Stille. Die Meeresbrise wehte eine Serviette vom Tisch.

»Ich hole sie«, sagte Josie. Sie schnappte sich die Serviette und ging damit in die Küche. Als sie zurückkam, hatte sie zwei Flaschen Champagner dabei, die sie mit einem lauten Klirren auf der gekachelten Tischplatte abstellte.

»Her mit euren Tassen, Gläsern oder was auch immer«, befahl sie.

Carson, Wesley und ich hielten ihr pflichtschuldigst unsere kleinen Saftgläser hin.

»Für mich nicht, danke«, sagte Leo.

Josie schaute ihn böse an, den Blick hart wie Stahl. »Wir haben etwas zu erledigen, und ich werde hier nicht herumsitzen und euch dabei zusehen, wie ihr euch gegenseitig anschweigt. Wir stoßen jetzt mit ein paar schönen Mimosas an, um das Eis zu brechen, und danach lasse ich euch Jungs alleine, damit ihr euch besprechen könnt. Denkt dran, je eher ihr den Job erledigt, desto schneller könnt ihr hier wieder weg und müsst nie wieder miteinander reden.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wenn es das ist, was ihr wollt.«

Leo hielt ihr sein Glas hin.

»Wer bist du eigentlich?«, fragte Wesley sichtlich beeindruckt.

»Ich arbeite, nein, ich habe für Charlie gearbeitet. Genau wie ihr alle. Zumindest zu seinen Lebzeiten. Jetzt kümmere ich mich um euch.«

»Erpresst er dich auch?«, wollte Ridge wissen.

»Das hat er anfangs tatsächlich getan.« Josie lächelte, als sei es eine schöne Erinnerung. »Ich wollte einen kleinen Schwindel in einem Hotel in Chicago abziehen und hatte mir unglücklicherweise Charlie als Opfer ausgesucht.« Sie verdrehte die Augen. »Wie sich herausstellte, hatte Charlie ebenfalls einen Coup geplant, einen richtig großen. Er hat bei meinem Spielchen eine Weile mitgemacht, aber als er Unterstützung bei seiner eigenen Sache brauchte, hat er mir gesagt, er hätte mich durchschaut, und gedroht, mich auffliegen zu lassen, wenn ich ihm nicht helfe.«

Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas. »Also habe ich ihm geholfen. Danach bat er mich zu bleiben, und ich bin geblieben. Ende der Geschichte. Jetzt seid ihr dran. Du fängst an, Computerfreak.«

Wesley hatte sich entspannt zurückgelehnt und an seinem Champagner genippt. Die Augen waren ihm schon halb zugefallen, und es sah so aus, als würde er nicht mehr lange durchhalten. »Ich?« Er richtete sich auf.

»Ja, du.«

»Okay.« Er schielte hinüber zu Leo. »Ich muss mir doch keine Sorgen machen, dass du mich verhaftest, oder?«

»Im Moment nicht, mir sind die Hände gebunden.« Leo fixierte ihn gleichmütig über den Rand seines Glases hinweg.

»Und später?«

Leo zuckte mit den Schultern.

»Jungs«, mahnte Josie, »schön artig sein. Nichts von dem, was hier gesagt wird, ist passiert. Das ist alles nur rein hypothetisch.« Sie leerte ihr Glas und griff nach der Flasche.

Leo nickte widerwillig.

»Ich war das mit dem Stromausfall letztes Jahr, der fast die ganze Ostküste lahmgelegt hat«, erklärte Wes.

Mir blieb der Mund offen stehen.

»Du warst das?« Ridge wirkte gleichermaßen verblüfft. »Krass, in dem Fall schulde ich dir was. Ich war damals gerade dabei, ein Bild zu besorgen, das zum Streitpunkt in einem Scheidungskrieg geworden war.«

Verständnisvolles Gemurmel war zu hören, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass wir wohl alle beruflich viel mit den kleinlichen Fehden anderer Leute zu tun hatten.

»Es war einer meiner ersten Brüche, und Murphys Gesetz schlug voll zu. Ich hatte das Haus eine Woche vorher ausspioniert, aber der Besitzer hatte inzwischen das Sicherheitssystem ausgetauscht und sein ganzes verdammtes Haus umgestaltet, sodass alle meine Fluchtwege versperrt waren. Ich dachte schon: Das war’s, jetzt schnappen sie mich, da gingen das Licht und die Alarmanlage aus. Zack! Mit einem Schlag war alles dunkel, und ich konnte mich aus dem Staub machen. Ich dachte, dass ich den Stromausfall meinem Schutzengel verdanke.« Ridge schüttelte den Kopf. »Aber jetzt weiß ich, du warst das.«

Wes lachte leise.

»Welche Rolle hat Charlie dabei gespielt?«, fragte Carson.

Wesley sah unbehaglich drein. Er trank seinen Mimosa in einem Zug und drehte das Glas zwischen den Händen hin und her. »Charlie war von mir beeindruckt, denke ich. Er hat es geschafft, die Sache bis zu mir zurückzuverfolgen.«

»Unglaublich«, murmelte Leo. »Er hat sogar den verdammten Zero gefunden.« Er hielt Josie sein Glas zum Nachfüllen hin.

»Und wobei hast du Charlie geholfen?« Ridge sah Wes fragend an.

Wes zog eine Augenbraue hoch. »Bei diesem und jenem. Und wie sieht es bei dir aus?«

Ridge zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Dieb. Meistens stehle ich Kunst, manchmal Schmuck. Kleinkram, den man leicht mitgehen lassen kann. Charlie hat mich über den albanischen Hehler aufgespürt, der das Zeug für mich verkauft hat, und wollte mich für einen Job anheuern. Ich brauchte Geld, und Charlie hat gut gezahlt. So einfach war das.«

Leo schnaubte.

»Was ist denn mit dir, Agent Shook? Wie bist du an die Einladung zu dieser Party gekommen?«

Leo presste die Lippen zusammen. »Ich bin keiner von euch. Ich war seit Jahren hinter Charlie her.« Er schüttelte den Kopf. »Es war ein ewiges Katz-und-Maus-Spielchen, quer durchs Land. Immer wenn ich ihm auf den Pelz rückte – und ich kam oft ziemlich nah an ihn ran –, ist er mir durch die Finger geschlüpft.«

Ich war mir sicher, dass ich mir den schwachen Unterton von Bewunderung in Shooks Stimme nicht einbildete.

»Was hat Charlie denn gegen dich in der Hand?«, wollte Ridge wissen. Die Antwort auf diese Frage interessierte mich ebenfalls brennend.

»Nichts.« Leo griff nach einem Gebäckstück.

»Schwachsinn«, meinte Wesley. »Dann wärst du nicht hier.«

Leo riss kleine Stücke von dem Gebäck ab und warf sie den Vögeln zu, die ohne Scheu vor uns auf der Terrasse herumhüpften.

»Na gut«, sagte ich, da er offenkundig nichts preisgeben würde, »ist ja auch egal. Wichtig ist, wirst du uns helfen?«

»Wobei denn?« Leo wurde laut. Er schmiss den Rest des Plunderstücks auf den Boden, woraufhin die Vögel aufflatterten. »Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn. Was soll Steele mit Fotos anfangen, die Pfeiffer beim Sex zeigen? Worum zum Teufel sollen wir uns denn kümmern?«

»Das bin nicht ich.« Ridge konnte seinen Ärger kaum unterdrücken. »Das ist mein Zwillingsbruder, du Trottel. Breck Pfeiffer.«

»Aber sicher«, spöttelte Wesley. »Der mysteriöse eineiige Zwilling.«

Ridge schenkte ihm einen mörderischen Blick. Ich war mir sicher, dass er Wesley gern eins auf die Nase gegeben hätte und es sich nur verkniff, weil Josie zwischen den beiden saß.

»Iss noch was«, schlug Josie vor und schob Ridge seinen Teller hin. Dann wandte sie sich Wes zu. »Du auch. Mehr essen, weniger streiten.«

Wes schaufelte sich gehorsam eine Gabel voll in den Mund. Dann schnappte er sich sein Handy und tippte darauf herum.

»Hast du die Fotos dabei?«, fragte mich Leo.

»Ja, ich dachte mir schon, dass wir sie brauchen würden.« Ich hob den Umschlag vom Boden auf, wo ich ihn abgelegt hatte, und zog die Bilder heraus. Ich sah sie durch und gab sie danach in die Runde, sodass jeder sie begutachten konnte. Es waren insgesamt sechsundzwanzig Farbfotos. Das Gesicht des alten Mannes war auf keinem klar zu erkennen. »Das sind wahrscheinlich Überwachungsfotos, die aus großer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen wurden. So körnig, wie die sind, tippe ich auf eine Analogkamera. Was meint ihr?«

Leo und Wesley blätterten den Stapel durch. »Möglich«, urteilte Leo.

»Ich bin mir fast hundertprozentig sicher.« Wesley hielt die Fotos ins Sonnenlicht und kippte sie vor und zurück. »Sieht aus, als wären sie von Hand entwickelt worden. Das sind keine Ausdrucke.« Er rieb mit einem Finger über die Oberfläche. »Ja, das ist eindeutig Fotopapier.«

»Schön, und was nun?«, wollte ich wissen. »Was sollen wir jetzt tun? Warum sollen wir uns dafür interessieren, wer es mit wem treibt?«

»Weil es um meinen Bruder geht, du Idiot! Er ist Student, verdammt noch mal. An der George Washington, oben in D. C. Er sollte diesen Sommer eigentlich irgendein Praktikum machen, und nicht … was auch immer er da tut.« Ridge wies voller Abscheu auf die Fotos.

»Wenn du dich in die Angelegenheiten deines Bruders einmischen willst, ist das deine Sache. Aber ich verstehe immer noch nicht, wieso das auch unser Problem sein soll.«

»Kannst du ihn nicht einfach anrufen und fragen, was es mit den Fotos auf sich hat?«, warf Wesley ein, immer noch voll auf sein Handy konzentriert. Wem auch immer er schrieb, antwortete rasend schnell. Und auch Wesleys Finger flogen nur so über das Display.

»Glaubst du etwa, das hätte ich nicht schon versucht?«, entgegnete Ridge. »Ich habe ihm gefühlt tausend Nachrichten geschrieben und keine einzige Antwort erhalten. Meine Anrufe landen direkt auf der Mailbox, und die ist voll. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nach Washington zu fahren und selbst herauszufinden, was da los ist. Und dafür zu sorgen, dass er mit diesem … Scheiß aufhört.«

»Mit ›Scheiß‹ meinst du Dreier mit hässlichen alten Knackern?«, fragte ich. »Zugegeben, das ist schon eine fragwürdige Entscheidung, auch wenn der andere Typ ziemlich heiß ist. Aber vielleicht hat der Alte Geld? Oder ist eine Granate im Bett? Vielleicht wollte dein Bruder auch einfach nur ein paar denkwürdige Erfahrungen machen? Oder er war schlicht betrunken.« Ich schnippte mit den Fingern, als hätte ich eine Erleuchtung. »Womöglich ist der Alte auch einer seiner Professoren, und dein Bruder lässt sich mit guten Noten dafür bezahlen, dass er ihm einen bläst!«

Leo knüllte eine Serviette zusammen und warf sie mir an den Kopf.

»Was denn? Ich habe das mal in einem Pornofilm gesehen. Vielleicht auch …« Ich räusperte mich. »Vielleicht auch mehr als einmal.«

Carson stöhnte auf.

»Was ich sagen will: Wen interessiert es denn, mit wem er schläft? Wenn er Spaß dran hat, geht uns das nichts an. Wenn er im Suff ein paar schlechte Entscheidungen getroffen hat, lernt er hoffentlich was draus. Und wenn er es für Geld macht, warum sollten wir ihn aufhalten?« Ich zuckte mit den Schultern. »Mir ist es völlig schnurz, wo ein Kerl seinen Schwanz reinsteckt.« Ich warf einen Blick auf die Bilder. »Oder besser gesagt, wo er ihn sich hinstecken lässt.«

»Alles Schwachsinn.« Ridge schüttelte entschieden den Kopf. »Breck würde so etwas nie freiwillig tun. Jemand muss ihn dazu zwingen.«

»Was, wenn Steele recht hat? Vielleicht tut er es für Geld?«, wandte Leo ein. »Er wäre nicht der erste gut aussehende Junge, der sich auf die Art etwas dazuverdient. Nichts auf diesen Bildern lässt darauf schließen, dass er es nicht freiwillig macht. Nicht mal das hier, auf dem dein Bruder offenbar ohnmächtig geworden ist und der alte Sack dem anderen eine Ohrfeige gibt …« Leo zögerte. »Wenn ich ehrlich bin, sieht es für mich danach aus, als ob der Alte sadomäßig drauf wäre. Und dein Bruder wirkt, als hätte er zu viel getrunken.«

»Nicht böse gemeint, Ridge, aber wenn das dein Zwillingsbruder ist, könnte er damit reich werden. Besonders mit Dreiern. Ihr seid beide ziemlich heiß, die Typen würden sich dumm und dämlich zahlen«, stellte Carson fest.

»Nein.« Ridge blieb hartnäckig. »Er braucht kein Geld. Dafür habe ich gesorgt. Alles, was er machen muss, ist sein Abschluss. Um die Finanzen kümmere ich mich.«

»Also, eigentlich«, sagte Wesley gedehnt, »könnte es durchaus sein, dass er Geld braucht, wenn ich mir das hier so ansehe.«

»Was meinst du?«, hakte Ridge nach.

»Ich habe ihn mal durchgecheckt. Dein Bruder ist pleite, Ridge. Und er hat sich bis zum nächsten Semester von den Vorlesungen befreien lassen. Super Noten übrigens.«

Ridge fiel die Kinnlade runter. Er schloss den Mund so fest, dass ich Angst um seine Zähne bekam. Seine Augen sprühten vor Wut. Breck würde beim nächsten Familientreffen sicher einiges zu hören bekommen.

»Ich dachte, deine Ausrüstung ist noch in Chicago, Wes?«, wunderte ich mich. »Wie hast du das so schnell herausgefunden?«

Wesley hielt sein Handy hoch und wedelte damit herum. »Aufgerüstetes Handy mit meiner selbst entwickelten Entschlüsselungssoftware. Ohne gehe ich nie aus dem Haus.«

»Ich kenne Charlie gut«, bemerkte Leo. »Wahrscheinlich besser als ihr alle, mit Ausnahme von Josie. Er würde uns nicht nach D. C. schicken, nur um einen Kerl davon abzuhalten, seinen Hintern zu verkaufen. Nichts für ungut, aber da muss mehr dran sein. Wenn es nur deinen Bruder beträfe, Ridge, warum hätte Charlie den Auftrag dann Steele erteilt? Da steckt mehr dahinter.«

»Denke ich auch«, stimmte Carson zu. »So direkt würde Charlie nie vorgehen. Wie es aussieht, hat er die Fotos wohl nicht benutzt, um den alten Knacker zu erpressen, oder?« Sein Akzent kam und verschwand wieder, und ich erkannte darin Ähnlichkeiten mit Josies gedehnter Sprechweise und Wesleys Neigung, Vokale in die Länge zu ziehen.

Wir schauten alle zu Josie. Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr braucht mich gar nicht so anzusehen. Keiner wusste, wo Charlie überall die Finger drinhatte.«

»Na toll«, sagte Ridge, »echt super.«

Josie setzte sich auf. »Ich bin mir sicher, Charlie hatte einen triftigen Grund für das hier. Er war ein guter Mensch.«

Ihre Worte wurden von uns allen mit einem Schnauben quittiert.

»War er wirklich«, bekräftigte sie.

»Er war ein Krimineller«, widersprach Leo. »Wie alle an diesem Tisch. Und damit meine ich auch dich, Josie.«

Sie grinste ihn an. »Ich behaupte ja nicht, dass er sich immer ehrlich und gesetzestreu verhielt. Nur, dass er ein guter Mensch war. Man kann beides sein, kriminell und gut.«

Leo kniff die Augen zusammen und hielt krampfhaft eine Erwiderung zurück. In seiner Welt schloss sich das wohl gegenseitig aus.

»Gibt es noch weitere Informationen, Josie? Weiß Miranda vielleicht mehr?«

»Nein, das ist alles. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Grenzen dafür gibt, was sie wissen darf, ohne ihre Zulassung zu gefährden.« Josie lächelte in sich hinein. »Aber ich bin überzeugt, sie würde Charlie persönlich umbringen, wenn er noch unter uns weilen würde.«

»Ja, Charlie hat diese Wirkung auf Menschen«, bestätigte Leo und blinzelte. »Hatte. Er hatte diese Wirkung.«

»Wir drehen uns im Kreis. Ich muss zu meinem Bruder.« Ridge stand auf. »Ich weiß, wie ich ihn finden kann, und ich ziehe das allein durch, wenn ich muss. Miranda hat gesagt, wir könnten Charlies Privatflugzeug nutzen.«

»Miss Josie, lassen Sie den Jet auftanken!« Ich wedelte gebieterisch mit einer Hand. »Das wollte ich schon immer mal sagen. Aber ernsthaft, wir haben doch eh keinen anderen Anhaltspunkt. Sieht ganz so aus, als ob wir uns alle auf die Jagd nach Ridge Nummer zwei begeben.«

Leo stand ebenfalls auf. »Ich lasse die Fotos durch ein paar Gesichtserkennungsprogramme laufen. Vielleicht finden wir so heraus, wer der Braunhaarige ist.«

»Meinst du, er könnte Charlies Zielperson sein?« Ich reichte ihm die Fotos, die ich noch in der Hand hielt. »Nicht der Alte?«

»Es könnten auch beide sein«, meinte Leo. »Du weißt doch, wie das ist. Keiner ist zu jung oder zu alt, um auf die schiefe Bahn zu geraten.«

Das wusste ich allerdings nur zu gut. »Na komm, Engelchen, du und ich räumen hier auf und schmieden einen Plan. Und Josie, könnten Sie bitte die nötigen Vorbereitungen treffen, damit wir so schnell wie möglich unauffällig nach D. C. fliegen können?«

Sie nickte.

»Eins noch«, sagte ich zu Ridge, als wir die schmutzigen Teller einsammelten. »Mein Fachgebiet ist sehr speziell. Es gibt nur einen Grund, aus dem Zivilisten mich anheuern, und anders als bei deinem Bruder handelt es sich dabei nicht um mein Aussehen. Charlie geht entweder davon aus, dass du oder Breck oder ihr beide einen Bodyguard benötigt, oder jemand soll ordentlich Prügel beziehen.« Oder Schlimmeres. Was ich wirklich nicht hoffte. Nichts würde mich glücklicher machen, als zu wissen, dass ich nie wieder jemanden umbringen musste. Tödliche Gewalt war für mich nur als allerletzter Ausweg akzeptabel, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Ich war kein Auftragskiller, und das war jedem klar, der meine Dienste in Anspruch nahm.

»Aber wer sollte das denn sein?«, wollte Ridge wissen. »Wen will Charlie fertigmachen?«

Leo und ich wechselten einen Blick. Keiner von uns wollte es aussprechen, aber beim Anblick alter Männer beim Sex mit halben Kindern kamen zu viele böse Erinnerungen hoch. Sogar solche, von denen ich glaubte, ich hätte sie tief genug vergraben.

»Lass uns deinen Bruder suchen«, meinte Leo. »Und es herausfinden.«

Pros & Cons: Steele

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