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PROLOG EIN INTERESSIERTER FREUND

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»Charlie hat sich ein nettes Plätzchen zum Sterben ausgesucht.«

Palmen schwankten leicht unter einem klaren blauen Himmel, die Luft schmeckte nach Salz, und die wenigen Quadratmillimeter meiner Haut, die nicht unter der Maskenbildnerarbeit, falschem Haar oder dem langen Priestergewand aus Polyester verborgen waren, spannten bereits und versprachen einen beginnenden Sonnenbrand.

Florida musste man einfach lieben. Es war ein wunderbares Fleckchen Erde, wenn es sich nicht gerade von seiner schlimmsten Seite zeigte. Sogar die in ordentlichen Reihen stehenden Grabsteine auf dem Friedhof wirkten irgendwie heiter.

Die Frau neben mir löste ihren nachdenklichen Blick von den Trauergästen, die sich um das frische Grab versammelt hatten, und schaute sich hastig um, ob jemand meine Bemerkung gehört hatte.

Pfft. Als ob ich mir einen solchen Anfängerfehler erlauben würde.

»Sprich leise, Vater, sonst fliegst du noch auf.«

Ich strich mir durch den langen grauen Bart, wobei ich überprüfte, ob er noch fest an meinem Gesicht haftete, und verzieh ihr die kritische Bemerkung. Priester vergaben, das war ihre Aufgabe, und ich war ein großer Fan von Method Acting.

»Ich meine ja nur«, sagte ich in einem leiernden Singsang. »Strahlender Sonnenschein, dazu diese hohen, klagenden Vogelrufe für das Extra-Quäntchen Dramatik, das ist doch die ideale Atmosphäre für eine Beerdigung. Volle Punktzahl für Florida. Charlie hätte das gefallen.«

Ein Mann aus der Trauergesellschaft sah misstrauisch zu mir herüber. Ich lächelte ihn wohlwollend an und hob eine Hand zum Segen. Prompt schaute er weg.

»Du Idiot, ich warne dich, wenn dich einer von denen erkennt und eine Waffe zieht, hau ich ab und überlasse dich deinem Schicksal. Kapiert?«

Ach, Miranda. Sie ließ mir nichts durchgehen, und dafür liebte ich sie.

»Klar.«

Sie nickte und widmete sich wieder der Beobachtung der schwarz gekleideten Männer und Frauen, die in Grüppchen zusammenstanden und sich unterhielten. »Außerdem ist es hier heißer als in der Hölle. So viel zur idealen Atmosphäre.«

»Es ist August, und wir sind in Sarasota, Ms Bosley. Kühler wird es hier zu dieser Jahreszeit nicht, wenn kein Wunder geschieht.« Ich räusperte mich. »Und Wunder sind rar, besonders da, wo der arme Charlie jetzt ist.« Ich neigte den Kopf und sah vielsagend zu Boden.

»Ich würde es sehr schätzen, wenn du dir Andeutungen über Charlie, wie er auf alttestamentarische Art in der Hölle schmort, verkneifen könntest. Dir macht es vielleicht nichts aus, dass er tot ist, aber ich … Also, mir wird er fehlen«, sagte sie. Ihre Augen glänzten verdächtig.

Ich seufzte und wippte leicht auf den Fußballen auf und nieder. »Es ist ja nicht so, dass mir sein Tod egal ist, Randa.« Charlies prächtige Villa mit dem Ausblick über den Strand würde ich zum Beispiel sehr vermissen. Man konnte vom Pool aus den Sonnenuntergang genießen, einfach traumhaft.

Außerdem war Charlie ein weltweit renommierter und respektierter Dieb gewesen, der auch mit Informationen handelte. Ohne ihn würde es für mich künftig schwieriger werden, denn sein Ruf und sein Einfluss hatten mir oft den Weg geebnet. Aber da ich nicht besonders sentimental veranlagt war, würde ich vermutlich trotzdem nicht lange um Charlie trauern. Um der guten alten Zeiten willen hatte ich vor, diesen letzten Job noch zu erledigen und mich danach spurlos aus dem Staub zu machen.

Diese Gedankengänge behielt ich vorerst jedoch lieber für mich. Miranda hatte dafür jetzt bestimmt kein offenes Ohr. Jedenfalls nicht, solange sie Trübsal blies.

»Ich glaube eben daran, dass Charlie Binghams gute Seiten in Erinnerung bleiben werden, verstehst du?« Ich merkte selbst, wie lahm das klang.

Sie warf mir einen Blick zu, wohl um abzuschätzen, ob ich es ernst meinte, und ich blinzelte treuherzig zurück. Sie schniefte.

»Und noch was«, fuhr ich fort. »Ich erkläre dich offiziell zum größten Trauerkloß, der mir je begegnet ist.«

Sie schnappte nach Luft. »Das nimmst du zurück!«

Ich faltete fromm die Hände. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es als Sünde gilt, wenn ich lüge, solange ich mich als Priester ausgebe.«

»Du bist unmöglich«, sagte sie kopfschüttelnd, aber ich sprach einfach weiter.

»Gib es zu, Miranda Bosley, hinter der Fassade der eiskalten, knallharten Anwältin …«

»Professionell, meinst du wohl.«

»… verbirgt sich eine mitfühlende Seele. Du nimmst Anteil am Schicksal deiner Mandanten.«

»Charlie war eine Ausnahme«, erwiderte Miranda leise und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Die einzige Ausnahme.«

»Ach, komm schon«, sagte ich und nickte einer hübschen Rothaarigen zu, die sich in der dritten Reihe von vorn niedergelassen hatte. Ich versuchte, sie ernst anzuschauen, wie ein Mann, der sich um den Zustand ihrer Seele sorgte. Aber ganz ehrlich, alles, wofür ich Augen hatte, war ihre Handtasche, die unbeachtet unter ihrem Stuhl lag. Manchmal legten es die Leute geradezu darauf an, beklaut zu werden.

»Wie lange warst du Charlies Anwältin? Zehn Jahre? Wir beide kennen uns doch schon viel länger. Und du liebst mich.«

»Träum weiter.« Miranda musterte mich von oben bis unten, begutachtete jedes Detail meiner Verkleidung und stieß dann einen angewiderten Seufzer aus. »Selbst schuld, du wolltest dieses lächerliche Vorhaben ja unbedingt durchziehen.«

»Lächerlich?« Ich räusperte mich empört. »Hör mal, Randa, Charlies Zeit war gekommen, und alle wussten das. Viele Leute wollen ihr Gewissen erleichtern, bevor sie abtreten. Die Waagschalen ins Gleichgewicht bringen, indem sie Unrecht wiedergutmachen, das sie begangen haben. Das ist doch nicht lächerlich, sondern bewundernswert! Ich bin jedenfalls froh darüber, dass ich etwas für Charlies Seelenheil tun kann.« Gut, das war vielleicht ein bisschen dick aufgetragen. Ich strich mir wieder durch den Bart und überlegte kurz, ob ich mir einen echten wachsen lassen sollte. Die Geste hatte etwas außergewöhnlich Beruhigendes. »Ich kann doch nichts dafür, wenn ich auch ein bisschen Spaß an der Sache habe, Babe. Du kennst mich doch.«

»Stimmt, ich kenne dich. Und Charlie kannte ich auch.« Miranda bedachte mich mit einem bohrenden Blick aus ihren grünbraunen Augen. »Charlie hätte unauffällig verschwinden sollen. Möglichst ohne dass die ganze Welt es mitbekommt, so wie es alle anständigen Diebe tun. Stattdessen veranstalten wir hier diese pompöse Beerdigung und erpressen Leute, damit sie seine Arbeit zu Ende führen.«

»Harte Worte«, sagte ich. »Wo bleibt denn dein Respekt vor dem Toten?«

»Nicht hart, nur zutreffend«, erwiderte sie und setzte wieder ihr Pokerface auf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir bei dieser Sache mitmachen. Dir ist schon klar, wie wahnsinnig gefährlich das ist, oder?«

»Miranda«, beschwichtigte ich sie, »es wird schon gut gehen, ganz bestimmt.«

Sie pikste mich mit einem ihrer makellos manikürten Fingernägel schmerzhaft in die Schulter. »Schau dir die Typen da drüben doch mal an. Die sind nur hier, weil wir ihnen quasi keine Wahl gelassen haben.« Sie wies mit dem Kinn auf einen engelhaften Blondschopf in der ersten Reihe, der so unnatürlich still saß, wie ich es bisher nur bei Psychopathen, Auftragskillern und absoluten Ausnahmedieben beobachtet hatte. »Der da ist Ridge Pfeiffer. Er könnte dir deine Seele rauben und wäre damit schon zwei Staaten weiter, bevor du es überhaupt bemerken würdest, mein Lieber. Und dann haben wir da drüben noch Castille Alvarez und Wesley Bond.«

Ich folgte ihrem Blick zu einer einsamen Palme, die etwas abseits von der größten Gruppe Trauernder stand. In ihrem Schatten schob sich ein unverschämt gut aussehender schwarzhaariger, breitschultriger Riese schützend vor einen kurz geratenen, unruhig wirkenden Kerl mit dunkelrotem Haar. Ich hatte schon immer gedacht, Alvarez hätte Model werden sollen, das wäre die perfekte Tarnidentität für ihn. Model-Schrägstrich-Auftragskiller. Man konnte in hässlichere Gesichter blicken, wenn man seinen letzten Atemzug tat.

»Du weißt schon, dass Steele dich auf zehn verschiedene Arten umbringen könnte, bevor du auch nur auf die Idee kämst, um Hilfe zu schreien? Und Bond könnte mit einem Kaugummi und einer Lupe einen Laserstrahl erzeugen, der deine Leiche ruckzuck in einen Schmorbraten verwandelt«, sagte Miranda.

Ich schnaubte.

»Und Special Agent Leo Shook muss ich gar nicht erst erwähnen, oder?« Fragend zog sie eine Augenbraue hoch.

»Nein, musst du nicht.«

»Und nicht zu vergessen Carson Grieves.«

Ich schaute mich nach ihm um und runzelte die Stirn. »Ich kann ihn nirgendwo entdecken.« Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich gar nicht genau wusste, wie Grieves aussah.

»Braunes Haar, brauner Anzug, dritte Reihe. Tut so, als wäre er scharf auf die Blondine mit der tief ausgeschnittenen Bluse«, erklärte Miranda.

»Oh, verdammt«, murmelte ich und versuchte, nicht allzu beeindruckt zu klingen. »Er hat’s drauf.«

»Wundert dich das etwa?«, fragte Miranda tadelnd. »Sollte es nicht. Carson könnte dich am helllichten Tag vor zwanzig Zeugen erschießen, und keine zwei Menschen würden eine identische Personenbeschreibung abgeben oder sich überhaupt daran erinnern, dass er da war.«

»Miranda, meine Liebe, warum muss ich denn in jedem deiner kleinen Szenarien am Ende sterben?«

»Weil das hier verdammt gefährlich ist«, sagte sie und nickte lächelnd dem Bestattungsunternehmer zu, der ihr über die Köpfe der Versammelten hinweg irgendein Zeichen gegeben hatte. »Diese Typen sind nicht hier, weil sie Charlie Bingham die letzte Ehre erweisen wollen. Die wären nicht mal aus perverser Neugierde gekommen. Sie sind deiner Einladung nur gefolgt, weil Charlie etwas gegen sie in der Hand hatte und ich gedroht habe, das Material zu veröffentlichen, wenn sie nicht auftauchen und brav mitspielen.«

Miranda drehte sich wieder zu mir um. »Und du hast tatsächlich den Nerv, dich rausgeputzt wie eine Mischung aus Rasputin und dem Weihnachtsmann an Charlies Grab zu wagen.« Sie legte eine Hand auf das schwere Silberkreuz, das ich an einer Kette um den Hals trug. »Manchmal frage ich mich, ob du es darauf anlegst, erwischt zu werden. Damit du Charlie ins Grab folgen kannst.«

Ich blinzelte betroffen. Verdammt, die Frau kannte mich einfach viel zu gut und wusste besser, was in mir vorging, als ich selbst. Ich nahm ihre Hand und hielt sie locker, ganz der Priester, der eine trauernde Freundin tröstet.

»Zuerst einmal werden sie mich nicht erwischen«, sagte ich bestimmt. »Auf gar keinen Fall, verstanden? Ich habe mich noch nie erwischen lassen und habe auch nicht vor, jetzt damit anzufangen. Ich bin wie ein Geist, an den keiner einen Gedanken verschwendet. Charlies unsichtbaren kleinen Helfer hat keiner auf dem Schirm.«

Ich schaute hinüber zu den Männern, die wir eingeladen hatten. Es waren Typen wie ich oder Charlie. Gefährlich, aber anständig. Kriminelle, die sich streng an ihren moralischen Kodex hielten. Aus diesem Grund hatte Charlie sie ausgewählt. »Es ist sicherer für alle, wenn sie nie herausfinden, wer ich bin oder in welcher Verbindung ich zu Charlie stehe, und so soll es bleiben. Ich werde mich in Charlies Missionen nicht einmischen, und wenn doch, dann nur aus der Ferne.«

Miranda sah mich einen Moment lang prüfend an, dann nickte sie.

»Und zweitens spüre ich Rasputins Geist in mir«, fuhr ich fort und fasste mir mit einem Finger an die Schläfe. »Ihn zu verkörpern, ist nicht einfach, aber ein Tipp von Tyra Banks war sehr hilfreich. Du kennst doch das YouTube-Video, in dem sie erklärt, man könne ruhig schlampig herumlaufen, solange man es mit Stil tut. Also, was hältst du von meiner Rasputin-aber-mit-Stil-Interpretation?« Ich blickte an meinem wallenden Gewand hinab.

Sie konnte ein kleines Lachen nicht unterdrücken, tarnte es jedoch schnell als Schluchzer und rieb sich die Stirn.

»Furchtbar! Nimmst du eigentlich je irgendetwas ernst?«, fragte sie.

Ich seufzte. »Natürlich, das weißt du doch, Randa-Panda«, sagte ich. »Ich nehme nichts von alledem hier auf die leichte Schulter. Ich nehme Charlies letztes Anliegen ernst, und die Gefahr, die von Alvarez, Pfeiffer, Grieves, Bond und Agent Shook ausgeht, nehme ich auch ernst. Aber die Aufträge, die sie erledigen sollen, weil Charlie selbst nicht mehr dazu gekommen ist, nehme ich noch viel ernster. Das soll Charlies letzter großer Triumph werden, Babe, sein letzter Coup. Wir bereiten ihm einen stilvollen Abgang. Einverstanden?«

Sie atmete tief ein und zupfte am Saum ihres schwarzen Jacketts, als suche sie dort Halt.

»Ich wiederhole mich ungern«, bemerkte sie dann ohne eine Spur ihrer früheren Ergriffenheit, »aber hier ist es heißer als in der Hölle.«

Miranda war wieder ganz die beherrschte Anwältin, und ich presste die Lippen zusammen, damit sie mein Lächeln nicht sah. Gott, wieso fand ich ernsthafte Leute, die sich ständig Sorgen machten und sich an die Regeln hielten, nur immer so anstrengend?

»Hör auf mit dem Gejammer«, sagte ich und strich mir wieder durch den Bart. »Was glaubst du, wie ich unter diesem Rasputin-Gewand schwitze?«

»Leg es doch ab. Sogar Priester müssen bei dieser Hitze Zugeständnisse machen.«

»Geht leider nicht«, wandte ich betrübt ein. »Ich trage nichts drunter.«

Es dauerte eine Sekunde, bis sie das vollständig verarbeitet hatte, aber dann starrte sie mich mit großen Augen und offen stehendem Mund an.

»Ich glaub dir kein Wort.« Sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Nie im Leben bist du nackt da drunter.«

War ich nicht, jedenfalls nicht komplett, aber ihr Gesichtsausdruck war die Lüge wert. »Möchtest du nachschauen?«

Miranda sah so schockiert aus, dass ich fast in Lachen ausgebrochen wäre. Sie kniff die Augen zusammen. »Dass du noch lebst, lässt mich ernsthaft am Der-Stärkste-überlebt-Erfolgskonzept zweifeln.«

»Ich habe neun Leben, wie eine Katze«, sagte ich verhalten lächelnd.

»Acht, wenn du das hier durchziehst und ich dich danach in die Finger kriege, Vater.«

Der Bestattungsunternehmer gab ein weiteres Zeichen und winkte mich zu dem bescheidenen Podium, das vor den versammelten Trauergästen aufgebaut worden war. Showtime.

Ich drehte mich zu Miranda um. »Du erledigst deinen Teil und ich meinen. Für Charlie.«

»Für Charlie«, wiederholte sie und wollte sich gerade auf den Weg machen, da kam ein Mann auf uns zu. Er war groß, mit dunklem, an den Schläfen leicht angegrautem Haar und dem schmalen, markanten Gesicht eines Models. Kiefer und Wangenknochen waren so scharf ausgeprägt, dass man damit Diamanten hätte schneiden können. Mein Herz erkannte ihn zuerst und klopfte bereits heftig in meiner Brust, als mein Verstand ihn endlich identifizierte.

Special Agent Leonard Shook. Durch die silbernen Schläfen wirkte er noch vornehmer als früher, was wirklich erstaunlich war. Einst der Liebling des FBI, war er kürzlich für längere Zeit beurlaubt worden.

Mirandas Augen weiteten sich im selben Moment wie meine, wenn auch wahrscheinlich aus einem anderen Grund.

»Ms Bosley«, grüßte Shook freundlich, während er mich nur mit einem flüchtigen Blick streifte. »Vater.«

Seine tiefe, raue Stimme, volltönend wie ein Kontrabass, hatte ich wohl schon eine Million Mal in meinen Träumen gehört. Natürlich hatte er bei diesen Gelegenheiten weit schmutzigere Dinge gesagt und mich todsicher nicht mit »Vater« angesprochen. Ich hingegen hatte ihn möglicherweise schon das eine oder andere Mal »Daddy« genannt. Jeden Morgen, wenn ich verschwitzt und erregt und leider allein aus diesen Träumen erwachte, redete ich mir ein, dass seine Stimme unmöglich so tief sein konnte und meine Vorstellungskraft mir diesbezüglich ganz sicher einen Streich spielte.

Aber da lag ich falsch. Wenn überhaupt, klang sie in Wirklichkeit noch rauer und aufregender.

»Vater?«, fragte Miranda scharf und schaute mich eindringlich an.

Verflucht, während ich in Erinnerungen an meine feuchten Träume schwelgte, stand das Objekt meiner Begierde leibhaftig vor mir und wartete auf eine Antwort.

»Verzeihung«, sagte ich in einer etwas höheren Stimmlage als normal und imitierte den leichten russischen Akzent meiner Großmutter. »Die Hitze macht mich ganz benommen.«

Leo runzelte die Stirn und fasste mich am Ellbogen, wohl aus Sorge, ich könnte das Bewusstsein verlieren. »Geht es Ihnen nicht gut? Möchten Sie sich setzen?«

»Nein, nein«, wehrte ich ab und schüttelte den Kopf, obwohl das Teufelchen auf meiner Schulter anderer Meinung war. Ja, bitte, am liebsten auf deinen Schoß. »Es ist alles in Ordnung.«

»Vielleicht legen Sie besser das Gewand ab«, schlug Leo vor, was Miranda mit einem erstickten Geräusch quittierte.

»Nein, danke. Das wäre unangemessen.«

»Sie werden doch um der Pietät willen keinen Hitzschlag riskieren«, stellte Leo sachlich fest und griff nach dem Saum.

»Nein! Bitte nicht, mein Sohn.« Ich trat einen Schritt zurück. Sagten russisch-orthodoxe Priester überhaupt »mein Sohn«? Ich konnte mich nicht erinnern. In diesem Moment kam ich mir schrecklich schlecht vorbereitet vor. Ich saß hier auf dem Präsentierteller, schon ein klitzekleiner Fehler konnte mich auffliegen lassen.

Vielleicht hatte Miranda recht damit, dass ich das alles nicht ernst genug nahm. Ich hatte mir eingeredet, es sei wichtig, heute hierherzukommen. So konnte ich die Lage beurteilen, ohne selbst gesehen zu werden, und Miranda später hinter den Kulissen helfen. Dabei war ich davon ausgegangen, dass die Priesterverkleidung mich praktisch unsichtbar machen und keiner dieser Ganoven ausgerechnet einen Geistlichen näher unter die Lupe nehmen würde.

Aber ich hatte eben nicht mit Leo Shook gerechnet. Verflucht, wieso ging mir dieser Typ so unter die Haut?

Ich konnte nicht mehr sagen, wann oder wo genau ich mich in Leo Shook verliebt hatte, aber es war passiert, bevor wir uns persönlich begegnet waren. Er war der Javert zu Charlies Jean Valjean, genau wie bei den Gegenspielern aus »Les Misérables« hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. Einmal hätte er Charlie fast erwischt, ohne es zu wissen. Shook war Charlies Nemesis gewesen, ihm immer ganz dicht auf den Fersen. Die Katz-und-Maus-Spielchen waren so amüsant gewesen, dass ich mich, obwohl ich zu Charlies Team gehörte, manchmal nicht hatte entscheiden können, wem ich nun die Daumen drücken wollte.

Ich atmete tief durch. »So«, sagte ich mit meiner hohen Priesterstimme und vergaß auch nicht den Akzent, »jetzt geht es mir besser.«

»Wenn Sie meinen«, entgegnete Leo zweifelnd.

»Vielleicht sollten Sie die Trauerrede lieber nicht halten, Vater«, schlug Miranda vor. »Ich übernehme das gerne für Sie, dann können Sie sich für die letzten Bestattungsriten zurückziehen.«

Ich nickte, dankbar für den Ausweg, den sie mir bot. »Ja, so könnte es gehen.«

»Ich muss zugeben, es war mir nicht bewusst, dass Charles Bingham so ein ausgesprochen religiöser Mensch war.« Leo musterte Miranda skeptisch.

Gott sei Dank hatte er sich an sie gewandt. Ich war mir nicht sicher, ob ich seinem prüfenden Blick standgehalten hätte. Wahrscheinlich hätte ich es nicht geschafft und die Sache vermasselt, noch bevor sie richtig angefangen hatte.

Miranda hingegen verwendete sein Misstrauen gegen ihn. »Es gibt viele Dinge, die Sie über meinen Mandanten nicht wissen, Agent Shook.«

»Es hat ganz den Anschein. Dass Charlie ein Erpresser war, wusste ich zum Beispiel auch nicht.«

»›Erpressung‹ ist ein hässliches Wort«, gab sie zurück. »Und in diesem Fall trifft es auch gar nicht zu. Es handelt sich um eine rein geschäftliche Vereinbarung.«

»Vereinbarung«, wiederholte Leo. »Mit wem? Charlie ist tot. Die zahnmedizinischen Unterlagen haben das bestätigt.«

Merkwürdig, wie betroffen er sich anhörte. Wir hatten allerdings auch eine verflucht intensive Dreiecksbeziehung, Charlie Bingham, Leo Shook und ich.

»Als Nachlassverwalterin bin ich autorisiert, die Bedingungen der Vereinbarung auszuhandeln, allerdings in Zusammenarbeit mit einem anderen Interessenten.«

»Ein Interessent«, sagte Leo und schnaubte gereizt. »Und wer zum Teufel soll das sein?« Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Bitte verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Vater.«

Mr Interessent, das war ich höchstpersönlich. Der Strippenzieher hinter den Kulissen, der mit Charlie Binghams Ehrenrettung beauftragt worden war und aus dem Verborgenen heraus fünf sehr gefährliche Männer wie Marionetten an unsichtbaren Fäden lenkte.

Ich winkte ab und betrachtete hoch konzentriert die Spitzen meiner auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe, die unter dem Gewand hervorlugten.

»Ich werde von meinen Mandanten sehr für meine Diskretion geschätzt«, merkte Miranda an.

»Es interessiert mich verdammt wenig, was Ihre Mandanten an Ihnen schätzen«, erwiderte Leo bissig. »Ich will wissen, wie vielen Leuten Charlie erzählt hat, was er über mich wusste. Oder zu wissen meinte.«

»Zurzeit bin ich die Einzige.« Miranda inspizierte ihre Fingernägel. »Wie ich bereits sagte, als Nachlassverwalterin bin ich bevollmächtigt, Ihnen und einigen weiteren ausgewählten Kandidaten einen Job anzubieten. Natürlich im Austausch gegen … gewisse vertrauliche Informationen, die für Sie wichtig sein könnten.«

Miranda zuckte leicht die Schultern, als wäre es nichts Besonderes, dass sie einen FBI-Agenten auf einem Friedhof vor fünf Dutzend Zeugen derartig unter Druck setzte. Sie hatte mehr Mumm als die meisten, sogar viel mehr, als Charlie je bewiesen hatte. Verflucht, sie war wahrscheinlich mutiger als die ganze Versammlung von Trauernden zusammengenommen. Außerdem hatte sie einen gesunden Respekt vor dem Gesetz, weshalb sie auch so darauf bedacht war, es nicht zu brechen. »Sie haben das Vorkaufsrecht, Agent Shook. Wenn Sie das allerdings nicht nutzen möchten, werden andere die Gelegenheit erhalten, für die Ware zu bieten.«

»Diese Ware, also Bilder von …«

Miranda fiel ihm schroff ins Wort. »Nicht hier. Wir halten nach der Beerdigung eine exklusive Versammlung in Mr Binghams Haus ab. Dann können Sie Ihre Fragen stellen.«

»Eine exklusive Versammlung«, wiederholte Leo.

Er verhielt sich wie ein Papagei – was ganz untypisch für den gelassenen, in sich ruhenden Agent Shook war, den ich kennengelernt hatte. Normalerweise hätte ich mich sehr darüber amüsiert, aber vor lauter Furcht, entdeckt zu werden, hatte ich immer noch Herzrasen. Der Schweiß lief mir buchstäblich in Strömen die Beine hinunter und sammelte sich in meinen ach so angemessenen Schuhen.

»Sehr exklusiv«, bestätigte Miranda, »Sie sollten unbedingt daran teilnehmen. Das Haus ist oben an der Gulf Shore Road, das Unternehmen heißt …«

»Bigolb-Autumn Enterprises, ich weiß«, sagte Shook seufzend.

Er kannte Charlies Wohnsitz? Und den dämlichen Namen von Charlies Briefkastenfirma auch? Wie war das möglich?

Miranda war schockiert und versuchte gar nicht erst, es zu verbergen. »Woher wissen Sie das?«, fragte sie. »Diese Information ist streng vertraulich.«

»Ach, das weiß ich schon seit Langem«, antwortete Shook müde und schüttelte wehmütig den Kopf. »Nur Charlie Bingham würde sich einbilden, er könne ein Unternehmen ›Big Old Bottom Enterprises‹ nennen und das vor aller Welt geheim halten.«

Aber es war wirklich ein Geheimnis gewesen. Nicht einmal die zwei oder drei Personen, denen Charlie die Wahrheit anvertraut hatte, hätten es je herausgefunden, wenn er es ihnen nicht gesagt hätte. Leo Shook war scharfsinniger, als ich ihm zugetraut hatte. Und er war Charlie dichter auf den Fersen gewesen, als der sich jemals hätte träumen lassen.

Miranda und ich wechselten einen Blick. Verdammter Mist!, signalisierte ich mit meinem und las in ihrem: Du Idiot, ich hab dich gewarnt, dass es gefährlich wird!

Dass Leo über diese Informationen verfügte, war eine besorgniserregende Neuigkeit. Trotzdem musste ich zugeben, dass ich auch verdammt angetörnt war.

Leo fuhr sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar. »Dann freue ich mich auf die Besprechung später im Haus«, sagte er in einem Tonfall, der nahelegte, dass es weder eine erfreuliche noch eine friedliche Auseinandersetzung werden würde.

Er drehte sich zu mir. »Kommen Sie auch, Vater?«

»Wer, ich? Nein. Um Himmels willen, nein«, erwiderte ich lächelnd, als wäre das ein völlig abwegiger Gedanke, und übertrieb es dabei vielleicht etwas mit dem Akzent. Ich wäre zwar gern dabei gewesen, damit ich jedermanns Reaktion mit eigenen Augen hätte beobachten können, aber es war klüger, die Geschehnisse aus der Ferne zu verfolgen. Zumindest für den Augenblick.

Leo nickte. »Also dann. Darf ich um Ihren Segen bitten, Vater?«, fragte er mit ernster, feierlicher Miene.

Verflucht, als Agent, der sich in gewissen Kreisen bewegte, war er natürlich mit den Gepflogenheiten der russisch-orthodoxen Kirche vertraut.

Glücklicherweise hatte sich der Wortlaut des Segens dank der unzähligen Messen, die ich mit meiner Babuschka Sonia besucht hatte, so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich ihn, ohne nachzudenken, aufsagen konnte. Ich erhob eine Hand und hielt sie ihm dann entgegen, wie es der Brauch verlangte, woraufhin er sie mit seinen beiden umschloss und zum Kuss an die Lippen zog.

»Passen Sie gut auf sich auf«, sagte Leo, als er meine Hand losließ. Er nickte Miranda kurz zu und nahm neben Ridge Pfeiffer Platz.

Ich ballte die Fäuste so fest, dass ich den schnellen Puls in jedem meiner Finger spürte. Nur eine einzige Berührung von Leo, und mein Magen fuhr Achterbahn.

Miranda hatte recht: Charlies letzter Coup erwies sich als gefährliches Spiel für uns alle. Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Pros & Cons: Steele

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