Читать книгу Verliebt in meinen Feind - Lisa Torberg - Страница 10
Zwei
Оглавление»D-danke. Ja, also ich ...«
Giulia spürte, wie ihr Lächeln langsam gefror. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und seufzte innerlich genervt auf. Manchmal wünschte sie sich wirklich, einfach nur auszusehen wie jede andere x-beliebige Norditalienerin, die sie kannte. Zwar hatte sie sich im Lauf ihres beinahe vierzigjährigen Lebens bereits an so gut wie jede Erscheinungsform einer verblüfften Reaktion gewöhnt, aber so übertrieben baff, wie der junge Schnösel tat, der ihr gegenüber am Tresen stand, hatte schon lange niemand mehr reagiert, der sie zu Gesicht bekam und ihren abenteuerlichen Namen hörte.
»Okay«, sagte sie schnell, als von ihm keine weitere Reaktion kam als ein dümmliches Grinsen. »Unsere Anmeldeformulare haben wir hier. - Annarita, kannst du mir mal bitte eins rüberreichen?«
Ihre Vertraute und Rezeptionistin warf Giulia einen vielsagenden Blick zu, als sie ihr das Blatt über den Tresen schob. Offensichtlich war das merkwürdige Verhalten des neuesten Mitglieds auch ihr aufgefallen, was bedeutete, dass sie es sich nicht eingebildet hatte.
»Hier. Und da ist auch ein Stift. Füllen Sie das bitte aus, damit wir Sie in unsere Kartei aufnehmen können. Die Daten werden weitergeleitet an die nationale Laiensportlervereinigung, den Ausweis bekommen wir zugeschickt und geben ihn dann an Sie weiter.«
»Ich weiß, ich ... war schon mal in einem Studio Mitglied«, sagte er hastig, als er offenkundig seine Sprache wiedergefunden hatte. Seine rot glühenden Ohrläppchen waren unübersehbar.
»Ich muss Ihnen außerdem der Korrektheit halber sagen, dass wir nicht in allen unseren Kursen Platz für neue Teilnehmer haben, weil die maximale Anzahl schon erreicht oder sogar überschritten ist.«
»Ja? Und das bedeutet?« Seine dunkelbraunen Augen sahen sie fragend an, der Stift schwebte reglos über dem Blatt Papier auf dem Tresen. Anscheinend begriff er nicht, worauf sie hinauswollte.
»Für den Fall, dass das Ihre Entscheidung, bei uns Mitglied zu werden, beeinflussen sollte.«
»Ach so ... nein.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich brauche keine Kurse. Nur Kardiotraining und ein paar Geräte. Gibt es hier in der Nähe denn auch ein Hallenbad?«
»Im Keller. Allerdings nur ein kleines - zwanzig mal zehn Meter.«
Er riss erneut die Augen auf. »Ah - genial.« Dann schien er sich seiner Absicht zu besinnen und wandte sich dem Formular und seinem Stift zu.
Giulia drehte sich währenddessen weg, um ihn in Ruhe seinen Daten zu überlassen, und trat zu Annarita hinter den Tresen. Gemeinsam gingen sie eine Liste mit Teilnehmern für den Seniorenlauf am kommenden Samstag durch, doch aus dem Augenwinkel schielte sie immer wieder zu dem sonderbaren Kerl ihr gegenüber.
Ob auch er bei seinem Händedruck den kleinen, elektrischen Schlag gespürt hatte, der ihr durch und durch gegangen war? War er daran erschrocken und hatte deshalb so sonderbar reagiert? Na, egal, das war jedenfalls keine Entschuldigung, so dumm aus der Wäsche zu schauen, dachte sie. Beinahe unhöflich hatte er sie angestarrt, und das war auch der Grund gewesen, warum sie ihm nicht das Du angeboten hatte, wie es sich bei ihr und fast allen ihren Mitgliedern eingebürgert hatte. Der Schönling hatte etwas an sich, das sie instinktiv vorsichtig sein und auf Distanz bleiben ließ.
Attraktiv war er ja, das musste sie zugeben. Aber von dieser Sorte Mann schwirrte hier im Studio eine ganze Menge herum. Und außerdem ...
»Ich bin fertig«, ließ er sich nun vernehmen und wedelte mit den beiden Blättern - Original und Durchschlag.
»Danke.« Annarita nahm sie entgegen und stempelte sie ab. »Der Monatsbeitrag ist 85 Euro, darin ist die Benutzung aller Geräte sowie des Schwimmbads und der Sauna inbegriffen. Kurse kosten extra, alle weiteren Behandlungen und Anwendungen auch, aber das erklärt dir am besten Giulia selbst.«
Giulia runzelte die Stirn. Hatte Annaritas Stimme hier einen komischen Unterton gehabt? Aber nein - sie führte schließlich immer, wenn sie gerade bei einer Neueinschreibung anwesend war, die- oder denjenigen durchs Haus. Warum also nicht auch ...? Sie warf einen Blick auf das Formular ... Daniele, richtig.
Sein Geburtsdatum ließ sie innerlich auflachen - der Bursche war gerade mal zarte dreiunddreißig, während sie an Halloween ihren Vierzigsten feiern würde.
»Du musst mir nur das hier unterschreiben und auch den Antrag für die Sportversicherung«, hörte sie Annarita fortfahren. »Das macht noch mal 35 Euro, aber die werden nur einmal im Jahr fällig.«
»Ja, das kenne ich schon«, sagte er leise. »Und außerdem, wie schon gesagt, Kurse brauche ich keine. Mir reicht mein Ausdauerprogramm, und so viel Zeit habe ich sowieso nicht.«
Er setzte eine schwungvolle Unterschrift unter alles, was Annarita ihm präsentierte, und legte dann den Kugelschreiber weg.
»Wenn Sie dann so weit sind?« Giulia musterte ihn mit distanziertem Blick. Die braunen Augen schwenkten zu ihr, lange Wimpern klimperten, ein fast schüchternes Lächeln spielte um den vollen Mund.
Ja, unbestritten - der Kerl war hübsch.
Sehr sogar.
Und sieben Jahre jünger als sie.
Sechseinhalb, korrigierte ihr penibles, nordisches Erbe, gerade so, als ob das auch nur irgendeine Rolle spielen würde.
»Ja, bin ich.«
»Was?«
»Ich bin so weit. Das hatten Sie doch gefragt, oder?«
»Ja.« Sie räusperte sich. Verflixt, sie sollte sich besser konzentrieren, wenn sie sich seinen Respekt und damit die notwendige Distanz erhalten wollte. »Kommen Sie, wir gehen. Ihre Tasche können Sie mitnehmen, ich bringe Sie zuerst zu den Umkleideräumen.«
»Schön«, meinte er, und sein Lächeln sah plötzlich nicht mehr schüchtern, sondern zufrieden aus. »Ich kann es kaum erwarten, mich endlich wieder mal so richtig zu bewegen und auszupowern.«
»Dazu werden Sie hier genug Gelegenheit bekommen«, bestätigte Giulia ruhig und ging ihm voran durch einen lichtgrau gestrichenen Gang. Dort wies sie auf die dritte Tür links. »Würden Sie die Tasche einstweilen nur abstellen, bitte? Ich muss nach unserem Rundgang zu einem Termin außer Haus und es könnte sonst knapp werden. Sie haben nachher ja so viel Zeit, wie Sie wollen, um sich umzuziehen - inzwischen aber ... hier.« Sie hielt ihm zwei knallblaue Plastikschuhüberzieher hin.
»Kein Problem.« Er räusperte sich und schob die Tasche eilig durch die halb geöffnete Tür, streifte sich die Plastikdinger über die Schuhe und wandte sich dann zu ihr. »Fertig.«
»Gehen wir. - Wie Sie schon gesehen haben, sind hier im Erdgeschoss sowohl unser Empfangsbereich als auch die Umkleideräume.« Giulia ging zurück, an der Rezeption vorbei durch die Glastür, die neben dem Kardioraum in den kleineren Gerätesaal führte. »Da Sie offensichtlich nicht zum ersten Mal ein Studio besuchen, brauche ich Ihnen die einzelnen Geräte ja wohl kaum zu erklären«, meinte sie mit einem Seitenblick zu ihm.
»Nein«, antwortete er kurz. »Die kenne ich. Und falls ich Fragen haben sollte, nehme ich an, dass jemand da sein wird, der sich darum kümmert.«
»Selbstverständlich. Wir haben drei Fitnesstrainer, die sich abwechselnd in erster Linie um die Kraftmaschinen und ihre korrekte Benutzung kümmern.« Sie sah sich kurz um und winkte. Lächelnd kam ein muskelbepackter Glatzkopf aus der hintersten Ecke, wo er bei einem sehr jungen Mädchen die Übungen an der Beinpresse überwacht hatte. »Das ist Enzo. Enzo, Daniele ist seit heute ein neues Mitglied bei uns. Falls er etwas brauchen sollte ...«
Sie ließ den Satz unvollendet, doch Enzo nickte lebhaft.
»... dann kann er jederzeit zu mir kommen. Hallo Daniele, freut mich, dass du zu uns gefunden hast.«
Die beiden schüttelten sich die Hände, dann mischte sich Giulia ein. »Danke, Enzo - ihr könnt euch ja dann später noch unterhalten, ich hab’s leider eilig. Wir sehen uns dann.« Sie wandte sich an Daniele. »Hier entlang bitte.« Bewusst vermied sie es, ihn bei seinem Namen anzusprechen, als sie ihm voran ins Treppenhaus ging. Wieder war da dieses alberne Bedürfnis in ihr, ihn sich möglichst weit auf Distanz zu halten.
Sie warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu, als sie um den Treppenabsatz bog, und tatsächlich! Natürlich lag sein Blick wo?
Auf ihrer Kehrseite.
Ehe sie augenrollend den Kopf wieder drehte, sah sie ihn erröten und schnell wegschauen. Sie räusperte sich.
Er auch.
Zum Glück waren sie in diesem Moment im nächsten Stockwerk angekommen, und sie öffnete die Tür, die aus dem Treppenhaus in die Tanzsäle führte. »Nach Ihnen«, sagte sie süffisant mit einladender Geste. »Gleiches Recht für alle.«
Wieder wurde er rot, sagte aber nichts darauf, sondern kratzte sich verlegen im Nacken.
»Hier also«, fand sie zu ihrer gewohnt geschäftsmäßigen Redeweise zurück, »haben wir die Räume, in denen all die Kurse stattfinden, zu denen wir keine Geräte brauchen außer ein paar Stepper oder dergleichen. Dürfte Sie vermutlich nicht interessieren, nehme ich an.«
»Stimmt«, sagte er. »Ich bin eher weniger der Typ für den Tanzkurs.«
Giulia musterte ihn kopfschüttelnd. »Noch so einer«, meinte sie. »Dass Männer einfach nicht begreifen wollen, wie unwiderstehlich Frauen gute Tänzer finden?« Sie wandte sich ab, ehe Daniele Zeit für eine Erwiderung fand. »Aber das sind ohnehin meist die Kurse, die einen Aufnahmestopp haben. Bei Piloxing wäre noch was frei, falls Sie überschüssige Aggressionen loswerden wollen. Ansonsten haben wir das übliche Programm zwischen Zumba, Stepp, Pilates, Yoga, House und Hip-Hop. Moderner Tanz und Ballett werden ebenfalls hier in diesem Stockwerk unterrichtet.«
Sie ging weiter, ihren Neuzugang immer im Schlepptau. Daniele blieb schweigsam, und als sie erneut ins Treppenhaus und eine weitere Etage nach oben gingen, fühlte Giulia sich einigermaßen unbehaglich.
Sie ging schneller.
»Hier ist unsere Wellnessoase«, erklärte sie mit leicht abgekühlter Stimme, kaum dass sie in der obersten Etage angekommen waren. »Hier haben Sie die verschiedensten Massagemöglichkeiten zur Auswahl, und falls nötig, finden Sie auch einen Physiotherapeuten, der Sie betreut.«
Wie auf Kommando öffnete sich eine Tür zu ihrer Linken, und ein Mann, breit wie ein Schrank, trat heraus. »Guten Morgen, Giulia! Gut geschlafen?« Er grinste sie breit an.
»Ja, sehr gut, danke. Morgen, Gipsy. Das hier ist Daniele. Er ist seit heute Mitglied bei uns. Daniele, das ist Gipsy, der beste Masseur in ganz Italien.«
Der lachte tief und geschmeichelt. »Du übertreibst mal wieder maßlos, mia cara! - Hallo, Daniele. Wie geht’s?«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, und Giulia hatte den flüchtigen Eindruck, dass Daniele unter Gipsys kraftvoller Begrüßung deutlich zusammenzuckte. Sie verbiss sich ein Grinsen.
»Danke, gut. Also wenn ich dann mal eine Massage brauche ...«
»... bist du bei mir an der richtigen Adresse. Mach bei Giulia oder Annarita einen Termin aus, und schon ist alles klar, okay?«
»Okay.« Daniele nickte. »Kraft in den Fingern hast du schon mal, das ist gut.«
Gipsy zuckte grinsend die Achseln. »Tschuldigung. Bei Typen pass ich da meistens nicht so auf, die müssen das abkönnen, nur bei den Mädels bin ich vorsichtiger. Stimmt’s, Giulia?«
»Ja, bei den Mädels hat er Hände wie Samt«, bestätigte diese schmunzelnd. »Drum ist er auch meistens ausgebucht. Verspannungen haben bei Gipsy nur eine kurze Lebenserwartung.« Sie wandte sich an den dunkelgelockten Hünen. »Wir sehen uns später, okay? Ich muss jetzt weiter, wir waren noch nicht im Nassbereich.«
»Schönen Tag noch, und herzlich willkommen, Daniele.«
»Danke!«
Gipsy verschwand in einem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, und Giulia setzte ihre Tour fort. »Hier oben haben wir in erster Linie weibliches Publikum. Kosmetikbehandlungen, Solarium, Pediküre ... Ich zeige es Ihnen auch nur der Vollständigkeit halber, das dürfte Sie kaum interessieren.«
Während sie redete, öffnete sie die Tür zu einer der geschmackvoll ausgestatteten Kabinen.
»Sehr schön«, lobte Daniele. »Wann kann ich hier meinen ersten Behandlungstermin haben?«
Giulia blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn einen Moment lang ungläubig an. Dann lachte sie aus vollem Hals. »Der war gut! Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch das Schwimmbad im Keller.«
»Äh - das muss nicht unbedingt sein«, meinte er vorsichtig auf dem Weg nach unten im Treppenhaus. »Sie haben doch erwähnt, Sie seien in Eile. Ich kann mir den Pool auch allein und irgendwann später mal ansehen. Außerdem würde ich gerne gleich mit dem Training anfangen. Ich habe nämlich am Nachmittag noch einen Termin.«
»Na schön, das passt mir gut«, kommentierte Giulia aufatmend. »Dann muss ich mich nicht so abhetzen. Wir sehen uns also bei Gelegenheit. Viel Spaß und auch von mir noch ein herzliches Willkommen.«
Augenblicke später trat Giulia hinter die Rezeption und angelte nach ihrer Handtasche. Annarita sah von ihrer Tastatur auf.
»Das war aber heute eine kurze Führung - und das bei diesem Adonis.«
Giulia sah sie irritiert an. »Adonis?«, wiederholte sie zweifelnd.
Annarita grinste breit. »Hast du neuerdings Tomaten auf den Augen? Der Kerl ist ein echtes Sahneschnittchen. Und du gefällst ihm, das war nicht zu übersehen.«
Giulia kramte hektisch in ihrer Tasche. »Wo ist denn nur mein Autoschlüssel? - Ja, schon möglich ... Also gut, er ist sehr attraktiv. Aber er könnte mein Sohn sein, also lassen wir das. - Ah, da ist er ja.« Triumphierend hielt sie ihren Schlüssel hoch.
»Dein Sohn, ja?« Annarita starrte sie an, als hätte sie nicht mehr alle Latten am Zaun. »Warum nicht gleich dein Enkel? Was ist denn heute mit dir los?«
»Nichts, aber der Kerl ist mir suspekt. Hast du nicht gesehen, wie komisch er mich angestarrt hat, als er hier hereinkam? Vielleicht hat er was gegen blonde Frauen.«
»Natürlich hat er dich angestarrt. Sie starren dich alle an, falls du das noch nicht weißt.«
»Doch, und ob ich das weiß. Aber es gibt Starren und Starren, verstehst du?«
»Nein. Wie meinst du das?«
»Er hat eben - komisch gestarrt. Das war nicht das typische ›Blond-Starren‹, wie ich es gewohnt bin.«
»Sondern? Wie dann?«
»Eben anders. Und jetzt hör auf, mich zu löchern, ich muss los.«
»Bist du für die Seniorenstunde nicht ein wenig zu früh dran?«
»Ich hab noch was zu erledigen unterwegs.« Giulia zwinkerte. »Außerdem mögen es die Herrschaften, wenn man ein bisschen früher dran ist, weißt du? Sie fühlen sich dann trotz ihres hohen Alters ernstgenommen.«
»Ja, ich weiß - aber du hast noch zwei Stunden Zeit bis dahin.«
»Ich kauf mir eben mal einen Cappuccino, was ist dabei?« Sie hängte sich ihre Handtasche über die Schulter, schnappte sich ihre Sporttasche und winkte Annarita fröhlich zu. »Bin dann mal weg, okay?«
»Oookay?«
Giulia ignorierte Annaritas fragende Miene. Natürlich, es war mehr als ungewöhnlich, dass sie mitten am Tag das Studio verließ, und eigentlich hatte ihre vorgeschobene Eile auch nur dazu dienen sollen, die Begrüßungstour mit dem Neuen so kurz wie möglich zu halten, weil der ihr einfach irgendwie suspekt vorgekommen war. Doch jetzt, als sie auf die Straße hinaustrat, verspürte sie tatsächlich Lust darauf, sich in irgendein Straßencafé zu setzen und in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken. Dass sie für einen Stadtbummel nicht angezogen war, störte sie wenig - ihre Divisa, die Uniform ihrer Oase, war durchaus straßentauglich.
Also deponierte sie ihre Sporttasche im Auto und verließ den Parkplatz in Richtung auf das nächstgelegene Café, setzte sich in die Spätsommersonne und bestellte sich bei der vorbeilaufenden Kellnerin einen Cappuccino.
Nachdenklich rührte sie ein wenig später in dem sahnig-cremigen Milchschaum herum. Es tat gut, einfach mal wieder nur zu sitzen und runterzukommen, fand Giulia. Sie war ja immer in Bewegung, immer unterwegs, beinahe ohne Pause. Warum sie allerdings ausgerechnet heute aus ihrem eigenen Studio geradezu geflüchtet war, hatte ganz gewiss nichts mit ihrem beunruhigend attraktiven Neuzugang zu tun, versicherte sie sich selbst. Er war nur einer unter vielen hübschen Jüngelchen, die sie wegen ihrer Größe und ihrer auffallend blonden Haare mit offenem Mund anstarrten und versuchten, bei ihr wenigstens ein Mal zu landen, um dann bei ihren Trainingskumpanen mit ihrer Eroberung anzugeben. Das jedoch hatte bei ihr noch nie einer geschafft, da war Giulia äußerst konsequent.
Und sie würde es auch bleiben, egal, wie Daniele Barbieri sie mit seinen sanften, lang bewimperten, braunen Augen angehimmelt hatte.
Unbehaglich registrierte sie, dass sie sich weitaus mehr mit ihm beschäftigte, als ihr lieb sein konnte.
Ja, also gut.
Sie gab es zu.
Er hatte sie verwirrt und sie dazu gebracht, davonzulaufen, warum auch immer. Er hatte etwas an sich ... sie konnte es sich selbst nicht erklären.
Mit gerunzelter Stirn begann sie, ihren Milchschaum zu löffeln, als ihr Handy läutete.
»Carlo! Wie schön, dich zu hören!«
»Giulia, cara - wie geht es dir? Ich vermisse dich unendlich, weißt du das?«
»Ich dich auch! Und danke der Nachfrage, mir geht es sehr gut. Lass mich raten - du bist in der Stadt?«
»Ab morgen für drei Tage, und ich kann es kaum erwarten, dich endlich wieder zu spüren! Ich habe außerdem zufällig gesehen, dass Zucchero übermorgen Abend ein Saisonabschlusskonzert in der Arena gibt, und werde versuchen, noch zwei Karten für uns zu ergattern, was meinst du? Hoffentlich bekomme ich noch etwas unten im Parkett, aber wenn das nicht geht, dann eben irgendwo anders.«
»Ach was!«, neckte sie lachend. »Der große Carlo Marangon würde sich auch auf die Steinstufen der Seconda Gradinata setzen?«
»Mit dir schon, tesoro, und vor allen Dingen mit der Aussicht auf dein weiches, kuscheliges Bett danach! Also? Magst du?«
»Also gut - dann kümmere dich darum, aber erwarte dir nicht zu viel. Soweit ich gehört habe, gibt es nur noch Schwarzmarktkarten, und die zu horrenden Preisen.«
»Dolcezza, du weißt doch, dass es mir egal ist, was sie kosten. Ich möchte mir mit dir einen schönen Abend machen, egal, um welchen Preis.«
»Ja, ich weiß.« Merkwürdig - es war das erste Mal, dass sie seine Art als unangenehm empfand. Und wann hatte er eigentlich angefangen, sie Dolcezza, Süße zu nennen? Sie war alles Mögliche, aber sicher nicht süß!
»Giulia? Bist du noch dran?«
»Ja, Carlo, natürlich, ich war nur gerade kurz abgelenkt.«
»Sag mal - ist das Straßenlärm bei dir im Hintergrund?«
»Ja - warum?«
»Was machst du um diese Zeit auf der Straße?«
»In einem Café sitzen.«
»Ist das nicht sehr ungewöhnlich für dich?«
»Na ja - eigentlich schon, aber mir war heute danach.«
»Ah ... so. Aber sonst ist alles in Ordnung bei dir, oder?«
War es denn wirklich so verdammt merkwürdig, dass sie mal fünf Minuten ausspannte? »Ja, alles in Ordnung. - Carlo, weil ich dich gerade am Telefon habe ... denkst du, du schaffst es dieses Jahr zu meinem Geburtstag? Ich habe mitbekommen, dass sie mir im Studio eine kleine Feier ausrichten wollen, und ich fände es schön, wenn du auch ...«
»Giulia!« Er klang unüberhörbar genervt. »Du weißt doch selbst, was für ein ungünstiges Datum das ist! Ich kann nicht einfach alles liegenlassen und mir einen Liebesurlaub gönnen. Die Zwillinge sind gerade in einem sehr schwierigen Alter und wollen an Allerheiligen ihre Party haben. Du weißt doch hoffentlich, dass das eine uralte italienische Tradition ist, oder?«
»Ja, auch wenn ich einen isländischen Vater habe, ist das nicht an mir vorbeigegangen«, erwiderte sie bissiger, als sie eigentlich vorgehabt hatte.
»Na also. Dann verstehst du mich ja hoffentlich.«
»Ich verstehe dich immer - und zwar schon seit zwei Jahren, falls dir das nicht aufgefallen ist.«
»Nun sei doch nicht gleich so zickig, Liebes! Du wusstest von Anfang an, dass ich Kinder habe und wir uns nur sporadisch sehen würden. Und wenn ich mich nicht irre, war dir das auch sehr recht so.«
»Nein, du irrst dich nicht«, gab Giulia lahm zu.
»Na also. Sollte sich deine Meinung dazu geändert haben, dann fände ich es sehr angenehm, du würdest mich vernünftig darüber informieren, anstatt mir hier am Telefon eine vollkommen nutzlose, emotionale Szene zu machen.«
»Ich mache dir keine Szene, Carlo, ich lade dich zu meinem vierzigsten Geburtstag ein«, wies sie ihn kühl zurecht. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe, okay? Sag mir noch Bescheid wegen der Karten. Bis dann also!«
Ohne Carlos Antwort abzuwarten, legte sie auf. Ungläubig starrte sie das Telefon an.
Was war das denn gerade gewesen?
Seit sie mit dem Investmentbanker vor gut zwei Jahren dieses lockere Verhältnis ohne Rechte und Pflichten eingegangen war, hatten sie nie auch nur die geringste Meinungsverschiedenheit gehabt. Dazu sahen sie sich auch viel zu selten, und genau so hatte es ihr gefallen. Was war nur heute mit ihr los, dass sie aus heiterem Himmel einen Streit mit ihm vom Zaun brach?
Aber Halt!, mahnte sie sich. Sie hatte ihn nur gefragt, ob er mit ihr Geburtstag feiern würde, und er hatte daraufhin unerwartet gereizt reagiert.
Wahrscheinlich hatte er gerade Stress mit seiner Noch-Ehefrau. Sie hatten die separazione legale eingereicht und sich offiziell getrennt, doch der Kinder wegen lief nicht alles so reibungslos, wie er sich das vorstellte. Das bekam sie, Giulia, nun offensichtlich zu spüren.
Entschlossen leerte sie den Rest ihres Cappuccinos, und zum ersten Mal, seit sie Carlo kannte, drängte sich ihr die Frage auf, wo diese Einbahnstraße eigentlich hinführen sollte. Dann aber schob sie den unliebsamen Gedanken, der sofort von der Erinnerung an zwei dunkelbraune Augen begleitet wurde, wieder beiseite und machte sich auf, dem Seniorenheim ihren wöchentlichen Besuch abzustatten.
Ihre sportbegeisterten Senioren würden sie schnell wieder in die Spur bringen.
Hoffte sie zumindest.