Читать книгу Verliebt in meinen Feind - Lisa Torberg - Страница 11
Drei
ОглавлениеIn der letzten Stunde hatte er sich ausgepowert, die Hantelstange überstrapaziert und dabei immer wieder Enzos Blick auf sich gespürt. Daniele wusste, dass seine Muskelmasse engagierten Bodybuildern, zu denen der Fitnesstrainer unübersehbar gehörte, ein nahezu mitleidiges Lächeln abrang. So war es auch gewesen, als er in Trainingshosen und Muskelshirt nach einer halben Stunde auf dem Laufband den Kraftraum betreten hatte. Jetzt lächelte Enzo nicht mehr, ganz im Gegenteil. Er legte ein betont desinteressiertes Verhalten an den Tag und ging zwischen den Geräten herum, die von einigen Frauen benutzt wurden. Der späte Vormittag war in allen Fitnesscentern, bis auf wenige Ausnahmen, dem schwachen Geschlecht vorbehalten. Leider! Denn Daniele spürte auch hier, wie im AvVentura in Bologna, die Blicke einiger Damen auf sich. Nur störte es ihn daheim weniger, da es sich um Teilnehmerinnen seiner Kurse handelte. Hier kam er sich hingegen vor wie Freiwild. Wie hatte er nur die Zielscheibe auf seiner Stirn vergessen können?
Die zugegebenermaßen gut aussehende, jedoch total überschminkte Dunkelhaarige, die seit etwa einer Viertelstunde genau seiner Hantelbank gegenüber die Beinmaschine benutzte, würde in wenigen Stunden aufgrund der Überproduktion von Milchsäure mit O-Beinen herumlaufen. Er wich ihrem lasziven Blick aus, legte sich wieder zurück und griff nach der Stange, um seine letzte Serie zu beginnen. Es fehlte nur noch, dass sich ausgerechnet hier eine Frau an ihn heranmachte. Die Oasi di Giulia war für ihn nichts anderes als berufliches Terrain und seine Aufgabe hier sehr hart, musste er doch versuchen, unerkannt jeden Winkel des Fitnesscenters auszuloten, um raschestens einen Plan zu entwickeln. Er stemmte die Stange hoch und hievte sie in ihre Halterung, setzte sich auf und griff nach dem Handtuch.
»Ciao, bist du neu hier?«
Daniele zuckte zusammen. Ihre quietschende Stimme drang ihm durch Mark und Bein. Notgedrungen, denn ignorieren half nichts, hob er den Kopf an, stand dabei auf und überragte sie prompt um eine Haupteslänge. Er überlegte schon, ob er sie ganz einfach übersehen sollte, entschied sich dann dagegen. Feinde konnte er hier drinnen bei dem, was er vorhatte, nicht brauchen. Ganz im Gegenteil, er musste sich Freunde schaffen und, so wenig Lust er auch darauf hatte, dieses Opfer bringen. Er verzog seine Mundwinkel nach oben und grinste.
»Sieht man das?«, beantwortete er die ihre mit einer Gegenfrage.
Sie blinkerte mit den Augen. Er konnte sehen, wie schwer ihr die Bewegung der Lider fiel, auf denen eine doppelte Reihe falscher Wimpern klebte, ganz abgesehen von Kajal, Lidschatten und Glitzerzeugs.
»Ja, na ja ... Na eigentlich nicht ... Ich meine ...«
Und dumm war sie offenbar auch. Volltreffer! Daniele verdrehte die Augen - natürlich nur in Gedanken - und wartete. Aber da kam nichts. Entweder war ihr die Luft ausgegangen oder reichten die paar nicht mit Unwichtigem belegten Gehirnzellen nicht aus, um einen kompletten Satz zu formulieren.
»Jaaaa?« Er zog den Vokal absichtlich in die Länge, vielleicht konnte sie ein wenig davon verwenden, um ein Wort zusammenzustellen. »Ich bin Daniele«, fügte er hinzu, als sie immer noch stumm zu ihm hinaufstarrte, und streckte ihr die Hand hin. Sie schlug ein, besser gesagt, sie ließ es zu, dass er ihre kraftlosen Finger drückte. Allerdings schien der Fluch des Stotterns gebannt. Sie plapperte drauflos.
»Hi, ich bin Silvia und jeden Tag hier. Weißt du, ich arbeite am Abend im Get-in-Touch, und sobald ich aus den Federn komme, bin ich schon hier. Zum Ausgleich sozusagen.« Sie kicherte und hielt sich dabei die freie Hand vor den Mund, wie es kleine Kinder tun. »Wo hast du vorher trainiert?«
Daniele hielt sich an dem zusammengerollten Handtuch fest, das er um seinen Hals gelegt hatte, und machte vorsichtshalber einen Schritt zurück. Wie konnte sie wissen, dass er nicht von hier war? Vielleicht kam er ja sonst am Abend! Und was für ein Lokal war das, wo sie arbeitete? Dem Namen und ihrem Aussehen nach konnte es ein Puff sein.
»Bin neu in Verona«, sagte er und machte dabei erneut einen kleinen Schritt rückwärts. Ihre Nähe war ihm unangenehm, doch er stieß an die Hantelbank. Silvia neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn, tat so, als ob sie nachdenken würde. Daniele hatte genug Erfahrung mit dieser Kategorie von Frauen gesammelt, um zu erkennen, dass es für ihn brenzlig wurde. Noch bevor er die Gefahr verbal abwenden konnte, legte sie mit ihrer Quietschstimme erneut los.
»Ich kann dir gerne die Stadt zeigen, wir können sofort damit beginnen. Ich kenne eine nette Trattoria ganz in der Nähe und ...«
Plötzlich stand Enzo neben ihnen und unterbrach die Quasselstrippe brüsk, indem er seine Pranke auf ihre Schulter legte und zudrückte. Sie zuckte unter der Berührung zusammen, drehte den Kopf und funkelte den Fitnesstrainer an.
»Was soll denn das?«, keifte sie.
»Nicht die ganze Welt kreist um dich, Silvia«, gab er kühl zurück, ließ sie los und wandte sich Daniele zu. »Entschuldige, dass es länger gedauert hat, jetzt stehe ich dir komplett zur Verfügung. Gehen wir?«
Mit einem Augenzwinkern fasste er Daniele am Oberarm und zog ihn mit sich davon zum Ausgang des Kraftraumes und den Gang hinunter. »Bleib mir auf den Fersen«, zischte er ihm zu, »die verfolgt dich so lange, bis du in einem Raum bist, den sie nicht betreten darf.«
Als sie die Männerumkleide erreichten und die Tür hinter sich schlossen, seufzten sie beide auf, sahen einander an und begannen zu lachen.
»Was war das denn?«, fragte Daniele seinen Retter, als er sich endlich beruhigte.
»Silvia? Im Grunde genommen ist sie ein armer Mensch. Fünfunddreißig, zweimal geschieden, ein Kind aus zweiter Ehe, dessen Sorgerecht der Richter dem Vater übertragen hat, weil sie es im Auto vergessen hatte. Da war der Kleine erst eineinhalb und draußen hatte es dreißig Grad. Sie ist nicht ganz dicht im Kopf, erzählt man sich. Ich glaube eher, dass sie nie gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen. Sicher ist, dass sie sich nach Liebe sehnt.«
»Und die sucht sie ausgerechnet hier?« Daniele schüttelte den Kopf.
»Wo denn sonst? Im Internet? Ich glaube, die weiß gar nicht, wie man einen Computer einschaltet. Und ganz so schlecht läuft es für sie hier nicht. Es gibt immer wieder Männer, die ihr einen Aperitif spendieren und dafür mit Sex belohnt werden. Sie sieht ja nicht schlecht aus, wenn man sich den ganzen Kitt wegdenkt ...« Enzo grinste.
»Scusa, aber das ist nichts für mich. Ich muss mich mit einer Frau auf Augenhöhe unterhalten können, bevor ich sie ausziehe.«
»Ja, genau so habe ich dich eingeschätzt. Du bist einer von der intellektuellen und charmanten Sorte.«
»Ach ja?« Daniele schaute Enzo erstaunt an. Nicht, dass er seine Mitmenschen normalerweise nach dem Schubladensystem einordnete, aber die Muskelprotze, mit denen er zu tun hatte, und das waren einige, strengten ihren Hirnmuskel nur in Ausnahmefällen an. Und der, der ihm gegenüberstand, hatte nun die Arme vor der breiten Brust verschränkt und zwinkerte ihm zu.
»Du hast gedacht, dass ich mit Steroiden vollgepumpt bin und mein Hirn als nutzlose Sonderausstattung betrachte, richtig?«, meinte er ironisch.
»Ertappt ...«, gab Daniele schmunzelnd zu. »Darf ich dich auf einen Entschuldigungsaperitif einladen, irgendwann, wenn du Zeit hast?«
Enzo löste seine Arme aus der Verschränkung und legte ihm eine Hand auf den Oberarm. »Ich weiß was Besseres. Ich habe zwei Stunden frei und wollte ein paar Bahnen schwimmen und dann in die Sauna. Kommst du mit?«
»Und Silvia? Sie tut mir zwar leid, aber ich will nicht den barmherzigen Samariter spielen ...«
»Keine Sorge«, erwiderte Enzo mit einem Blick auf die Uhr. »Die nächsten zwei Stunden verbringt sie oben mit Hip-Hop, zuerst mit den Hausfrauen, anschließend mit den Berufstätigen, die die Mittagspause zum Auspowern nutzen.«
Daniele starrte ihn an. »Du kennst ihren Terminplan auswendig?«
»Sie ist ein Gewohnheitstier und ich arbeite seit zehn Jahren hier. Wenn sie nicht krank ist, kann ich dir immer sagen, wo du sie im Haus findest.«
»Auch in der Nacht?«
»Klar. Ab zwanzig Uhr im Get-in-Touch und nach der Sperrstunde in ihrem Bett. Immer, egal ob alleine oder in Begleitung. Sie hat nämlich die Angewohnheit, ihre Sexbekanntschaften mit nach Hause zu nehmen.«
»Weißt du das aus eigener Erfahrung?«, stichelte Daniele.
Enzos Gesichtsausdruck wurde schlagartig ernst. »Auch, leider. Es geschah wenige Wochen, nachdem sie sich hier eingeschrieben hatte. Und glaub mir, ich hatte nachher alle Mühe, ihr klarzumachen, dass zwischen uns nichts weiter laufen würde.« Er machte eine Handbewegung, die dem Gespräch ein Ende setzte. Dann trat er an einen Spind, tippte einen Code ein, öffnete ihn und tauschte seine Sportschuhe gegen Badeschlapfen.
Daniele wusste, dass er das Limit überschritten hatte. Er verbiss sich jeden weiteren Kommentar und die Frage nach dem Lokal, in dem Silvia arbeitete. Es war sowieso unwichtig, er hatte nicht vor, sie dort aufzusuchen - ganz im Gegenteil! Er ging zu seinem Spind und tat es dem Fitnesstrainer gleich. Jetzt, wo er ihn ein wenig besser kannte, tat es ihm doppelt leid. Dafür, wie er ihn eingeschätzt hatte, und für sein fehlendes Taktgefühl. Enzo hatte ihn aus einer verfänglichen Situation befreit und was tat er? Es lag doch auf der Hand, dass einer, der aussah wie er und hier arbeitete, dieser Silvia irgendwann erlegen war! Verflixt! Jetzt fühlte er sich richtig mies, vor allem, wenn er daran dachte, was er nun durchziehen musste. Der andere war ihm gegenüber offen und nett, da konnte er die Situation nur ausnutzen und ihn über die Oasi di Giulia ausfragen. Wer weiß, wann sich ihm wieder eine so günstige Gelegenheit bieten würde!
Am frühen Abend saß Daniele Barbieri an dem Tisch in der sparsam möblierten Wohnung, die Franco für ihn angemietet hatte, und fuhr den Computer hoch. Sein Bruder hatte ihm im Laufe des Tages drei Mails geschickt, jede klang dringlicher als die vorhergehende, die letzte war nicht einmal unterschrieben.
Ich kann nur hoffen, dass du nicht antwortest,
da du endlich in dem Fitnesscenter bist!
Melde dich umgehend mit deiner Einschätzung, am besten telefonisch!
Zwei Fragen:
1. Wie ist diese Oasi di Giulia?
2. Müssen wir nach der Übernahme viel investieren?
Sieh zu, dass wir diese Sache zum Jahresende abschließen!
Daniele starrte die wenigen Zeilen auf dem Bildschirm an, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Aus weiter Ferne hörte er das Klingeln seines Handys. Suchend sah er sich um, es lag nicht auf dem Tisch, läutete weiter. Er stieß den Sessel zurück und folgte dem durchdringenden Ton in den Vorraum, fand das Telefon in seiner Jackentasche und griff danach. Auf dem Display leuchtete der Name seines Bruders. Er umklammerte das Handy bis seine Knöchel weiß hervortraten. Im letzten Moment, bevor er es zu Boden schmetterte, siegte die Vernunft, und er legte es achtlos auf die Garderobenablage.
Daniele erwachte vom Lärm quietschender Bremsen, drehte den Kopf zur Seite, um nach dem Mobiltelefon zu greifen, doch es lag nicht auf dem Nachttisch. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, nur daran, wie und wann er schlafen gegangen war, erinnerte er sich nicht mehr. Er schwang die Beine aus dem Bett und blieb auf der Kante sitzen, starrte auf das Fenster, das von einem orangefarben blinkenden Licht erhellt wurde. Der Müllwagen!
Oh Gott, wie sehr er diese Stadt hasste! Weg, nur weg!
Er sprang auf, nahm einen Slip aus der Schublade der Kommode, lief ins Bad. Fünf Minuten später hatte er das Notwendigste erledigt, auch die Zähne geputzt. Er zog Jeans, ein Shirt, darüber einen Sweater an, im Flur Tennisschuhe, schnappte sich die Jacke vom Haken, steckte die Brieftasche und den Autoschlüssel ein, ließ das Handy, wo es war, und stürmte aus der Wohnung. Kurz darauf verließ er in seinem Jeep die Tiefgarage des Wohnhauses, nahm den kürzesten Weg aus der Stadt und fuhr Richtung Gardasee.
Erst als er den Wagen auf dem Parkplatz unweit des Castello Scaligero in Torri del Benaco abstellte und die wenigen Meter zum Seeufer ging, fühlte er sich besser. Tief atmete er die feuchte Morgenluft ein, blickte auf den ruhigen Wasserspiegel, beobachtete ein paar Enten, die immer wieder ihre Köpfe unter Wasser steckten. Eine ruderte dabei besonders hektisch mit den dunkelgelben Flossen, um das Gleichgewicht zu halten, und brachte ihn zum Lachen. Die Zeile Köpfchen unters Wasser, Schwänzchen in die Höh’ aus einem Kinderlied fiel ihm ein. Genau so fühlte er sich!
Ein Teil von ihm, wobei er nicht recht wusste, ob es der Kopf oder sein Allerwertester war, steckte im Moor fest. Der schlammige Untergrund waren das AvVentura und sein Halbbruder Franco, die ihn mit aller Kraft festhielten. Es musste sich wohl um seinen gesamten Unterkörper handeln, denn er spürte, dass er trotz aller Kraftanstrengung keinen Schritt aus der Umklammerung machen konnte. Doch seit dem gestrigen Tag, spätestens nach den Stunden, die er mit Enzo verbracht hatte, zog es ihn stark in eine andere Richtung, die ihm sein Charakter und sein Kopf vorgaben. Er war ein Gefühlsmensch, genau das Gegenteil seines eiskalten, berechnenden Bruders, und was er seit seiner Ankunft in Verona wie eine Vorahnung gespürt hatte, war gestern zur Gewissheit geworden. Er war einfach nicht dazu geschaffen, jemandem willentlich zu schaden, um daraus Vorteile zu ziehen. Schon gar nicht, da es keinen Grund dafür gab, noch mehr Geld zu scheffeln. Er selbst hatte noch nie auf das Vermögen zugegriffen, das ein Finanzberater in seinem Namen verwaltete. Bis auf einen Betrag, der monatlich als Gehalt von AvVentura auf sein Konto überwiesen wurde, hatte er seit dem Wohnungskauf vor zehn Jahren nichts mehr davon angerührt. Er konnte genauso gut leben, wenn sie keine Niederlassung in Verona hatten!
Enzo, der muskelbepackte Fitnesstrainer, hatte sich als ernsthafter, tiefgründiger Mann herausgestellt, der in seinem Job eine Berufung sah und seinen Körper mit hartem Training und ohne Einnahme von Steroiden stählte, was Daniele auf den ersten Blick fälschlich angenommen hatte. Sie hatten nebeneinander fast vierzig Minuten lang schweigend ihre Bahnen in dem Pool absolviert, die Lagen zugleich gewechselt und waren in stillem Einvernehmen in die Sauna gegangen. Bereits der Eindruck, den die Räume in den oberen Etagen der Oasi di Giulia auf ihn gemacht hatten, war nahezu makellos gewesen, doch das Untergeschoss übertraf all seine Erwartungen. In den Umkleideräumen lagen flauschige Bademäntel zur freien Entnahme bereit, das Wasser des Pools war perfekt für sportliche Betätigung temperiert, die Saunabereiche nach Geschlechtern getrennt. Enzo hatte ihm ein dunkelblaues Saunatuch gereicht und erklärt, dass die der Damen bordeauxrot seien. Für die Aufgüsse standen Glasfläschchen mit verschiedenen Saunaölen zur Verfügung. Im Einvernehmen hatten sie Bergamotte gewählt und die Kabine die nächsten vierzig Minuten nicht mehr verlassen. Sie waren alleine gewesen, und Enzo hatte ihm freimütig alle Fragen beantwortet.
Daniele hatte sich wie James Bond, der Spion im Dienste Seiner Majestät gefühlt, nur lagen seinem Tun keine noblen Absichten zugrunde, und sein Chef hieß Franco Ventura und war im besten Fall einem Freibeuter gleichzusetzen. Als der sympathische Fitnesstrainer schließlich über seine Chefin sprach, war Daniele vor Verlegenheit und Scham knallrot geworden, was man in der Sauna zum Glück der Hitze zuschreiben konnte. Giulia Gudmundsdottir war die Tochter eines Isländers, der in jungen Jahren zum Studium nach Verona gekommen und hier hängen geblieben war, nachdem er sich in eine Einheimische verliebt hatte. Sie war das einzige Kind geblieben, und ihre Eltern hatten jahrelang nur dafür gearbeitet, um der Tochter, die damals Sportwissenschaften studierte, ihren großen Traum zu ermöglichen: die Oasi di Giulia. Das Fitnesscenter trug also seinen Namen nicht aufgrund der Nähe zu dem historischen Wohnhaus von Shakespeares weltberühmter Giulia, sondern den der Frau, die es leitete. Er hatte sich so schäbig gefühlt, als Enzo sich nach der Mittagspause von ihm verabschiedete, um wieder nach oben in den Kraftraum zu gehen, dass er noch eine weitere Stunde seine Bahnen in dem Pool gezogen hatte. Doch der Gedanke an das irrwitzige Vorhaben seines Bruders, in diesem Vorzeigebetrieb hygienische Mängel zu provozieren, um ihn in Misskredit zu bringen, war von einem Paar strahlend blauer Augen und dem flachsblonden Pferdeschwanz überlagert gewesen. Deshalb hatte er das Fitnesscenter fluchtartig verlassen und war heimgefahren, um Abstand zwischen sich und diese unangenehme Aufgabe zu bringen. Aber anstatt sich zu Hause besser zu fühlen, hatte er nach dem Einschalten des Computers Francos drängende Mail entdeckt, die ihm die Laune noch weiter verdarb. Er war immer noch wütend, zwar nicht mehr so sehr wie am Vorabend, doch noch zu sehr, um eine rationale Entscheidung zu treffen.
Daniele starrte auf die Enten, die ihr Frühstück immer noch nicht beendet hatten, und gab dem Drängen seines hungrigen Magens nach. Langsam schlenderte er den Weg am Seeufer entlang bis zu dem kleinen Hafen. Mittlerweile durchdrangen die ersten zaghaften Sonnenstrahlen den Frühnebel und reflektierten glitzernd auf der Wasseroberfläche. Am Zeitungskiosk kaufte er La Repubblica und setzte sich an einen Tisch des Straßencafés, in dem nur zwei ältere Paare, der Kleidung nach Touristen, saßen. Sie nickten ihm freundlich zu, er antwortete mit einem Buongiorno. Er bestellte bei der herbeieilenden Kellnerin einen Cappuccino und ein Cornetto mit Marmelade und schlug die Zeitung auf, doch seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, er nahm nichts von dem auf, was er las.
Sein Bruder war ein größenwahnsinniger, unsportlicher Unternehmer, für den nichts zählte als Geld, zu dem er mit Ellenbogentechnik und, falls nötig, unlauteren Methoden kam. Er war immer schon von Gier nach mehr getrieben gewesen, doch was er jetzt unternahm, war - zumindest von der Grundidee her - kriminell. Daniele wusste, dass seine Abneigung gegen Verona und die Wohnung darin wurzelte, dass er sich hatte breitschlagen lassen, diese Aktion auch nur in Betracht zu ziehen. Eigentlich sollte er in Hawaii sein und sich auf den nächsten Triathlon vorbereiten, wie er geplant hatte. Stattdessen saß er in der Falle zwischen dem Projekt einer feindlichen Übernahme, die ihn persönlich absolut nicht interessierte, und seinem Wunsch, Cinzia und ihrer krankhaften Anhänglichkeit zu entkommen. Wieder einmal hatte er den Weg des geringsten Widerstandes genommen, nur um nicht diskutieren zu müssen. Er war aus Bologna aus den denkbar unvernünftigsten Gründen geflüchtet, anstatt sich den Problemen zu stellen, und hatte sie dadurch nur noch vergrößert.
Denn auch jetzt konnte er nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Franco würde ein Nein zu dem Vorhaben, das er sich in den Kopf gesetzt hatte, nicht gelten lassen. Sollte er also nach Bologna zurückkehren, würde er im Handumdrehen durch jemand anderen ersetzt werden, der sicherlich nicht so zimperlich wäre wie er. Es gab genug skrupellose, käufliche Menschen im Dunstkreis seines Bruders, die dazu bereit waren, die meisten davon auch mit körperlichem Einsatz. Nur die Vorstellung, dass einer von denen sich Annarita, die nette Rezeptionistin, vornahm, machte ihm Angst. Die junge Frau war die erste Anlaufstelle des Fitnesscenters, und er wollte sichergehen, dass ihr nichts passierte. Er versuchte, sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, doch es gelang ihm nicht. Dafür sah er blaue Augen und einen hochgebundenen flachsblonden Pferdeschwanz, der auf und ab wippte. Die große, schlanke Frau auf dem Fahrrad war mit einer sportlichen Hose, Sneakers und einer leichten Sportjacke bekleidet. Sie hielt nur wenige Meter von ihm entfernt und stieg ab, lehnte den Drahtesel gegen einen Baum und drehte sich um.
Ihr Blick schweifte über die wenigen besetzten Tische und blieb an ihm hängen. Erstaunen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, er starrte sie an.
»Sie hier?«, fragte sie und trat näher.
»Das Gleiche wollte ich gerade sagen«, erwiderte er.
»Ich wohne nicht allzu weit von hier entfernt auf den Hügeln. Wenn das Wetter so ist wie heute, nehme ich die Gelegenheit für eine Radtour wahr. Besser als auf dem Ergometer, finden Sie nicht?«
Daniele schluckte. Es war unfassbar! Diese Frau, die er bis gestern Vormittag nicht einmal gekannt hatte, spukte seither ununterbrochen in seinem Kopf herum. Schlimmer noch! Sie war sein einziger Gedanke, der eigentliche Grund, weshalb er hierhergekommen war: um nachzudenken, wie er vermeiden konnte, dass man ihr wehtat. Denn genau das war es, was ihm Angst machte. Dass ihr irgendjemand ein Haar krümmen könnte.
»Giulia, wollen Sie sich zu mir setzen?« Er stand auf und deutete auf den freien Stuhl neben seinem. Zuerst blitzten ihre Augen abwehrend auf, dann hob sie die Mundwinkel an, lächelte und nahm neben ihm Platz.
Daniele hatte das Gefühl, dass endlich die Sonne aufging. Wobei das nichts mit dem Gestirn am Himmel zu tun hatte.