Читать книгу Verliebt in meinen Feind - Lisa Torberg - Страница 8
Prolog
ОглавлениеBologna, das AvVentura-City-Center an einem Mittwochabend
»Was ist denn hier los?«
Filomena, eine ältere Dame, die das AvVentura-City-Center schon seit langem besuchte, um hier mit sanften Übungen ihrer Arthrose entgegenzuwirken, murmelte diese mehr an sich selbst gerichtete Frage leise vor sich hin, während sie sich mühsam einen Weg zu ihrem Spind bahnte. Um sie herum summte und dröhnte es wie in einem Bienenschwarm, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es diese jungen Hühner nur schafften, alle gleichzeitig drauflos zu plappern und dennoch irgendwie miteinander zu kommunizieren. Oder taten sie das etwa gar nicht? Jede schien Selbstgespräche zu führen, obwohl sie einander beim Schnattern doch ansahen.
Doch - Halt! Junge Hühner?
Ungläubig sah sie sich um. Die Altersschere klaffte weit auseinander. Zwischen fünfzehn und fünfzig schien an diesem frühen Abend alles in der Damenumkleide des edlen Fitnesscenters vertreten zu sein, was gerade nicht Hausaufgaben machen, den Ehemann bekochen oder die Enkelkinder hüten musste. Knallbunte Oberteile, nicht wenige bauchfrei, mit frechen Fransen, eng anliegend oder raffiniert ausgeschnitten, wuselten an ihr vorbei, ergänzt von ebenso bunten, engen, langen oder kurzen Leggings und Caprihosen. Eine trug sogar nur einen Sportbra und dazu absichtlich schlampig hochgekrempelte Cargos, deren giftgrüne Taschenbänder bei jeder Bewegung ihres Wackelpos hin und her schwangen.
Filomena sah vorsichtig um sich, während sie langsam und bedächtig ihre Turnkleidung gegen die Straßensachen tauschte. Dort stand eine vor dem Spiegel und schminkte sich. Vor der Sportstunde? Neben ihr hatte eine andere, nicht mehr ganz taufrische Maid den Lockenstab ausgepackt und bearbeitete ihre langen, schwarz gefärbten Haare. Warum gerade jetzt? Eine dritte, den eigenen beleuchteten Schminkspiegel in der Hand, tupfte sich blitzenden Glimmerflitter auf die Wangenknochen. Aber sie würde doch gleich schwitzen!
Sachte und unauffällig mit dem Kopf schüttelnd packte Filomena ihre Sachen in die Sporttasche, setzte sich auf die Bank und schlüpfte in ihre Schnürschuhe. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr, ohne dass sie diese einer bestimmten Person zuordnen konnte.
»Die erste Piloxingstunde überhaupt im AvVentura!«
»Und dann hält sie auch noch der Chef persönlich!«
»Ist es denn wirklich sicher, dass er selbst kommt?«
»Ja klar - hast du denn den Aushang nicht gesehen? Da stand doch dick und fett ›Piloxing mit Daniele‹.«
»Jetzt verstehe ich, warum es heute Abend hier so voll ist.«
»Auch schon wach? Wir alle reden doch schon seit Tagen über nichts anderes mehr, hast du das denn nicht mitgekriegt?«
»Nein, aber was für ein Glück, dass ich zufällig doch hier bin!«
»Hach, Daniele! Der könnte Stricken unterrichten und alle würden sabbern dabei.«
»Bei dem Hintern ist das ja schließlich kein Wunder!«
»Nicht nur der Hintern! Ich finde ja diese Narbe an seinem Kinn so scharf.«
»Scharf? Eine Narbe!«
»Ja, das törnt mich unheimlich an!«
»Denkst du denn nur an das Eine?«
»Und hast du etwa keine Augen im Kopf?«
»Doch, aber ich schau ihm auch mal woandershin.«
»Zum Beispiel?«
»Na, gerade hast du es doch gesagt: die AUGEN! Hast du nicht gesehen, wie wunderschön seine sind? Zum Dahinschmelzen.«
»Ach was, du wieder.«
»Ja, dich hat er ja auch noch keine zwei Mal angesehen.«
»Dich etwa schon?«
»Dreimal, wenn du es genau wissen willst.«
»Was ist Piloxing überhaupt?«
»Soll eine Mischung aus Boxen und Pilates sein, hab ich gehört.«
»Wenn du es nicht weißt, warum willst du es dann machen?«
»Um es kennenzulernen? Du bist darin natürlich schon wieder italienische Meisterin ...«
»Mädels, kriegt euch wieder ein. Ihr wisst doch - solange Cinzia hier mitmischt, sieht er sowieso keine andere an.«
»Ja, schade. Was er an der nur so toll findet?«
»Die Firma ihres Vaters vielleicht?«
»Spinnst du? Daniele ist nicht so einer!«
»Nein? Was für einer ist er dann?«
»Ein Romantiker, der an die wahre Liebe glaubt.«
»Hahaha - und das weißt du, weil ...?«
»Leute, kommt in die Gänge - es ist eine Minute vor sieben. Wenn wir vor ihm im Saal sein wollen, müssen wir uns beeilen.«
»Wo ist Cinzia eigentlich?«
»Cinzia?«
»Ist Cinzia nicht hier?«
»Cinzia fehlt heute?«
»Dann haben wir ja endlich mal eine Chance, dass er auftaut.«
»... und eine andere genauer ansieht!«
»Glaubst du das wirklich?«
»Der ist doch treu wie Gold!«
»Los, los, los, raus hier und rüber in den Tanzsaal ...«
Um Filomena kehrte schlagartig Stille ein. Sie atmete auf. Bedächtig band sie sich den zweiten Schnürsenkel zu, kämmte sich ordentlich das grau melierte Haar, schlüpfte geruhsam in ihre dunkelblaue, mit den Jahren etwas formlos gewordene Windjacke und band sich den Schal um den Hals. Falls es nachher draußen windig war, wollte sie lieber vorgesorgt haben. Dann nahm sie ihre Sporttasche und hängte sie sich über die Schulter, kontrollierte sorgfältig, ob sie auch nichts vergessen hatte, und verließ den weitläufigen Umkleideraum, der in den letzten fünf Minuten endlich wieder ihr allein gehört hatte.
Vom anderen Ende des Ganges war rhythmische Musik zu hören. Das Geschnatter der Jüngeren hatte sie neugierig gemacht, also folgte sie den Klängen und spähte vorsichtig durch die verglaste Tür in den Saal. Es war der größte, den AvVentura überhaupt zu bieten hatte, und er war voll.
Ganz vorne, kaum zwei Schritte von der Spiegelwand entfernt, machte derjenige, um den sich in der letzten Viertelstunde jeder Gedanke und jedes Gespräch in der Damenumkleide gedreht hatte, die Übungen vor: Daniele Barbieri, Mitinhaber der AvVentura-Gruppe. Sie erinnerte sich gut an ihn, hatte ihn schon öfter gesehen, wenn sie ihr Training absolvierte. Von der Hysterie der anderen angesteckt, riskierte nun auch sie einmal einen Blick auf seine viel besprochene Kehrseite, als er sich bewegte und drehte. Oh ja, durchaus sehenswert, soweit sie das beurteilen konnte. Aber sie hatte diesen jungen Mann ja immer schon gemocht, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er war freundlich, wohlerzogen, nie schlecht gelaunt, hatte immer ein offenes Ohr für andere, und sie selbst hatte schon mehrfach von ihm gute Tipps bekommen, wie sie die eine oder andere Trainingsaufgabe besser bewältigen konnte. Ein wirklich lieber Junge, der trotz seiner vielen Aufgaben immer geduldig und ausgeglichen blieb.
Sie seufzte leise. Na ja. Junge war er zwar keiner mehr, nicht einmal aus ihrer eigenen, zugegeben schon sehr reifen Sicht. Aber anstelle des Hallodris, den ihre Tochter sich ausgesucht hatte, wäre er ihr als Schwiegersohn wesentlich ...
Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende, seufzte tief auf und ging endlich nach Hause.
Verona, das Fitnesscenter Oasi di Giulia am selben Mittwochabend
»Sieh mal, Giulia - es ist noch eine Anfrage von einem Seniorenheim gekommen. Sie wollen wissen, ob du auch bei ihnen deine Senioren-Fitness anbieten könntest.«
»Lass mal sehen, Annarita. Wenn das so weitergeht, dann bin ich mehr außer Haus als hier bei euch im Studio.«
»Es spricht sich eben rum, wie gut du mit Menschen jeden Alters umgehen kannst.«
»Bläst du mir da gerade Puderzucker in den ... du weißt schon!«
»Nein«, lachte die junge Frau hinter ihrem Rezeptionstresen. »Ich sag dir nur die Wahrheit, aber das weißt du ja.«
»Ich überlege es mir. Aber jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, es ist schon nach acht. Ich habe um halb neun noch eine Stunde Pilates und wollte Gipsy anschließend beim Umräumen der Massagekabinen helfen.«
»Musst du das heute noch machen? Du kommst ja keinen Abend mehr vor zehn hier raus!«
»Ach, das macht nichts. Du weißt ja, die Oasi ist mein Leben. Und jetzt - husch, husch!«
Um viertel nach zehn war Giulia Gudmundsdottir mal wieder die letzte, die die Oasi di Giulia verließ. Vorher aber durchstreifte sie ihr Fitnessstudio vom Schwimmbad im Untergeschoss bis hinauf in die Wellnessabteilung. Sie kontrollierte die Umkleiden, um nicht etwa versehentlich ein verspätetes Mitglied einzuschließen, achtete auf vergessene oder verlorene Gegenstände und prüfte bei allen Massageliegen, ob die Heizdecken auch wirklich ausgeschaltet waren. Verträumt sah sie aus dem Fenster. Von dort aus dem oberen Stockwerk hatte sie einen schönen Blick auf die Altstadt.
Jetzt, Ende September, wurde es schon wieder spürbar früher dunkel. Die Straßenlaternen tauchten Verona, ihre romantische Heimat, die Stadt von Shakespeares Romeo und Julia, in ein sanftes, gelbliches Licht. Nur noch wenige Menschen eilten über die Straßen, die meisten saßen nun wohl bereits in ihren Häusern und Wohnungen, bei ihren Familien und Partnern, hatten gemeinsam zu Abend gegessen und machten es sich jetzt miteinander irgendwo gemütlich.
Giulia räusperte sich.
Keine Zeit, jetzt melancholisch zu werden, nur weil sie all das nicht hatte. Und vielleicht auch nie haben würde.
Aber - immerhin hatte sie Carlo.
Carlo. Unmerklich zogen sich ihre Mundwinkel ein wenig nach unten. Als es ihr bewusst wurde, steuerte sie mit einem absichtlichen Lächeln dagegen, um sich selbst zu besserer Laune zu bringen. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass das half.
Energisch stieß sie sich von der Wand ab, an der sie lehnte, und beendete ihren Rundgang. Wie sie vorhin zu Annarita gesagt hatte: Das hier war ihr Leben. Und nicht nur das.
Es war vielmehr ihr Lebenswerk.
Das, was sie schon immer hatte tun wollen und wofür sie dankbar war. Sie liebte es, mit Menschen zu arbeiten, denen sie helfen konnte, ob es nun die Kindergarten-Spiel-Sportstunden waren oder das Senioren-Programm in den Altersheimen, die sie auch heute wieder, wie jeden Mittwoch, besucht hatte. Sie liebte es, zu helfen und für andere da zu sein. Und sie liebte es, sich zu bewegen und ihren eigenen Körper mit Sport an den Rand seiner Möglichkeiten zu treiben. All das konnte sie hier perfekt vereinen und umsetzen. Und für ihre Grundbedürfnisse als Frau hatte sie Carlo.
Dass dieser, wie ein leise nagendes Stimmchen in ihrem Hinterkopf anmerkte, nur für ihre körperliche Befriedigung zur Verfügung stand und ihrem Herzen nichts zu geben hatte, musste ja keiner wissen. Wenn sie Wärme und Emotionen brauchte, waren da immer noch ihre Eltern und ein paar wenige, handverlesene Freunde. Lieber eine nüchterne, körperbetonte Beziehung als all dieses Liebesdrama, das eine unpassende Amour fou mit sich brachte.
Giulia verriegelte gewissenhaft das Portal zu ihrer kleinen Welt, wischte sich einen befremdlichen Tropfen Feuchtigkeit aus dem Augenwinkel und fuhr unter dem funkelnden Sternenhimmel Norditaliens nach Hause.