Читать книгу Anja, Petra und die Pferde - Lise Gast - Страница 7

Wenn man zu spät kommt ...

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Das Küchenfenster war dunkel, also saßen die Eltern vermutlich im Wohnzimmer. Anja ließ das Fahrrad stehen und sprang die Stufen zur Haustür hinauf. Sie wollte gerade läuten – da sah sie im Licht der Straßenlaterne einen Zettel neben dem Klingelknopf hängen. Nanu –

Sie riß ihn ab, versuchte zu lesen, was drauf stand, und ging dann damit noch ein Stück zurück, um besseres Licht zu haben. Vaters Schrift, groß und deutlich:

„Schlüssel bei Frau Schubert. Komme gegen neun. Vater.“ Nicht: „Gruß – Vater“, wie er sonst in solchen Fällen zu schreiben pflegte, wenn er einmal eine Botschaft hinterließ. Anja stand da und überlegte.

Es war acht. So spät sollte sie nicht nach Hause kommen, aber vielleicht war Vater schon um sechs weggegangen? Wo aber war Mutter? Mutter verließ doch abends nicht ihre beiden kleinen Jungen!

Anja ließ den Zettel sinken und ging damit langsam zum gegenüberliegenden Haus. Vielleicht wußte Frau Schubert Bescheid. Dort war Licht. Sie läutete.

Eigentlich wußte sie schon die ganze Zeit, daß etwas Schlimmes sie erwartete; es saß in ihr, sie wollte es nur nicht wahrhaben. Daß es aber etwas so Schreckliches sein würde, das hatte sie nicht vermutet.

„Ja, komm rein, du armes Kind. Komm, dein Vater war hier. Ich soll dir alles erzählen. Komm –“

„Was denn alles?“ fragte Anja bang.

„Nun, daß deine Mutter – sie mußte ins Krankenhaus. Es war ganz schrecklich eilig, hoffentlich hat es noch gelangt. Akuter Blinddarm – vielleicht ist sie schon operiert. Sie hatte schlimme Schmerzen, aber gewartet hat sie doch, weil sie nicht wußte, wohin mit den Kleinen –“

Anja konnte Frau Schubert sonst ganz gut leiden. Die schwatzte zwar gern, redete und redete, so daß auch Mutter manchmal die Geduld ausging, aber sonst war sie gutmütig. Sie legte den Arm um Anjas Schulter und zog sie ins Haus hinein.

„Die Kleinen hab’ ich hier. Sie schlafen. Erst hat der eine furchtbar gebrüllt und den andern geweckt, der schon eingeschlafen war, und dann –“

„Und was ist mit Mutter? Der Blinddarm?“ konnte Anja endlich fragen, als die Nachbarsfrau einmal kurz Luft holte. „Blinddarmentzündung?“

„Ja, ich sagte doch schon – dein Vater ist mitgefahren, und weil du nicht kamst, hat er mir schließlich die Jungen gegeben. Aber so was kann schlimm ausgehen, wenn es zu spät ist –“

„Meinen Sie – glauben Sie –“ Anja sah zu Frau Schubert auf, schneeweiß im Gesicht. Ihre Augen waren jetzt vollkommen schwarz.

„Natürlich, Blinddarm ist so eine Sache. Aber – nein, nein, denk nur nicht so was. Vielleicht sind sie ja noch rechtzeitig gekommen.“

„Mit dem Krankenwagen?“

„Ja. Und dein Vater –“

Anja verstand nicht mehr, was Frau Schubert weitererzählte. Sie saß wie versteinert auf der Küchenbank und hatte, beide Fäuste geballt an den Mund gedrückt. „Weil du nicht kamst –“ hatte Frau Schubert gesagt.

Deshalb hatte Vater die beiden Kleinen in ihre Obhut geben müssen. Sonst hätte er sie drübenlassen können. Und dann wären sie vielleicht eine Stunde eher losgefahren – lieber Gott, wenn es nun an dieser Stunde hing.

Und Vater war nicht da. Wer weiß, wann er zurückkam – auf dem Zettel stand „gegen neun“.

Vater! Er war nicht ihr richtiger Vater. Mutter hatte ihn vor ein paar Jahren geheiratet, nachdem sie Witwe geworden und ziemlich lange mit ihr, Anja, allein gewesen war. Sie hatten zu zweit in der Stadt gelebt und waren erst später mit Vater hier herausgezogen in das kleine Reihenhaus in der Siedlung, nahe dem Reitverein. Dann hatte Mutter die beiden kleinen Jungen bekommen, die Zwillinge, Reinhold und Volker. Nun waren sie schon über ein Jahr lang eine richtige Familie, drei Kinder, Mutter und Vater. Und Vater – das hatte sie immer schon einmal gedacht, wenn auch nie ausgesprochen – war wahrhaftig kein Stiefvater, im Gegenteil. Er war ein großartiger Mann, ruhig, geduldig, mit einem freundlichen Humor auch dann, wenn er eigentlich allen Grund hätte, ärgerlich zu sein. Das war Anja bewußt. Wie oft ärgerte sich Mutter über Anja, obwohl sie doch die richtige Tochter war. Vater aber hatte so viel Fingerspitzengefühl, allem Scharfen und Häßlichen die Spitze abzubrechen, er redete zum Guten, wendete alles ins Lustige, Freundliche. Wie oft und wie herzlich er immer und immer wieder zu Anja gehalten hatte, ging ihr eigentlich erst jetzt auf.

Und Mutter!

„Hatte sie dolle Schmerzen?“ fragte Anja nach einer Weile zaghaft. Frau Schubert nickte wichtigtuerisch und eifrig. Anja konnte sie auf einmal nicht ausstehen.

„Ja, ja, sehr. Aber sie wollte partout nicht fort, immer hat sie gejammert, sie wolle bei den Kindern bleiben –“

„Und hat sie – hat sie was von mir gesagt?“ fragte Anja leise, angstvoll.

Frau Schubert schüttelte den Kopf. „Och nee. Eigentlich nicht. Wegen der Jungen hat sie gejammert, und daß ich gut auf sie aufpassen soll – natürlich mach’ ich das, ich hab’ ja auch Kinder gehabt –“

„Ich möchte heim“, sagte Anja plötzlich. Es klang ziemlich verstört. Nur nicht hierbleiben müssen bei dieser Alten, die solch scheußliches Zeug redete! „Ich will heim –“ es klang wie ein Schrei, obwohl sie es eigentlich nur piepste. Heim – vielleicht mit Petra telefonieren – vielleicht war auch Vater inzwischen zurückgekommen – vielleicht war ein Wunder geschehen –

„Nein. Bleib mal lieber. So allein in dem leeren Haus –“ Frau Schubert meinte es sicherlich gut. Sie schnitt ein Stück Brot ab und belegte es dick mit Wurst. „Komm, iß, ich mach’ dir Milch warm.“

Anja schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte nichts essen. Die Milch trank sie, und sie tat wohl, trotz allem. Dann aber wollte sie heim ...

Schließlich gab Frau Schubert nach. Sie nahm ein Wolltuch um die Schultern, half Anja in ihre Jacke und suchte lange nach dem Schlüssel. Endlich hatte sie ihn gefunden. Anja schlüpfte neben ihr aus dem Haus, es war stockdunkel draußen, sie tappten zum anderen Haus hinüber.

Dann aber, als die Nachbarin endlich gegangen war, überkam Anja das Bewußtsein des Alleinseins so entsetzlich, daß sie nicht einmal Petra anzurufen versuchte. Sie floh in ihr Zimmer, riß die Schuhe von den Füßen, kroch angezogen ins Bett und drückte ihr Gesicht ins Kopfkissen. Aber auch in der Dunkelheit der zugekniffenen Augen blieben die Gedanken wach.

Wenn es für Mutter zu spät gewesen war! Wenn Mutter nicht wiederkam! Wenn – oh, sie konnte das nicht zu Ende denken! Warum kam Vater nicht wieder? Warum rief er nicht an? Er mußte doch wissen, daß sie jetzt allein zu Hause war. Warum war man nur so klein und hilflos und so allein, und warum wurde aus einer kleinen, einer winzigen Schuld, die eigentlich nichts anderes war als ein Vergessen, ein Verbummeln, ein Nicht-dran-Denken, so ein Berg von Bedrückung, schwer, so schwer? Lieber Gott, kannst du mir nicht einen ganz, ganz kleinen Trost schicken? Einen Funken Licht, eine Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht so schlimm ist, morgen, vielleicht schon heute nacht? Vater muß doch einmal kommen –

Vater kam nicht, jedenfalls nicht mehr in dieser Nacht. Früh, als Anja gerade aufgewacht war und mit dumpfem, wirrem Kopf durch den Flur tappte, hörte sie ihn an der Haustür schließen. Sie war wie erstarrt und wagte nicht hinzulaufen.

Vater kam herein, zog den Mantel aus und hängte ihn auf. Dabei sah er hoch und entdeckte Anja. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit. Anja konnte überhaupt kein Wort herausbringen, keine Frage. Sie streckte nur mit einer winzigen Bewegung die Hände nach ihm aus –

„Ach, Anja, da bist du“, sagte er leise. Und dann nahm er sie hoch, als wäre sie noch ein ganz kleines Kind, und drückte ihr Gesicht an seinen Hals. „Mutter läßt dich grüßen –“

„Und? Geht es ihr –?“

„Sie ist operiert worden. Ja, soweit ging alles einigermaßen. Genaues konnte der Arzt nicht sagen. Wenn wir Glück haben, Anja –“ er brach ab, seine Stimme war wie erstickt. Anja klammerte die Arme um seinen Hals.

„Sag doch – sag – nicht wahr, sie wird wieder gesund?“ bettelte sie. Vater antwortete nicht. Anja fühlte, wie etwas Warmes an ihrem Gesicht entlanglief, über die Wange in den Halsausschnitt hinein. Weinte Vater?

Sie saßen dann noch eine Weile auf der Couch im Wohnzimmer, ganz eng nebeneinander, Vater hatte seinen Arm um Anja gelegt, beide blieben stumm. Draußen entfaltete sich ein silbern heller Herbsttag, die Birke vor dem Fenster trug schon goldenes Laub. Aber in ihnen wurde es nicht hell. Erst, als es an der Haustür läutete und Frau Schubert halblaut: „Hallo? Anja? Bist du wach? Du mußt doch in die Schule!“ durch den Briefkastenschlitz rief, richtete Vater sich auf, zog auch Anja auf die Beine und ging mit ihr zur Tür.

„Ja, wir kommen, Frau Schubert.“

Sie holten die beiden kleinen Jungen, die aufgewacht waren und nun angezogen und gefüttert werden mußten. Vater versorgte den einen und Anja den anderen.

„Es paßt ganz gut, ich gehe heute nicht in die Schule“, sagte Vater. „Heute ist Ausflug, und mit meiner Klasse sollte sowieso ein junger Kollege mitgehen. Ich rufe an. Und du kannst auch zu Hause bleiben, Anja, finde ich. Wir haben genug zu tun mit den beiden Kleinen. Oder möchtest du sehr gern in die Schule?“

Anja sah Vater an. Sehr gern – natürlich wollte sie das nicht. Aber mit Petra sprechen und etwas anderes sehen und denken können – hier dachte man nur pausenlos dasselbe.

Nein, es war keine reine Freude, nicht in die Schule zu müssen. Natürlich war sie bereit, Vater zu helfen, die Kleinen zu versorgen, einkaufen zu gehen – was eben nötig war. Vater war kein hilfloser Vater, er hatte die Kleinen oft mit an- oder ausgezogen, gefüttert, gewickelt, so, wie Väter das heute als selbstverständlich ansehen. Immerhin waren es zwei Kleinkinder, und während man sich mit dem einen beschäftigte, machte der andere Dummheiten, zog etwas herunter oder brüllte, meistens jedenfalls. Zum ersten Mal begann Anja zu ahnen, was dazu gehörte, zwei solch kleine Ungeheuer liebevoll und geduldig zu versorgen und daneben noch einen Mann – und eine große Tochter ...

„Doch, ich bleibe gern“, sagte sie schnell, denn sie wollte Vater eine Freude machen. Als sie ihn dabei ansah, gab es ihr einen Stoß ins Herz. Er lächelte nicht.

Stand es so schlimm um Mutter? Hatte Vater Angst, allein zu bleiben mit den Kleinen, die noch nichts von seiner Sorge verstehen konnten, brauchte er sie, Anja, weil er nicht allein sein wollte? Vorhin hatte er geweint – großer Gott, Mutter würde doch nicht ...

„Nicht wahr, sie lebt noch? Nicht wahr, sie kann wieder gesund werden“, flüsterte sie erstickt und blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf. Es erbarmte ihn.

„Doch, Anja, doch, sie lebt noch“, sagte er, legte den kleinen Jungen, den er eben hochgenommen hatte, auf die Couch und nahm Anja in die Arme. „Wir müssen tapfer sein und hoffen, du und ich, und sie mit unserer Liebe festhalten.“ Er verstummte.

Anja sagte nichts mehr. Sie hatte das Gefühl, als stünden sie, Vater und sie, ganz nahe an einem Abgrund, ganz, ganz nahe. Nicht hinuntersehen, nicht hineinstürzen – unwillkürlich griff sie nach Vaters Arm. Und auf einmal fühlte sie, daß nicht nur sie sich an ihm festhielt, sondern auch er an ihr. Er hatte dieselbe Angst wie sie, er, der große und starke Erwachsene, hielt sich an ihr fest –

„Ich bleibe bei dir, Vater“, flüsterte sie, und dabei kam eine merkwürdige Zuversicht über sie. „Mutter wird wieder gesund, paß nur auf – und für die Jungen sind wir da, du und ich.“

Andere trösten ist oft der beste Trost. Anja sollte das zeitig in ihrem Leben erfahren. Sie sah zu Vater auf, verschluckte die Tränen und versuchte ein Lächeln. Und da nickte Vater ihr zu und lächelte zurück.

Anja wird diesen Augenblick nie vergessen.

Anja, Petra und die Pferde

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